Pfr. Martin Dubberke
Ganz der Vater | Bild: Martin Dubberke

Ganz der Vater

Ich musste ein wenig schmunzeln, als ich nach längerer Zeit mal wieder die ersten Verse des Briefes an die Hebräer gelesen habe. Genauer gesagt, was es folgender Stelle:

Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort…
Hebräer 1, 3

Spontan hatte ich den klassischen Satz im Kopf, den manch einer auf den Lippen hat, wenn er sich über einen Kinderwagen beugt, lächelt und schließlich sagt: „Ganz der Vater!“ – Im Prinzip sagt der Autor des Hebräerbriefs an dieser Stelle nichts anderes.

Aber das ist auch schon das Einzige an diesem Text, was mich zum Schmunzeln bringt.

Ist etwa am zweiten Weihnachtsfeiertag schon die ganze weihnachtliche Freude verflogen? Kommt jetzt die Katerstimmung oder eine Art postnataler Depression?

Nein, ich fühle, dass mich der Autor des Hebräerbriefs mit seinen ersten Versen geradezu ins Herz trifft.

Da ist nämlich noch die andere Seite des Textes:

Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welten gemacht hat.
Hebräer 1, 1-2

Die beiden Verse lösen bei mir nämlich eine andere Assoziation aus: Jesus als das letzte Aufgebot Gottes.

Ich höre und lese in diesen Zeilen das Mühen und Hoffen Gottes, den Menschen, die Menschheit wieder auf den rechten Weg zu bringen und erinnere mich seines Scheiterns. Ist Gott etwa ein Gott des Scheiterns? Immer wieder hat er es mit uns versucht. Er hat jede Menge Propheten geschickt. Mal gescheitert, mal erfolgreich wie Jona, der aber eigentlich etwas ganz anderes gewollt hat.

Ich habe vor meinem inneren Auge das Bild eines Vaters, der in unendlicher Güte seinen missratenen Kindern begegnet und immer wieder nach jedem Erziehungsversuch hofft, dass es nun gelingen mag und von Dauer sei.  Er ist ein Vater von unendlicher Geduld und Kreativität. Und nun schenkt er gewissermaßen seinen Menschen einen kleinen Bruder, der zeigen kann und wird, dass man sehr gut auf dem Weg leben kann, den Gott sich vorgestellt hat. Dieser kleine Bruder ist Jesus Christus, dieses kleine, entzückende Kind, das wir heute in unserer Krippe bestaunen. Was sagen wir, wenn wir dieses Kind sehen und in der der Regel wenige Meter von der Krippe entfernt auch schon das Kreuz auf dem Altar? Welcher Satz fällt uns als erstes ein?

Vielleicht die berühmtesten weihnachtlichen Liedzeilen wie „Christ, der Retter ist da“ oder „Heute geht aus seiner Kammer Gottes Held, der die Welt reißt aus allem Jammer“ oder „Der Sohn des Vaters, Gott von Art, ein Gast in der Welt ward, und führt uns aus dem Jammertal“ und noch viele andere mehr…

Wenn man sich mal all diese Weihnachtslieder anschaut, fallen zwei Dinge auf: Da ist jemand der uns rettet und wir, die wir diese Lieder singen, leisten damit quasi ein Gelübde. Ich nehme einmal die Lieder, die wir heute nur hören, und nicht singen.

Ich fange mal mit dem Lied Nr. 36 an, das mein Landsmann Paul Gerhardt gedichtet hat: „Fröhlich soll mein Herze springen“:

12 Ich will dich mit Fleiß bewahren,
ich will dir
leben hier,
dir will ich abfahren;
mit dir will ich endlich schweben,
voller Freud‘
ohne Zeit
dort im andern Leben.

Oder Lied Nr. 37 – auch Paul Gerhardt – „Ich steh an deiner Krippen hier“. Da ist es ebenfalls die letzte Strophe des Liedes:

9 Eins aber, hoff ich, wirst du mir,
mein Heiland, nicht versagen:
daß ich dich möge für und für
in, bei und an mir tragen.
So laß mich doch dein Kripplein sein;
komm, komm und lege bei mir ein
dich und all deine Freuden.

Wer diese Lieder nicht einfach gedankenlos mitsingt, sondern beim Singen auch den Sinn erfasst, der nimmt sich selbst in die Pflicht. Der verspricht, so zu leben, dass es Gott eine Freude ist. Der verspricht an der Krippe dem Kinde und damit Gott, anders zu leben.

Aber ist all das Singen nicht eher ein Lippenbekenntnis?

Müsste es in unserer Welt nicht ganz anders aussehen, wenn alle täten, was sie singen, wonach sie sich sehnen?

Wie lange klingt die Melodie des Versprechens nach?

Genau in diese Situation hinein schreibt der Autor des Hebräerbriefes seinen Brief. Er schreibt ihn in eine Zeit hinein, in der die angeschriebenen Christen glaubensmüde geworden sind. Er schreibt diesen Brief, „damit ihr nicht träge werdet, sondern die nachahmt, die durch Glauben und Geduld die Verheißungen ererben.“ (Hebräer 6, 12) An anderer Stelle schreibt er: „Darüber hätten wir noch viel zu sagen; aber es ist schwer zu erklären, weil ihr so unverständig geworden seid. Und ihr, die ihr längst Lehrer sein solltet, habt es wieder nötig, dass man euch die Anfangsgründe der göttlichen Worte lehre und dass man euch Milch gebe und nicht feste Speise.“ (Hebräer 5, 11f)

Wie fortgeschritten die Ermüdungserscheinungen in der Gemeinde gewesen sein müssen, lassen sich an folgenden Sätzen des Autors erahnen:

23 Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; 24 und lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken 25 und nicht verlassen unsre Versammlung, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen,…
Hebräer 10, 23-25

Diese Zeilen könnten aus unseren Tagen stammen. Aber weit gefehlt. Der Brief an die Hebräer wurde zwischen 80 und 90 nach Christus abgefasst. Also, nicht einmal ein Menschenleben nach Jesu Tod. Der Autor appelliert an die Gemeinde. Er erinnert sie an den Auftrag. Er versucht sie zu motivieren und erinnert sie daran, was es bedeutet, Christ zu sein. Und er muss sie an die Grundfesten ihres Glaubens erinnern. Sie scheinen vergessen zu haben, worum es wirklich geht. Sie kommen nicht zu den Versammlungen der Gemeinde. Sie sind soweit zurückgefallen, dass sie, die sie eigentlich schon Lehrer des Glaubens sein müssten, wieder zu ABC-Schützen des Glaubens geworden sind, weil das Glaubenswissen, wie auch in unserer Zeit mehr und mehr verloren gegangen ist und geht. Wenn man das weiß und das auch im Hinterkopf hat, dann liest sich unser Predigttext noch einmal ganz anders.

Der Autor erinnert nämlich geschickt an die Anfänge des Christentums und die lange Geschichte, die Gott schon mit uns Menschen hat, weil er schon lange mit uns im Gespräch ist, z.B. durch seine Propheten und nicht zuletzt durch seinen Sohn, der eben ganz der Vater ist, der ein Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens ist und gleichzeitig sind diese ersten vier Verse ein ausformuliertes Glaubensbekenntnis.

Der Hebräerbrief ist ein engagiertes Mahnschreiben:

20 Der Gott des Friedens aber, der den großen Hirten der Schafe, unsern Herrn Jesus, von den Toten heraufgeführt hat durch das Blut des ewigen Bundes, 21 der mache euch tüchtig in allem Guten, zu tun seinen Willen, und schaffe in uns, was ihm gefällt, durch Jesus Christus, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. 22 Ich ermahne euch aber, Brüder und Schwestern, nehmt das Wort der Ermahnung an; ich habe euch ja nur kurz geschrieben.
Hebräer 13, 20-22

So gesehen, passt der Hebräerbrief wunderbar in unsere Zeit. Zum einen, macht er deutlich, dass die Kirchen- und Glaubensferne der Menschen schon vor 1940 Jahren die Gemeinden und Glaubenslehrer beschäftigt hat, zum anderen ist er ohnegleichen aktuell und trifft uns in Mark. Er erdet uns in aller Weihnachtsromantik und macht deutlich, dass es „ein schwerer, verhängnisvoller Irrtum ist, wenn man Religion mit Gefühlsduselei verwechselt. Religion ist Arbeit. Und vielleicht die schwerste und gewiß die heiligste Arbeit, die ein Mensch tun kann.“ (Bonhoeffer, Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, Dietrich Bonhoeffer Werke Band 10, 2005, S. 484)

Und der Blick in den Stall zu Bethlehem, in dem Jesu geboren wurde, und der Blick auf das Kreuz, an dem er gestorben ist, macht deutlich, wie ernst es Gott mit uns ist. Und genau deshalb sollte die Welt Weihnachten zum Anlass nehmen, Gott wieder ernst zu nehmen.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Predigt am Christfest II 2020 über Hebräer, 1, 1-4, Perikopenreihe III, in der Erlöserkirche zu Grainau und der Johanneskirche in Partenkirchen.