Pfr. Martin Dubberke
Hans Nowak - Der Fischzug - Detail - aus der Heilandkirche in Oberau | Bîld: Martin Dubberke

Geduld wagen

Liebe Geschwister, noch klingt der Wochenspruch aus dem Lukas-Evangelium in meinen Ohren nach:

Seht auf und erhebt eure Häupter,
weil sich eure Erlösung naht.

Lukas 28, 21

Wenn ich in diesen Tagen und Wochen die Zeitung lese oder mir die Nachrichten anschaue, bekomme ich immer öfter das Gefühl, dass hier von Erlösung die Rede ist. Und gleichzeitig scheint es mir auch wie ein ungeduldiges Wettrennen zu sein, in dem es darum geht, wer der Erste unter den Erlösern und Erlösten sein wird. – Der Impfstoff naht. Doch naht damit auch die Erlösung?

Was werden wir dann gelernt haben? Was werden wir dann anders machen, weil wir doch eine so besondere Erfahrung gemacht haben, die uns für so Vieles die Augen geöffnet hat, eine Erfahrung, die uns hat Zusammenhänge erkennen lassen und vor allem spürbar erleben und erfahren lassen? Diese Erfahrung hat bei Millionen Menschen die verschiedensten Ängste ausgelöst. Und diese Ängste und Erfahrungen haben aber auch Menschen voneinander getrennt, haben zuweilen auch einen Keil zwischen Menschen und Familien getrieben. Diese Angst hat Menschen verändert und zum Teil voneinander entfremdet.

Und, auch das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren: Es hat in und mit unserer Gesellschaft etwas gemacht. Es gibt Menschen, die alles so hingenommen haben, also die die schweigende Masse sind. Es gibt Menschen, denen sich in der Tat die Augen geöffnet haben, die für sich erkannt haben, dass uns dieses Virus auch eine Botschaft geliefert hat, die uns die Augen für die Vulnerabilität unseres Lebens, unserer Ordnungen, unserer Wirtschaft, unserer Welt geöffnet hat, und uns zum anderen hat demütig werden lassen angesichts des Endes der Selbstverständlichkeit, die nicht hinterfragt, sondern einfach nimmt und konsumiert, so lange das Geld, die Ressourcen reichen. Das sind die Menschen, bei denen sich das Bewusstsein verändert hat, die einen neuen Blick auf alles gewonnen haben, weil Verworrenes und Vorborgenes mit einem Male durchschaubar geworden ist und Machtstrukturen und Machtbestrebungen mit einem Male transparenter geworden sind.

Und dann gibt es noch die Menschen, die sagen, dass hinter all dem eine große Verschwörung stecken muss. Aber auch diese Menschen sind von Ängsten getrieben. Und auch bei diesen Menschen geht es quer durch alle sozialen und durch alle Bildungsschichten und auch so manche politische Orientierung, wobei ich hier zuweilen das Gefühl habe, dass diese Gruppe die am meisten gefährdete und zugleich gefährlichste Gruppe ist, weil die Ängste dieser Menschen von bestimmten politischen Kräften für ihre eigenen Machtzwecke missbraucht werden. Kräfte, die sich mit denen verschwören, die zu wissen glauben, dass es eine Verschwörung gegen sie und die Gesellschaft und die Welt gibt, die am Ende mit ihren Ängsten dafür missbraucht werden, um sich gegen die da oben und gegen eine freiheitliche Grundordnung zu verschwören. Und das alles quasi unter der Überschrift, vom falschen System erlöst zu werden. Das ist der Boden, der fruchtbar wird für den Ruf: „Kreuzige ihn!“

Dieses kleine Virus lehrt uns Aufmerksamkeit und vor allem Wachsamkeit und damit auch Sensibilität füreinander und miteinander.

So, wie wir schmerzhaft üben mussten und noch immer üben müssen Distanz zu halten, so durften wir in dieser Zeit auch lernen, wie wichtig es ist, nicht distanzlos zu sein, weil es gleichzeitig die Distanzlosigkeit und Grenzverletzungen in unserer Gesellschaft, in unserem Leben, in unserem Leben miteinander schonungslos aufgedeckt hat und das Bewusstsein dafür schärfen konnte, dass Distanzlosigkeit und Grenzverletzung, nicht nur gefährlich sind, sondern ihren Ursprung auch im Egoismus und noch schlimmer dem Egozentrismus haben, sie einfach nur rücksichtslos sind. Dieses Virus hat uns sensibler werden lassen, was die Rücksichtslosigkeiten in unserem Leben betrifft und wir haben auch gelernt, diese Distanz, diese Rücksicht einzufordern.

Dieses Virus hat uns den Spiegel vor unsere Augen gehalten, wo es bei uns mit der Nächstenliebe klappt und wo es nicht bei uns klappt.

Und dieses Virus hat noch etwas getan: Es hat uns spüren lassen, wie schmerzhaft es ist, wenn wir nicht beieinander nahe sein können, wenn wir keine körperliche Nähe und Wärme erfahren dürfen. Es hat uns gezeigt, wie gefährlich und bedrohlich auch die gesellschaftliche Kälte von Egoismus sich am Ende anfühlen kann.

Wir haben aber auch durch die Distanzübung neue Formen der Nähe entdeckt und alte Formen wiederentdeckt, die wir neu belebt haben.

Hat uns dieses Virus am Ende etwa erlöst? – Nein!

Wird etwa der Impfstoff die Erlösung sein? – Nein!

Ich glaube, dass wir ganz viel durch dieses Covid 19 über uns selbst lernen und erfahren konnten, und nicht nur über uns selbst, sondern auch über die Welt, in der wir leben. Und mit Blick auf all das haben wir auch auf spürbare, seelische, körperliche und intellektuelle Weise die Erkenntnis gewinnen können, dass das nicht auf Knopfdruck geschieht, sondern ein langer Weg ist, der da vor uns liegt.

Und hier kann uns der nahende Impfstoff auch ein hilfreiches Bild sein, weil diese Impfstoffe niemand alleine im stillen Kämmerlein entwickelt hat, sondern die Forscher und Wissenschaftlerinnen international zusammengearbeitet haben. Einsam sind wir klein, aber gemeinsam werden wir Anwalt des Lebendigen sein.

Und so lehrt uns all das Demut und Geduld.

So, und damit bin ich nun endlich beim eigentlichen Predigttext angekommen:

So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.

Jakobus 5, 7-8

Tja, und solcherart auf den Predigttext vorbereitet, stellt sich mir natürlich die Frage, wie wir mit der Ungeduld, die es in dieser Welt gibt, die Geduld aufbringen, um auf das Kommen des Menschensohns zu warten? Wer jetzt schon in der Pandemie keine Geduld hat, wie will der die Geduld aufbringen, wenn es um das Warten auf den Menschensohn geht.

So eine Pandemie ist dem Kommen des Menschensohns gegenüber ja durchaus im Vorteil: Ich kann die Folgen sehen und gegebenenfalls in meinem eigenen Leben erleben. Aber wie ist das mit dem Kommen des Menschensohnes?

Im Evangelium des Lukas (21, 25-33) werden ja alle möglichen Zeichen angekündigt, nicht zuletzt das Brausen und die Wogen des Meeres, die dem Kommen des Menschensohns vorausgehen werden. Und die Menschen werden dann vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die da über die ganze Erde kommen sollen, vergehen. Diese Ankündigung ist nun ziemlich genau zweitausend Jahre her. Und noch hat keiner die Wolke gesehen, in der der Menschensohn mit großer Kraft und Herrlichkeit kommen soll.

Welche Dinge werden es wohl sein, die über die ganze Erde kommen werden? Corona wird es sicherlich nicht sein.

Mir gefällt das Bild, aus dem Jakobusbrief:

Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.

Ich kann nichts übers Knie brechen, weder in der Natur, noch Gott gegenüber. Und damit ist Geduld und Demut von mir gefordert. Die Geduld, bis etwas reif ist und geerntet werden kann. Und bis es geerntet werden kann, braucht es Demut vor der Schöpfung und den Mitgeschöpfen, weil es Zeit braucht, bis Saat zur Frucht wird, weil es braucht, bis Beziehungen zwischen Menschen gewachsen sind. Gott hat die Liebe in unsere Herzen gesät und noch ist diese Saat nicht überall aufgegangen.

Die Pandemie ist ein Fingerzeig, dass wir auch auf diese Saat mehr achten müssen.

Und noch – so scheint es – ist die Zeit für das Kommen des Menschensohns nicht reif, was nicht heißt, dass er nicht kommen wird, sondern nur heißt, dass wir noch warten müssen, auch wenn wir nicht wissen wie lange. Doch diese Wartezeit können wir nutzen, um das, was uns Gott geschenkt hat, in die Welt hinauszutragen, zu spenden, zu schenken und andere damit anzustecken, ja anzustecken, weil es gewissermaßen das einzige Virus ist, das Leben schenkt: Die Liebe. Und das ist nicht das Schlechteste, um die vor uns liegende Wartezeit zu überbrücken und mit Sinn zu füllen.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfr. Martin Dubberke, Predigt über Jakobus 5, 7-8 Perikopenreihe III und Lukas 21, 28 zum 2. Sonntag im Advent in der Markuskirche Farchant, Christuskirche Garmisch, Erlöserkirche Grainau, Johanneskirche Partenkirchen