Liebe Geschwister, ich bin hin- und hergeworfen. Seit einigen Tagen haben ich so eine Unruhe in mir. Ich spüre, dass sich da etwas in mir bewegt und ich weiß noch nicht, was am Ende dabei herauskommen wird. Der morgendliche Blick in die Bibel, der Blick in die Zeitungen lösen Fragen über Fragen in mir aus und ganz besonders der Text der Bach-Kantate „Ich bin ein guter Hirt“ (BWV 85), die wir nach meiner Predigt hören werden, aber auch die Epistel aus dem Brief an die Römer wirft bei mir Fragen auf. Und ebenso löst der Predigttext aus dem Johannes-Evangelium über die Ehebrecherin bei mir ganz andere Fragen aus also sonst.
Wer wären heute die Schriftgelehrten und Pharisäer?
Und wofür würde heute die Ehebrecherin stehen?
Und alles mündet in dem berühmten Satz:
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
Johannes 8,7
Das würde heute auf politischer Ebene schwierig. Wer war denn am Ende für die einseitige Gasabhängigkeit schuldig? Wer für die Ölabhängigkeit? Genau: Alle – Politik, Wirtschaft, wir.
Wer hier als erster einen Stein wirft, muss damit rechnen, selbst von einem Stein getroffen zu werden. Wir fluchen auf die Politiker. Doch wer hat sie gewählt? – Wir!
Wer hat den Geiz in unserem Land groß gemacht? Wir! Auf Kosten der Menschenrechte in anderen Ländern, auf Kosten des Friedens, des Erhalts der Schöpfung waren wir es, die Putin reich gemacht haben und China groß.
Und dann schaue ich mir den Text der Kantate an:
Ich bin ein guter Hirt (BWV 85)
1. Aria
Ich bin ein guter Hirt, ein guter Hirt lässt sein Leben für die Schafe.
2. Aria
Jesus ist ein guter Hirt;
Denn er hat bereits sein Leben
Für die Schafe hingegeben,
Die ihm niemand rauben wird.
Jesus ist ein guter Hirt.
Wo sind all die geraubten Schafe, die aus der Kirche ausgetreten sind, weil sie von uns Hirten enttäuscht worden sind? Wie holt Jesus sie wieder zurück?
3. Choral
Der Herr ist mein getreuer Hirt,
Dem ich mich ganz vertraue,
Zur Weid er mich, sein Schäflein, führt
Auf schöner grünen Aue,
Zum frischen Wasser leit er mich,
Mein Seel zu laben kräftiglich
Durch selig Wort der Gnaden.
Auch in der Ukraine wohnen Menschen, die daran glauben, dass Gott ihnen hilft, sie schützt. Was bedeuteten die Bomben, die Raketen, die menschenverachtende Verwüstungen für ihren und unseren Glauben?
4. Recitativo
Da wachtet dieser Hirt bei seinen Schafen,
So dass ein jedes in gewünschter Ruh
Die Trift und Weide kann genießen,
In welcher Lebensströme fließen.
Denn sucht der Höllenwolf gleich einzudringen,
Die Schafe zu verschlingen,
So hält ihm dieser Hirt doch seinen Rachen zu.
Wer hält dem Höllenwolf in Moskau den Rachen zu? Was ist mit der gewünschten Ruh, den Lebensströmen?
5. Aria
Seht, was die Liebe tut.
Mein Jesus hält in guter Hut
Die Seinen feste eingeschlossen
Und hat am Kreuzesstamm vergossen
Für sie sein teures Blut.
„Mein Jesus hält in guter Hut“ – Irgendwie scheint das doch gerade so gar nicht zu funktionieren. Ist es wirklich so, dass wir das heute noch so glauben? Hält Jesus noch schützend seine Hand über uns oder tut er das nicht eher durch seine Lehre? Ich denke hier nur an das Gebot der Nächstenliebe. Würde sie uns allen miteinander gelingen, so hätten wir Frieden. Dem folgend wäre also Jesu Wort, seine Lehre uns Hirte und Schutz.
Jesus sagte einst zu uns:
Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
Lukas 6, 38
Ach, Jesus, gib uns die Kraft, deine Liebe durch uns wirken zu lassen. Steh uns im Rücken, wenn wir dein Wort wagen.
6. Choral
Ist Gott mein Schutz und treuer Hirt,
Kein Unglück mich berühren wird:
Weicht, alle meine Feinde,
Die ihr mir stiftet Angst und Pein,
Es wird zu eurem Schaden sein,
Ich habe Gott zum Freunde.
Gott als der große Bruder? Wer anderen Angst und Pein stiftet, dem wird es zum Schaden sein. Das ist die große Hoffnung.
Da klingt Paulus mit seinem Brief an die Römer durch:
Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
Römer 12,19
Vor einigen Wochen noch sagte ich in einer Predigt, dass Frieden schaffen ohne Waffen nicht möglich sei. Das war für mich die Quintessenz aus diesem Krieg. Aber wie kleingläubig war ich da? Kleingläubig und verblendet durch Offene-Briefe-Schreiber, die gegen Waffenlieferungen argumentierten und eine Kapitulation empfahlen. Bei all dem hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes die Rechnung ohne Gott, ohne den Glauben gemacht, sondern einfach gedacht, bis Paulus mir mit seinem Brief an die Römer meine Augen geöffnet hat.
Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Römer 12, 17-21
Was bedeutet das im Blick auf die Situation, in der wir leben? Was bedeutet das im Blick auf den Krieg in der Ukraine?
Ich lese immer, dass geredet werden muss. Ich sehe im Fernsehen, dass Politikerinnen und Politiker in die Ukraine fahren und mit dem Präsidenten reden, sich zerstörte Orte anschauen und sich vom russischen Grauen ergriffen zeigen. Aber hat nur einer dieser Besuche etwas geändert? Diese Solidaritätsbesuche sind wichtig, aber haben sie etwas geändert? Es sind Symbole statt Handlungen.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist, obwohl sie unter dem Patriarchen Kyrill den Krieg Putins gegen ihre christlichen Schwestern und Brüder in der Ukraine befürwortet, nach wie vor nicht geächtet, nicht isoliert, nicht aus dem Weltkirchenrat ausgeschlossen oder zumindest suspendiert. Es gibt meines Wissens keine Konsequenzen aus dem sündhaften Verhalten des Moskauer Patriarchen. Das ist eine schwache Leistung. Nehmen wir uns noch ernst? Wie ernst nehmen wir den Frieden, den Jesus uns gepredigt hat?
Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Matthäus 5, 9
Ja, wir als Kirchen, als Christenmenschen haben das Wort, aber wo bleibt die Tat, die aus dem Wort erwächst?
Ja, die Kirchen, der Vatikan schicken Vertreter in die Ukraine, aber der Papst oder die Ratsvorsitzende – ich habe es extra noch einmal gegoogelt – sind noch nicht in der Ukraine gewesen. Und wenn, dann werden Worte ausgetauscht, die für das Handeln stehen, aber das Handeln nicht ersetzen. Ein evangelischer Bischof sagte, dass er angesichts der Nachrichten aus der Ukraine „verzweifle“. Doch was ist die Konsequenz?
Im Mai sagte der Papst, dass er zuerst mit Putin reden wolle, bevor er in die Ukraine fährt. Glaubte er, dass er an dem langen Tisch im Kreml mit Worten mehr erreichen könne als alle führenden westlichen Politiker? Es fehlt die Tat!
Im April berichtete der BR:
Franziskus beteuert in seinem jüngsten Interview indessen, „alles zu tun“, was in seiner Macht stünde, um zu einer friedlichen Lösung beizutragen. Dabei müsse sich ein Papst allerdings an diplomatische Gepflogenheiten halten. Öffentliche Kritik an Staatsoberhäuptern oder Staaten sei nicht hilfreich.
Ist die Kirche wirklich ein Ort, an dem „diplomatische Gepflogenheiten“ gelten oder nicht doch das kräftige Wort Gottes, das zur Tat ruft? Versteht mich nicht falsch! Ich will hier kein Papst-Bashing oder Bashing unserer Bischöfe machen. Das wäre nämlich genau das „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Nein, es sind für mich Beispiele dafür, wie ich unsre Kirchen und uns selbst in dieser Situation wahrnehme. Sie sind nicht anders als unsereins.
Im Juni ist der Augsburger Bischof Bertram Meier mit einer Delegation der Deutschen Bischofskonferenz zu einem Solidaritätsbesuch in der Ukraine gewesen.
All das ist wichtig und richtig. Aber ich glaube, dass unser Glaube, unsere Kirchen viel zu verkopft sind und deshalb zu verzagt sind, das Naheliegende zu tun. Nennt mich ruhig naiv, also von kindlich unbefangener, direkter und unkritischer Gemüts- und Denkart. Aber hat nicht Jesus selbst gesagt: „Wenn ihr nicht seid wie die Kinder“?
Könnt Ihr Euch noch erinnern, was ich vergangenen Sonntag in meiner Predigt gesagt habe? Ich erzählte, dass mich eine Teilnehmerin meiner Veranstaltung „Gemeinsam lesen…“ gefragt hat, wie man Putin Einhalt gebieten könnte. Ich sagte, dass ich an dieser Stelle keine Antwort gewusst habe, ich aber an Bonhoeffers Idee denken musste, dass man dem Rad in die Speichen fallen solle.
Es könnte sein, dass ich heute eine Antwort auf diese Frage habe. Ich sage es Euch ganz ehrlich und es ist eigentlich wie eine Vision oder ein Traum: Wenn der Papst und die Bischöfe – und seien es nur die aus Europa – , egal ob katholisch oder evangelisch sich von ihren Bischofssitzen aus Richtung Kiew zu einer Friedensprozession auf den Weg machen würden, singend und betend in ihren Gewändern und sich die Pfarrerinnen und Pfarrer ebenso auf den Weg machen würden und ihnen die Gläubigen folgen würden, und man mit den scharfgeschliffenen Waffen der ersten Christenheit, dem Wort, dem Lied und dem Gebet ausgerüstet wären und sich so Hunderttausende oder Millionen Christenmenschen auf den Weg nach Kiew machen würden, würde wohl auch ich mitlaufen.
Das wäre, dem Rad in die Speichen fallen, wie es einst Dietrich Bonhoeffer vorgeschlagen hat. Das wäre die Tat, das Eintreten für den Frieden mit christlichen Mitteln. Das wäre ein Handeln ohne Waffen. Das wäre etwas, was auch ein Putin oder Lawrow nicht mehr übersehen könnten und erst recht nicht niederknallen könnten. Das wäre am Ende vielleicht wirksamer als alle Sanktionen.
Das wäre wirkender Glaube, den Putin nicht wegleugnen oder wegpropagieren könnte. Das wäre ein Sichtbares Zeichen, ein wirksames Zeichen, anders als all die kleinen Friedenslichter und Friedensgebete auf unseren Straßen, die immer weniger werden, je länger dieser von Putin geführte Menschen und Gott verachtende Krieg dauert.
Es braucht ein Aufstehen und Losgehen. Und ich glaube, dass Gott genau das von uns erwartet.
Wir hören es gleich zu Beginn in der Kantate:
Ich bin ein guter Hirt, ein guter Hirt lässt sein Leben für die Schafe.
Was sind wir selbst bereit, für den Frieden zu geben, wenn wir „Frieden schaffen ohne Waffen“ wirklich ernstnehmen wollen?
Ich denke gerade an das, was Jesus einst gesagt hat:
Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.
Lukas 17,19
Nur so wird es möglich werden, das Böse mit Gutem zu überwinden.
Amen.
Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juli 2022, über BWV 84, Römer 12, 17-21 & Johannes 8, 3-11 (Perikopenreihe 4) in der Johanneskirche zu Partenkirchen.
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