Pfr. Martin Dubberke
Pfr. Martin Dubberke am Reformationtag vor der Johanneskirche in Partenkirchen

Was ist Jesus Christus für mich?

Liebe Geschwister,

als mein katholischer Kollege Andreas Lackermeier und ich uns über den Predigttext unterhielten und wir uns auf den Wochenspruch aus dem ersten Brief an die Korinther geeinigt hatten, also:

Einen andern Grund kann niemand legen außer dem,
der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.
1. Korinther 3, 11

unterhielten wir uns auch darüber, wie wir das denn mit den zwei Predigten und den Perspektiven halten wollen. Und da hatte Andreas den wunderbaren Einfall, dass wir den Vers zum Anlass nehmen könnten, darüber zu predigen, was Christus für uns ist. Was ist Christus für mich? Die Frage fordert mich zum Bekenntnis.

Christus war in meinem Leben zuerst wie eine Märchenfigur, die keine Märchenfigur ist. Ich habe ihn mit sechs Jahren in der Grundschule, einem großen roten Backsteingebäude in der Nähe des Kurfürstendamms kennengelernt. Er war jemand, der ganz offenkundig erst einmal nicht in meinem Elternhaus wohnte, jemand, über den man nicht sprach. Jesus war damals jemand, den ich weder mit dem Adventskranz noch mit dem Tannenbaum in Verbindung brachte, mit Weihnachtspyramiden, Räuchermännchen, Dominosteinen, Rauschgoldengeln und Lebkuchen und natürlich auch nicht mit den Geschenken. Die brachte bei uns der Weihnachtsmann. Nur, wenn wir über Heiligabend in Bayern Urlaub machten, brachte uns das Christkind die Geschenke. Auch mit Ostereiern, Osterhasen oder den Marienkäfern aus Schokolade, mit denen meine Mutter zu Pfingsten immer den Frühstückstisch liebevoll schmückte, brachte ich nicht in Verbindung. Gleiches galt für den Vatertag – also, Himmelfahrt – wo wir Radtouren machten und mein Vater in seinen Gepäcktaschen auch immer ein paar Flaschen Bier drin hatte.

Jesus war mir also ein vollends Unbekannter, als ich zur Schule kam, wo ich dann mit einem Male dieses ominöse Unterrichtsfach Religion hatte. Ein Fach, das sich nicht selbst erklärte, wie Schreiben, Lesen, Rechnen, Malen, Musik oder Sport. Bei allen anderen Fächern, wusste ich schon aus dem Namen heraus, was ich hier lernen sollte. Aber Religion?

Und dennoch war Religion mein ungeschlagenes Lieblingsfach, weil mein Religionslehrer so tolle Märchen erzählen konnte, in denen nicht irgendwelche Prinzen die Helden waren, sondern so ein Jesus Christus, der wundersame Dinge tat: Wasser in Wein verwandelte, über Wasser gehen konnte, Stürme stillen konnte, Tote wieder zum Leben erwecken konnte, Kranke heilte, Essen vermehrte und sogar selbst nach seinem gewaltvollen Tod wieder auferstand. Was für ein Held, der auch noch der Sohn von irgendeinem Gott sein sollte, den der mit einer gewissen Maria gezeugt hatte… Kurzum, auch wenn ich das Wort damals noch nicht kannte, aber ein absolut cooler Typ, der zum Helden meiner Kindheit wurde. Und so zog mit einem Male durch mich Jesus Christus in mein Elternhaus ein, weil ich von ihm erzählte und weil ich fragte.

Und dann passierte noch etwas: Für mich war damals ziemlich schnell klar, dass es diesen Jesus gegeben haben muss, weil es doch sonst nicht in der Schule ein Unterrichtsfach geben würde, in dem es nur um ihn ging.

Und als mich dann auf dem Spielplatz ein Klassenkamerad fragte, ob ich denn diese ganzen Geschichten mit Jesus glauben würde, antwortete ich ihm mit meinen sechs Jahren: „Du, die Geschichten sind so unwahrscheinlich, dass die war sein müssen. Ich glaube die.“

Ohne es zu ahnen, sprach ich damit nicht nur mein erstes Glaubensbekenntnis aus, sondern hatte für mich schon etwas erkannt, was Tertullian und gleichermaßen auch Augustinus in den Mund gelegt wird:

„Credo quia absurdum est.“ – Ich glaube, weil es absurd ist.

Glaube ist mit der Vernunft, dem Verstand weder zu fassen noch zu erklären. Diese kleine biographische Episode aus meinem Leben erinnert mich schon sehr daran, was Jesus einmal gesagt hat:

Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder,
werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.
Matthäus 18, 2

Und so wurde Jesus Christus für mich nicht nur zu einem wichtigen Menschen in meinem Leben, sondern über meinen Religionslehrer schloss er mir die Welt des Glaubens auf und wurde so zum Grund, zum Fundament meines Lebens:

Einen andern Grund kann niemand legen außer dem,
der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.

Also, Jesus Christus ist die Grundlage meines Lebens, das – so wie es geworden ist – ohne ihn nicht denkbar wäre. Er ist so sehr mein Fundament, dass ich mein Leben und auch meine berufliche Existenz an ihn gebunden habe und dieses auch durch mein Ordinationsversprechen entsprechend gelobt habe. Aber im Grunde genommen hat mich Jesus schon als Sechsjährigen gefischt, ohne, dass ich auch nur im Ansatz ahnen könnte, dass er mein Leben so bestimmen, so prägen würde. Und damit kommt für mich eine weitere Perspektive der Frage, was Christus für mich ist, ins Spiel.

Durch ihn, wird mir der andere zur Schwester oder zum Bruder. Was nicht heißt, dass er so sein muss wie ich, so denken muss wie ich, so glauben muss wie ich. Wir sind halt alle Glieder eines Leibes, des Leibes Jesu Christi. Und jedes Glied ist anders. Jedes Glied hat eine andere Aufgabe. Jedes Glied bildet einen anderen Aspekt der Realität ab. Und dann kommt ja noch hinzu, dass jeder von Gott aus diesem Grunde auch andere Gottesgaben empfangen hat. Wie entlastend! Muss ich doch nicht alles können, muss ich mich selbst nicht unter Druck setzen oder setzen lassen, alles können zu müssen.

Christus ist mir aber noch vieles, vieles andere mehr. Christus hat prägenden Einfluss auf mein Denken und Handeln. Ich denke hier nur an die Geschichte mit dem Splitter im Auge meines Bruders und dem Balken in meinem eigenen Auge. Er erinnert mich immer wieder daran, über meinen eigenen Schatten zu springen, um meinem Nächsten wieder nahe zu kommen, dass ich mich an meine eigene Nase fassen muss, mein eigenes Sünder sein erkennen darf, wo ich in Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit auch mal für einen Moment Jesus Christus vergessen kann, und dann mit einem Male den Balken in meinem eigenen Auge erkenne, meine eigene Angst, was heilsam und gut ist.

Mit dem Satz: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ (Johannes 8,7) hält mir Jesus Christus den Spiegel vor mein Gesicht.

Christus, das sind die Seligpreisungen, in denen es nicht raum geht, Elite zu sein oder zur Elite zu werden, sondern achtsam zu sein, achtsam für die geistlich arm sind, die da Leid tragen, die sanftmütig sind, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, die Barmherzigen, die reinen Herzens sind, die Frieden stiften, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, die sich wegen Jesus Christus schmähen lassen, gegen die allerlei Böses geredet wird. Da legt uns Jesus Christus eine ganz schöne hohe Latte auf, die deutlich macht, dass das mal so eben hingesprochene Gebot der Nächstenliebe, nicht religiöse Kuschelei ist, sondern eine Herausforderung, die jeden einzelnen von uns extrem fordert und uns auch unsere eigenen Grenzen aufzeigt. Es macht deutlich, wo wir überall Buße, Umkehr nötig haben.

Dietrich Bonhoeffer hat 1932 zum Reformationsfest in seiner Predigt über Apokalypse 2,4 f sich auf Martin Luther beziehend folgendes gesagt:

„Tu Buße und tu die ersten Werke.“ Dies gehört unbedingt dazu. Ohne es hat das Vorangegangene keinen Sinn. Es mag fast unschicklich klingen, am Reformationstag gerade von den Werken zu reden. Aber es ist ein grauenvolles Mißverständnis des Evangeliums, wollte man meinen, der Glaube, die Buße sei ein Ding für fromme Abend- und Morgenstunden. Glaube, Buße heißt Gott Gott sein lassen – auch in unserem Tun, gerade in unserem Tun ihm gehorsam sein.

„Tu die ersten Werke“ – wie nötig ist es, das heute zu sagen. Keiner, der die heutige Kirche kennt, wird sich darüber beklagen wollen, daß die Kirche nichts tue. Nein, die Kirche tut unendlich viel, auch mit viel Aufopferung und Ernst; aber wir tun alle eben so viel zweite, dritte und vierte Werke, und nicht die ersten Werke. Und eben darum tut die Kirche das Entscheidende nicht. Wir feiern, wir repräsentieren, wir erstreben Einfluß, wir treiben evangelische Jugendpflege, wir tun Wohlfahrtsdienste und Fürsorge, machen Anti-Gottlosenpropaganda – aber tun wir die ersten Werke, um die schlechthin alles geht? Gott lieben und den Bruder lieben mit jener ersten, leidenschaftlichen, brennenden, alles – nur Gott nicht – aufs Spiel setzenden Liebe? Wenn es so wäre, es müßte doch anders aussehen, es müßte doch etwas durchbrechen. Freilich, Gott muß es tun, aber stellen wir uns in seinen Dienst, lassen wir ihn Gott sein mit jener ersten Liebe! Vielleicht, daß es dann wieder einmal wahr wird: Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele… (Bonhoeffer, Werkausgabe, Band 12, 1997, S. 429-430)

Bonhoeffer macht hier noch einmal sehr deutlich, was auch mir wichtig ist: Christus ist nicht derjenige, der im Raum steht und dann ist alles gut. So einfach ist das nicht. Nur, weil ich Christus folge, bin ich kein guter Mensch. Und genau daran erinnert mich Christus. Ich denke hier an den Zöllner Zachäus. Wahrlich, auf den ersten Blick kein Gutmensch, aber er folgte Jesus Christus wirklich und das bedeutete für ihn eine absolute Umkehr. Das bedeutete Buße und so wurde für ihn auch Gemeinschaft möglich.

Christus ist für mich auch derjenige, der deutlich macht, dass man manchmal aufräumen muss, nämlich mit alten Vorstellungen und Missständen, die sich kultiviert eingeschlichen haben, auch in unseren Kirchen. Ich sage nur die Tempelreinigung. Auch das ist Christus. Mit Christus fühle ich den Revoluzzer in mir. Manchmal muss man aufräumen und sortieren, was wirklich dazu gehört oder, ob ich mir nicht den Blick auf das Eigentliche verbaut habe. Das bedeutet auch Abschied zu nehmen von alten Gewohnheiten, die nur deshalb gut sein sollen, weil sie schon so lange unhinterfragt gelebt werden. Das gilt auch für Strukturen. Wir leben gerade in unserer Kirche in der Zeit des Prozesses von „Profil und Konzentration – kurz PuK“. Das Credo von PuK lautet, dass die Aufgaben die Struktur bestimmen und nicht umgekehrt. Das hat auch etwas von einer Tempelreinigung.

Und so könnte ich noch lange weiter machen, weil Christus mir so vieles ist. All das öffnet mir das Herz, öffnet mir den Blick. Jesus geht auf andere zu. Er bleibt mit seinen Jüngern nicht als schlauer Debattierclub unter sich, sondern geht auf alle Menschen egal welcher Bildung, Herkunft, welchen Standes u.s.w. zu. Und dann erklärt er seinen Jüngern, die stellvertretend für unsere eigene Begrenztheit stehen, sein Tun, damit sie verstehen, was und warum er es tut, damit sie es ihm nachtun können. Und er erklärt sich auch den anderen da draußen, auch den schlauen Pharisäern. Sich zu erklären, heißt auch, sich angreifbar zu machen. Auch das ist eine Seite von Bekennen.

Von Jesus Christus habe ich auch gelernt, dass Glaube nichts für Feiglinge ist, sondern das Glaube auch Mut braucht und deshalb Mut macht, nämlich Glaubensmut.

Und damit gebe ich nun die Frage, der Andreas und ich mich heute gestellt haben, auch Euch mit auf den Weg: Was ist Jesus Christus für Euch?

Ich bin auf Eure Antworten gespannt. Auch wenn ich Euch gerade nicht zu Kaffee und Kuchen oder eine Brezn und ein Bier einladen kann, aber wir treffen uns ja beim Einkaufen oder im Wartezimmer beim Arzt. Ihr könnt mich auch anrufen oder mir schreiben. Also: Was ist Jesus Christus für Euch?

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfr. Martin Dubberke, Predigt über 1. Korinther 3, 11 am Gedenktag der Reformation 2020, 31. Oktober 2020, in der Johanneskirche Partenkirchen. Diesen Gottesdienst habe ich in ökumenischer Verbundenheit mit meinem katholischen Kollegen Pfr. Andreas Lackermeier gefeiert, der ebenfalls in diesem Gottesdienst gepredigt hat.