Pfr. Martin Dubberke
Sündenfall 2.0 - Ein Brief an Paulus | Foto: Martin Dubberke

Sündenfall 2.0 – Ein Brief an Paulus

Lieber Paulus,

auf beeindruckende Weise offenbarst Du an dieser Stelle Deines Briefs an die Römer die beiden Seelen, die in Deiner Brust leben. Du bist Jude und Christ zugleich, also ein Judenchrist, ein Mann, der in einer Jahrtausende alten Tradition lebt und zugleich am Anfang einer neuen Jahrtausende währenden Tradition steht. Du vereinst in Dir den alten Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat, und den neuen Bund, den Gott mit dem Kreuzestod seines Sohnes, mit allen Menschen, mit aller Welt geschlossen hat.

Manchmal frage ich mich, ob nicht manches anders in unserer gemeinsamen Geschichte gelaufen wäre, wenn man sich Judenchristen genannt hätte, weil Jesus doch ein Jude ist und so der Ursprung alles Christlichen jüdisch ist. Ohne das Judentum wäre das Christentum nie möglich geworden.

Mich irritiert eine Passage in Deinem Brief in besonderer Weise, wenn Du schreibst, dass einem Teil Israels Verstockung widerfahren würde, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen sei.

Hieße das nicht, dass ein Teil Israels schon Christus folgt und der Rest noch auf die Barmherzigkeit hoffen muss, bis die Gesamtheit der Menschen auch Christus folgt?

Mit anderen Worten, mein lieber Paulus, liegt da noch eine Menge Arbeit vor uns. Und somit stellt sich die Frage, nachdem wir das ja in zweitausend Jahren nicht geschafft haben, alle Menschheit für Christus zu gewinnen, wieviel tausend Jahre noch vor uns liegen und welche Gefahren wir bis dahin bewältigen müssen.

Lieber Paulus, ich lese ja, dass Du dich bei Deiner Aussage auf die Rettung Israels auf zwei Schriftworte aus Jeremia 31, 33f und Jesaja 59, 20, beziehst, also, zwei bedeutende Propheten mit einer hohen Autorität.

Du sprichst und schreibst als Jude, der Christus folgt und sich als sein Apostel auch als seinen Testamentsvollstrecker versteht, der direkt von Jesus Christus in sein Amt eingesetzt worden ist.

Dabei geht mir gerade ein weiterer Gedanke durch den Kopf: Die Propheten wurden doch von Gott, dem Vater, berufen und eingesetzt, die Apostel hingegen von Jesus, dem Sohn, dem menschgewordenen Gott. Macht das eigentlich einen Unterschied? Und wenn ja, welchen?

In beiden Fällen wurden sie – wie auch Du – aus ihrem bisherigen Leben herausgerufen. In beiden Fällen galt es, sein Leben für das neue Leben aufs Spiel zu setzen. In beiden Fällen ging es darum, den Menschen, das Wort Gottes anzusagen.

Doch scheint es hier einen Unterscheid zu geben: Die Propheten machen mehr oder minder Gerichtsansagen. Sie drohten mit dem Untergang, während die Apostel mit der Erlösung werben und genau damit, mit der Idee der Erlösung, der Hoffnung auf Erlösung, dem Versprechen auf Erlösung eine stärkere intrinsische Motivation entwickeln konnten, die den gleichen Effekt zur Folge hat: Buße – Umkehr – neues Leben und all das nicht aus Angst, sondern aus Hoffnung.

Lieber Paulus, Du bist, wie alle Apostel und nicht zuletzt auch Jesus Christus, Jude gewesen und wolltest, wenn ich Dich richtig verstanden habe, nicht das Judentum abschaffen, sondern aufwecken, in Bewegung setzen, reformieren, aus einer Starre lösen und gleichzeitig, und das war das Gefährliche daran, seiner Exklusivität seiner Beziehung zu Gott entzaubern, weil die Botschaft Jesu allen Menschen galt und damit eine globale Dimension entfaltete, die unter anderem ha auch dem Volk Israel den Bestand, die Existenz gesichert hätte. Schließlich war Israel ein von den Römern besetztes Land, das unterm Schlussstrich nach römischen Spielregeln geleitet wurde. Es war kein unabhängiges Volk. Die Idee aber von einem weltumspannenden Bewusstsein und Glauben von ein und demselben Gott geschaffen zu sein, schafft etwas ganz Neues in dieser Welt, schafft eine Verbundenheit zwischen allen Völkern und Menschen, bringt sie in Beziehung zueinander, so dass Frieden, Freiheit und Erhalt der Schöpfung Gottes möglich würden, keine Kriege, keine Vertreibungen, kein Exil.

Doch die bittere Ironie des Ganzen nahm die Form an, dass die Christen sich über die Juden erhoben und damit über Jesus Christus selbst. Sie – also wir – wurden wie die von Dir und den anderen Aposteln und Evangelisten beschriebenen Pharisäer, was zu Verfolgung, Unterdrückung, Inquisition und millionenfachem Mord und Leid führte. Es ging eigentlich immer nur um Macht, die eigene Mach und die Macht des eigenen Systems und die Ausbreitung der Macht, die Kreuzzüge und vieles andere mehr.

Lieber Paulus, hätten wir Christinnen und Christen es nicht doch besser wissen müssen, begingen wir damit nicht im Grunde genommen den Sündenfall 2.0?

Und was noch viel schlimmer ist, wir schnitten uns in unsere eigenen Wurzeln, als wir den Antisemitismus erfanden. Wir beraubten uns unserer Wurzeln, unseres Fundaments und verleugneten damit doch eigentlich Jesus Christus. Und dieses Gift ist noch immer in dieser Welt und, was noch viel schlimmer ist, dass es auch in die eingedrungen ist, die mit Gott, mit Jesus Christus und dem Heiligen Geist und noch weniger mit der Kirche etwas am Hut haben. Umso wichtiger scheint es mir, dass wir als Christinnen und Christen, als Kirche dem entgegenzuwirken, weil unser Ursprung der Jude Jesus Christus ist.

Lieber Paulus, das ist’s was Deine Zeilen in mir ausgelöst haben. Ich bin gespannt, ob Du mir antworten wirst und wenn ja, was Du mir antworten wirst.

Herzlichst

Dein Bruder Martin

Pfr. Martin Dubberke
Pfr. Martin Dubberke

Gedanken zum Predigttext Römer 11,25-32 am 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag) am 16. August 2020