Pfr. Martin Dubberke
Perspektiven mit Bonhoeffer | Bild: Martin Dubberke

Wo bist Du?

Liebe Regina, wie Du vielleicht schon geahnt hast, habe ich Dich kürzlich unter einem Vorwand nach Deiner Lieblingsbibelstelle gefragt. Du hast dann wie folgt geantwortet: „Wenn es nur ein einziger Vers sein soll (und das ist evtl. eine merkwürdige Wahl): Genesis 3,9“:

Und Gott der HERR rief Adam
und sprach zu ihm: Wo bist du?
Genesis 3,9

Und genau dieser Vers wird heute der Predigttext sein.

Liebe Geschwister,

niemand kann sich seiner Verantwortung entziehen, kann sich davor verstecken, wenn es darum geht, zur Verantwortung gezogen zu werden, sich seiner Verantwortung nackt und bloß zu stellen. Das hat Gott schon gleich am Anfang seiner Geschichte mit dem Menschen deutlich gemacht, damit diesbezüglich die Verhältnisse geklärt sind.

Klar und deutlich hatte Gott zu Adam und seiner Frau gesagt, dass sie nicht von dem Baum in der Mitte des Gartens essen sollten, ja, ihn nicht einmal berühren sollten, damit sie nicht sterben.

Gott hatte auf diese Weise eine ganz klare Grenze definiert, die nicht überschritten werden durfte. Er hat das gezogen, was wir heute eine rote Linie nennen. Und Gott hat noch mehr getan: Er hat dem Menschen deutlich gesagt, welche Sanktionen, welche Konsequenzen mit dem Überschreiten der roten Linie verbunden sind: Der eigene Tod.

Damit waren die Verhältnisse geklärt. Die Verantwortung dafür, ob der Mensch leben durfte oder sterben musste, lag einzig und allein beim Menschen. Er war derjenige, der darüber entscheiden konnte. Nicht Gott. Gott, nahm gewissermaßen nur die Entscheidung des Menschen an, indem er ihn in die Verantwortung nahm und nimmt.

Tja, und wir kennen ja die Geschichte nur zu gut. Das junge Menschenpaar entschied sich für die Versuchung, die Grenzverletzung und glaubte, dass das keine Konsequenzen für sie hätte. Tja, falsch gedacht, falsch gemacht. Denn Gott hat seine Augen überall und insbesondere auf uns den Menschen.

Und Gott der HERR rief Adam
und sprach zu ihm: Wo bist du?
Genesis 3,9

Und schwupps, schon saßen die Beiden in der Verantwortungsfalle. Gott hat Adam und seine Frau sofort gestellt. „Wo bist Du?“ – Vor Gott, kann sich niemand verstecken. Am Ende auch kein Wladimir Putin.

Und Gott der HERR rief Adam
und sprach zu ihm: Wo bist du?
Genesis 3,9

Und wisst Ihr noch, wie Adam auf diese Frage geantwortet hat?

10 Und Adam sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.

11 Und Gott sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?

12 Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.

Auch das kennen wir nur zu gut. Der Fachbegriff dafür lautet „Schuldverschiebung“ oder „Blaming“. Es wird ein Schuldiger gesucht, der eigentlich dafür verantwortlich ist, dass man selbst die rote Linie überschritten hat, ja überschreiten musste.

Wann immer wir in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten aus dem Mund Putins hörten, dass die Ukraine schuld an seinem Handeln sei, war es die gleiche Antwort wie die, die Adam Gott auf die Frage: „Wo bist du?“ gegeben hat.

Und dann hat Gott, alle an dieser Grenzverletzung, an diesem Vergehen beteiligten Akteure mit einer Sanktion belegt. Sprich: Alle, die sich schuldig gemacht hatten, die in dieses Vergehen verstrickt waren, mussten ohne jede Ausnahme die Konsequenzen aus ihrem Verhalten tragen.

Und über Adam fällte Gott schließlich folgendes Urteil:

…verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. 18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.

So hart das Leben nun auch in Zukunft aussehen mag, aber der zentrale Satz ist hier: Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück. Gott macht Adam deutlich, wo er herkommt, und dass er nur Staub ist. Du bist weder mehr noch weniger. Du bist und bleibst Staub.

Da wo ich aufgewachsen bin, nennt man das, jemanden auf Normalmaß zurechtstutzen.

Die Beschreibung der Mühsal, die mit der Konsequenz seines Fehlverhaltens verbunden ist, erinnert mich an ein Interview mit dem Historiker Herfried Münkler, das ich gestern gelesen habe. Hier sagt er:

„Putin wird vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt, er wird wegen Führung eines Angriffskrieges verurteilt und muss in der Ukraine persönlich Gräber ausheben für die gefallenen Soldaten. Leider ist das ein Wunschtraum.“ (Die Welt 05.03.2022)

So, nun habe ich mich – glaube ich – deutlich und ausreichend der strafenden Seite gewidmet.

Der kleine Vers aus dem Buch Genesis macht deutlich, dass Gott sieht, was passiert und den Urheber, den Verursacher nicht aus seiner Verantwortung Gott gegenüber entlässt. Das hat etwas Tröstliches in einer Welt, in der man zuweilen nicht das Gefühl loswird, dass politische Großverbrecher immer irgendwie so durchkommen könnten.

Wenn Gott den Verursacher sieht, dann sieht er auch das, was verursacht wurde, weil er sonst den Verursacher nicht zur Rechenschaft ziehen würde. Das heißt auch, dass er die Tat des Täters nicht gutheißt.

Gott hat uns Menschen im Rahmen des Sündenfalls etwas sehr Grundlegendes mit auf den Weg gegeben. Wir wissen nun, dass das Verletzen einer roten Linie, mit Konsequenzen für den Grenzverletzer verbunden sein muss. Und wir wissen, dass ein solcher Grenzverletzer ausgeschlossen und damit isoliert werden muss, um jegliche Gefährdung der Schöpfung Gottes auszuschließen.

Dieser Sündenfall bedeutet aber noch etwas anderes, sehr Grundlegendes: Der Versuch Adams und seiner Frau, sich vor Gott zu verstecken, die eigene Blöße mit einem Schurz zu verdecken, markiert die Entstehung des Gewissens. Dietrich Bonhoeffer, den Du – liebe Regina – genauso schätzt wie ich, sagt in seinem Buch „Schöpfung und Fall“:

Vor dem Fall gab es kein Gewissen.
(Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, DBW 3, 1989, S. 120)

Nun glauben wir natürlich immer, dass das Gewissen etwas Gutes sei. Bonhoeffer kommt hier aber zu einem anderen und vielleicht für die meisten von uns überraschenden Schluss:

Das Gewissen ist nicht die Stimme Gottes im sündigen Menschen, sondern gerade die Abwehr gegen diese Stimme, die aber eben als Abwehr doch wiederum wider Wissen und Wollen auf die Stimme hinweist.

Adam, wo bist du? … mit diesem Wort des Schöpfers wir der flüchtende Adam aus seinem Gewissen herausgerufen, er muss vor seinem Schöpfer stehen. Der Mensch darf in seiner Sünde nicht allein bleiben, Gott redet zu ihm, er hält ihn auf der Flucht auf. … Der fliehende Adam muss erkennen, dass er vor seinem Schöpfer nicht fliehen kann. Der Traum, den wir alle kennen, dass wir vor etwas Entsetzlichem fliehen wollen und doch nicht fliehen können, ist die dem Unterbewusstsein immer wieder entsteigende Erkenntnis des abgefallenen Menschen. (Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, DBW 3, 1989, S. 120f)

Bonhoeffer weist hier auf etwas hin, das uns jetzt mit übergroßer Gewalt einholt:

Der Traum, den wir alle kennen, dass wir vor etwas Entsetzlichem fliehen wollen und doch nicht fliehen können…

Hierbei handelt es sich um die Realität. Wir können uns als Christenmenschen nicht vor der Realität verschließen. Und die Realität kann so grausam sein, wie das, was wir jetzt seit anderthalb Wochen nur zwei Flugstunden von hier entfernt in unseren Medien sehen.

Viele von Euch haben Olek und Anastasja bei unserem Friedensgebet kennengelernt und gehört, was sie erzählt und gesehen haben, was Olek gezeigt hat. Am Freitag hat mir eine Ukrainerin, die schon lange zur Tafel kommt, ein Foto ihrer Tochter gezeigt, die 26 Jahre jung ist und gerade in einer der belagerten Städte eingeschlossen ist und nicht fliehen kann. Sie weiß nicht, ob sie ihre Tochter je wieder in ihre Arme schließen kann. Mit einem Male steht man der Wirkung dieses Krieges direkt gegenüber und schaut ihr in die angsterfüllten Augen.

Der Traum, vor etwas Entsetzlichem fliehen zu wollen, ist auch die Angst, sich einer herausfordernden an die eigenen Grenzen gehenden Situation zu stellen. Ich kann es versuchen. Das hat auch unsere Politik aus heutiger Sicht in den vergangenen Jahrzehnten getan, um nun von der Realität eingeholt zu werden und feststellen zu müssen, dass wir davor nicht fliehen können, sondern uns stellen müssen: Wo bist du?

Diese Frage stellt uns Gott jeden Tag aufs Neue: Wo bist Du? Versuchst Du zu fliehen oder Dich zu stellen?

Gott will, dass wir uns der Realität stellen. Gott will, dass wir nicht das tun, was das Gewissen von uns fordern könnte, sondern, was er von uns will. Wer nach seinem Gewissen fragt, ist schon auf Distanz zu Gott gegangen.

Damit gibt es keine Gewissensfrage, sondern nur eine Gottesfrage: Wo bist Du?

Gott fragt mich, wo ich bin, wo und wie ich mich positioniert habe, ob ich noch auf seinem Kurs bin, ob er noch auf mich bauen kann, mit mir rechnen kann.

Es ist die Beziehungsfrage, die er mir stellt: Wie stehst du zu mir?

Und genau an dieser Stelle kommt Psalm 8 ins Spiel:

2 HERR, unser Herrscher,
wie herrlich ist dein Name in allen Landen,
der du zeigst deine Hoheit am Himmel!
3 Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet
um deiner Feinde willen,
dass du vertilgest den Feind
und den Rachgierigen.
10 HERR, unser Herrscher,
wie herrlich ist dein Name in allen Landen!

Der Psalmbeter lässt hier keinerlei Zweifel an seiner Loyalität zu Gott, zum Herrscher, der allein Herrscher ist.

Und dann kommt eine klare Ansage gegen alles, was wir heute Fakenews nennen, nämlich, dass aus dem Munde der Kinder und Säuglinge eine Macht entsteht, die den Feind vertilgt und ebenso den Rachgierigen. Sprich Kindermund tut Wahrheit kund. Diese ehrliche, ungefilterte aus dem tiefsten Herzen kommende Wahrheit ist das Ende aller Gewaltspiralen. Solche Wahrheit lässt sich nicht aufhalten, lässt sich nicht verbieten.

Solche Wahrheit erwartet Gott von uns. Und diese Wahrheit finden wir nicht mit unserem Gewissen, sondern einzig und allein aus unserem Glauben an den dreieinen Gott heraus. Und solcher Glaube lässt uns handeln. Solcher Glaube lässt uns unsere Gewissensverstecke und Gewissensgefängnisse verlassen und fragen was Gott von uns erwartet.

Frieden und Freiheit beginnen nämlich in dem Moment, wo wir auf Gottes Frage: „Wo bist Du?“ Mit einem einfachen, klaren und deutlichen: „Hier!“ antworten. In diesem Hier klingt dann genau das durch, was Jesus dem Versucher ins Gesicht gesprochen hat:

„Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“

Und dann wird es genauso geschehen, wie es bei Matthäus berichtet wird:

Da verließ ihn der Teufel.

Nebenbei gesagt: Martin Luther brachte es 1521 auf dem Reichstag zu Worms auf den Punkt, als ihm die Frage „Wo bist du?“ gestellt wurde:

„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Amen.“

Man beachte bitte das „Amen“ in seiner Antwort. Das heißt nämlich nichts anderes als „So soll es sein!“ Es ist wie ein dreifaches Ausrufezeichen hinter seinem klaren Bekenntnis.

Liebe Regina, Du wirst nun als Vikarin in eine Zeit hineingestellt, die kaum herausfordernder sein könnte als diese. Und wir wissen nicht, was uns noch alles erwarten wird. Ich weiß aber, dass Du Dich von dem gleichen Kollegen wie ich beraten und coachen lässt, einem großartigen Inspirator: Dietrich Bonhoeffer. Das ist eine sehr gute Entscheidung, zumal man von ihm wunderbar lernen kann, sich weder von der Gesellschaft oder Politik vereinnahmen zu lassen noch sich von der Kirche verbiegen zu lassen oder an ihr zu zerbrechen. Beides wirst Du brauchen. In „Schöpfung und Fall“ bringt es Bonhoeffer wunderbar auf den Punkt:

…bekenne dich zu dir selbst, verliere dich nicht in frommer Verzweiflung, sei du selbst…
(Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, DBW 3, 1989, S. 120)

Und so wünsche ich Dir, dass Du immer weißt, was Du antworten wirst, wenn Gott dich fragt: Regina, wo bist Du?

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am Sonntag Invocavit, 6. März 2022 in der Johanneskirche zu Partenkirchen anlässlich der Einführung der Vikarin Regina Ober über Geneses 3,9

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