Liebe Geschwister, es gibt verschiedene Arten, an einen Bibeltext heranzugehen, sich ihm zu nähern. Insbesondere, wenn es ein so zentraler Text wie der heutige ist. Die Gethsemane-Episode ist einer der Höhepunkte der Passionsgeschichte, der Leidenszeit, der letzten Tage Jesu ist.
Dieser Text ist ein theologisches Schwergewicht, den ich erst einmal nach allen Regeln der exegetischen Kunst aufschließen, deuten, interpretieren, auslegen könnte.
Und dann gibt es aber auch noch die andere Möglichkeit: Dies nämlich ganz aus der Situation heraus zu machen, in der einem dieser Text begegnet – oder um es genauer zu sagen – in der man selbst dem Text begegnet und was dann diese Bibelgeschichte in einem selbst in Bewegung setzt.
Und diese Erzählung hat bei mir selbst sehr viel in Bewegung gesetzt, mich theologisch, emotional und spirituell berührt. So sind es in diesen Tagen zwei Ereignisse, die meine Perspektive, meine Wahrnehmung dieser Episode im Garten von Gethsemane geprägt haben und zwei sehr starke Bilder bei mir auslösen.
Zum einen ist da ein Land, das darum kämpft, dass der Kelch des besiegt Werdens, des annektiert Werdens, des bis ins Letzte hinein zerstört Werdens an ihm vorübergeht.
Und zum anderen habe ich das Bild einer Kirche, die um ihre Relevanz bei den Menschen ringt, diese aber nicht mehr erreicht, so dass sie von ihr abwenden.
So sind es der Krieg in der Ukraine und der Exodus aus der Evangelischen Kirche, ihr Gang in die zunehmende gesellschaftliche Irrelevanz, die gerade meinen Blick auf diese Geschichte prägen. Und so furchtbar es auch klingen mag, so haben beide Ereignisse für mich erschreckende Parallelen, die sich vielleicht nicht auf den ersten Blick erschließen lassen: Nämlich die Beschäftigung mit sich selbst, die mich blind macht für das, worauf es am Ende ankommt: Den Nächsten.
Die beiden Jünger, die Jesus mit sich in den Garten Gethsemane genommen hat, denen er am meisten vertraute, sind einfach eingeschlafen, während er mit seinem Schicksal, seiner Situation und mit Gott gerungen hat.
Also, was macht dieser Text mit mir? Was macht der Text mit Euch?
Er konfrontiert mich zum einen mit dem Gebet, dem leidenschaftlichen Gebet. Jesus suchte sich einen Ort, der totalen Ruhe und Konzentration und fiel dort nieder auf sein Angesicht. Ein Bild vollkommener Ergebenheit und sich Auslieferns an Gott. Schon allein diese Haltung beeindruckt mich. Wir stehen oder sitzen heute vor Gott, wenn wir beten. Aber so wie Jesus zu beten, verändert alles. Wer von uns, hat denn schon einmal so gebetet. Stellt Euch einfach vor, wir würden es heute bei unseren Gebeten in diesem Gottesdienst Jesus gleichtun und uns mit unserem Angesicht auf den Boden dieser Kirche legen. Schon allein bei dem Gedanken spüre ich, wie ich ganz anders atme.
Ich habe das während meiner Vorbereitung auf diese Predigt getan, mich auf den Boden meines Zimmers gelegt und gebetet. Und mit einem Male fühlte ich mich total verletzlich, ausgeliefert, so gar nicht standhaft wie beim Beten im Stehen. Und zugleich hatte ich das Gefühl, mich mehr in seine Hände begeben zu haben als sonst.
Heute Nacht habe ich von jemandem aus unserer Gemeinde eine WhatsApp erhalten, in der es auch um die Kraft des Betens geht. Es handelt sich um eine Nachricht, die derjenige bekommen hat, verbunden mit der Bitte, diese weiterzuleiten. Diese Nachricht kam aus Kiew. Ich zitiere daraus:
Die kommende Nacht und das Morgen sind entscheidend, es steht alles auf dem Spiel, woran die gesamte zivilisierte Welt bisher geglaubt und aufgebaut hat. Mit Tränen in den Augen bitten wir Sie, unabhängig von der Zeitzone, all diese Zeit mit Fasten und Beten zu Gott zu verbringen. Bete zum Herrn Jesus, dass er uns vor den verrückten Horden beschütze, die den Glauben und die Wahrheit Gottes verspotten wollen.
Bitte senden Sie diese Nachricht an alle Ihre Freunde, Familie und Freunde in Europa, Afrika, Asien, Amerika, Australien und auf der ganzen Welt!
Das Gebet ist stärker als der stärkste Feind
Wir werden gebeten, zu wachen, zu fasten und zu beten, weil das Gebet stärker ist als der stärkste Feind.
Und worum bittet Jesus seinen Vater?
Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber;
doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.
Jesus bittet zum einen, dass der Kelch des Leidens an ihm vorübergeht, aber eben nicht so, wie er es will, sondern wie Gott es will. Er liefert sich also wirklich ganz und gar dem Willen Gottes aus.
Sich dem Willen Gottes auszuliefern, macht mich aber nicht willenlos, sondern erfüllt mich mit dem Willen Gottes und genau das lässt mich standhaft werden.
Wir alle kennen von Dietrich Bonhoeffer das Gedicht „Von guten Mächten„. In der dritten Strophe klingt gewissermaßen dieser Gethsemane-Moment an:
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.
Genau das, diese Haltung verleiht mir die Stärke und das Stehvermögen, das ich brauche, um in diesem Leben bestehen zu können und Orientierung zu haben. Das ist auch der Grund, weshalb eines meiner absoluten Lieblingslieder das ist, was wir nach der Predigt singen werden: Wer nur den lieben Gott lässt walten. In diesem Leben geht es darum, sich dem Walten Gottes anzuvertrauen, um das Leben gut zu bestehen. Und genau das habe ich so oft in meinem Leben erleben dürfen, weil es mich auch offen gemacht hat, den Willen Gottes hinter seinem Handeln an mir zu erkennen und Stück für Stück seinen Plan für mein Leben zu begreifen und so, statt zu hadern zu bekennen.
Wir hoffen und beten doch alle, dass der Kelch, der unvermeidbare an uns vorübergeht. Und doch dürfen, können, müssen wir mit und von Jesus lernen, diesen Kelch dann auch anzunehmen.
Denn dieser Kelch ist das Unausweichliche in unserem Leben. Er ist das Unausweichliche, vor das Gott seinen Sohn gestellt hat und so auch uns. Es geht um das Annehmen des Kelches.
Und dieses für Jesus Unausweichliche war die Last der Sünde, die wir egoistischen, egozentrierten, auf unseren eigenen Vorteil bedachten, Geiz-ist-geil-Menschen aufgehäuft haben. Und diese unsere Last der Sünde hat Jesus durch seinen Tod von uns genommen.
Aber haben wir uns seit jener Nacht im Garten Gethsemane eines Besseren besonnen? – Nein!
Bekennen wir? – Nein! Wir verwalten Kirche, statt Kirche mit der Fröhlichkeit unseres Glaubens zu erfüllen und Menschen mit unserer BeGEISTerung anzustecken. Wir schrecken die Menschen so sehr ab, dass sie uns nicht mehr brauchen, weil sie uns als unbrauchbar empfinden.
So schreibt Lucas Wiegelmann am 9. März in der Welt in seinem Kommentar zu den Kirchenaustritten in der Evangelischen Kirche:
Vor allem aber ist und bleibt es die große Schwäche der Kirchen und vor allem der evangelischen Kirche, dass sie sich über das eigene Selbstverständnis, die eigene Daseinsberechtigung immer mehr im Unklaren sind. Warum sollte man noch Kirchenmitglied sein?
Kirchenaustritte: EKD sendet das fatale Signal, es gebe Wichtigeres – WELT
Tja, wir hätten viel seit Gethsemane lernen können und genau deshalb gilt heute noch immer das, was 1945 der Rat der Evangelischen Kirche in seiner Stuttgarter Schulderklärung festgehalten hat:
…wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Wir haben dieses Beten, so ist es mein Gefühl und meine Wahrnehmung, wie die beiden Jünger, im Garten Gethsemane verschlafen.
Das macht mich unendlich traurig und am Ende auch wütend. Wir machen uns mehr Gedanken um Gebäude als um Menschen. Aber ohne Menschen brauchen wir auch keine Gebäude.
Dass Jesus gerungen und mit seiner Situation gekämpft hat, hat die beiden Jünger nicht wachbleiben lassen. Sie haben Jesus in der menschlichsten Situation seines Lebens, seiner Angst vor dem gewaltsamen Tod alleingelassen.
Nie hat mich diese Gethsemane-Episode so sehr berührt wie heute. So wie wir die Zukunft unserer Kirche gewissermaßen verschlafen haben, weil es uns immer wieder an der Kraft gefehlt hat, aus dem schon immer so aufzubrechen. Und genau das ist es, was wir jetzt durch den Krieg in der Ukraine erkennen müssen. Der Kelch steht unübersehbar, unausweichlich vor uns. Lange genug haben wir diesen Kelch vor uns hergeschoben, in der Hoffnung, ihn nie trinken zu müssen, bis es nun zu spät war. Jetzt müssen wir ihn in einem Zug trinken und nicht mehr in einzelnen Schlucken.
Und so ist für mich einer der zentralen Verse in dieser Episode das, was Jesus zu Petrus sprach:
Wachet und betet,
dass ihr nicht in Anfechtung fallt!
Der Geist ist willig;
aber das Fleisch ist schwach.
Matthäus 26,41
Jesus verweist hier auf unsere beiden zentralen Schwachstellen: Das schwache Fleisch und das nicht ausreichende Wachen und Beten. Und genau darin liegt die zentrale Gefahr. Nebenbei gesagt: Das gilt nicht nur für die Kirche oder Christenmenschen, sondern für alle. Wir wollten billiges Öl, Gas und Kohle u.v.a.m. Damit haben wir uns in falsche Abhängigkeit bringen lassen, wofür wir nun den Preis bezahlen. Dass das so ist, ist nicht die alleinige Schuld unserer Politiker und Politikerinnen, sondern auch unsere. Haben wir sie doch gewählt, weil sie uns versprochen haben, nicht wehzutun, uns in unserer Bequemlichkeit zu stören. Gewissermaßen ein Vertrag auf Gegenseitigkeit.
Und wer jetzt nur an sich denkt, sollte sich bewusst machen, dass im Falle eines Falles am Ende dann auch keiner an ihn denkt. Der Krieg betrifft auch uns, denn auch wir befinden uns durch die Sanktionen im Grunde genommen im Krieg, in dem die Sanktion die Waffe ist. Und das hat Konsequenzen zur Folge. Es zeigt sich nun auch in der zweiten Plage wieder, dass wie schon aus der ersten Plage – sprich Corona – nicht die konsequenten Schlüsse gezogen werden, um das Risiko weiterer Plagen zu minimieren. Nebenbei gesagt, der Pharao im Alten Ägypten musste ob seiner uneinsichtigen Sturheit zehn Plagen über sich und sein Volk ergehen lassen, weil er die Israeliten, die einen wesentlichen Teil seines Wohlstandes und seiner Bequemlichkeit produzierten, nicht ziehen lassen wollte. Am Ende wurde seine Sturheit von seinem Volk bezahlt, weil der Preis von Plage zu Plage höher wurde.
Also, Frieren für den Frieden und die Freiheit ist im Grundsatz nicht verkehrt. Unsere Gesellschaft hat ihren Wohlstand und ihre Bequemlichkeit stets zu Lasten anderer bezogen und gelebt. Die Preise, die billigen Preise, die wir für vieles bezahlt haben, erweisen sich heute als Blutzoll. Auch wenn es uns allen verdammt wehtun wird, ist jetzt der Moment einer Vollbremsung gekommen, weil es kein weiter so mehr geben kann. Es ist die Zeit gekommen, in der wir erkennen dürfen, dass es Frieden und Freiheit nicht im Sonderangebot oder Schlussverkauf gibt, sondern nur zu einem ehrlichen Friedenspreis. Und je länger wir warten, desto teurer wird es.
Wir zahlen heute die Zeche für unsere Bequemlichkeit, unser schwaches Fleisch, unser Schlafen. Putin ist nur deshalb so stark, weil wir unsere Werte verraten und verkauft haben, weil wir in Anfechtung gefallen sind.
Dann kam Jesus zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. 46 Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.
Es gilt jetzt, aufzustehen und zu handeln: Mutiger zu bekennen, treuer zu beten, fröhlicher zu glauben und brennender zu lieben.
Amen.
Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am Sonntag Reminiszere, am 13. März 2022 in der Friedenskirche Burgrain über Matthäus 26, 26-26, Perikopenreihe IV
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