Pfr. Martin Dubberke
Hirten der Weihnachtskrippe der Königin Luise-Gedächtniskirche (Bild: Martin Dubberke)

Gott zuerst

Liebe Heiligabend-Gemeinde,

sind wir das Volk, das im Finstern wandelt? Wer ist das Volk? Sind das vielleicht die anderen? Sind das gar nicht wir, die in einer Sphäre des Dunklen, Unfreundlichen, Düsteren, Verdrossenen, Rückständigen wandeln? – All diese Bedeutungen hat das Wort „finster“ in der deutschen Sprache. – Oder sind es doch wir?

Es tut mir leid, dass ich Sie, dass ich Euch jetzt erst einmal enttäuschen muss. Goldene Lichter am Weihnachtsbaum, romantische Gefühle. Und es hat heute sogar ein wenig geschneit. Und jetzt kommt der Dubberke mit seiner Heiligabend-Predigt und macht die ganze gute Stimmung kaputt.

Tut mir leid, aber es steht nun mal dieser Jesaja-Text auf dem Predigtplan für den Heiligen Abend und der Text hat es ganz schön in sich. Der ist nämlich auf seine Weise echt harte Kost.

Man muss nämlich wissen, dass die Verhältnisse, in die Jesaja seine Worte hinein gesprochen hat ungefähr so waren, wie die, die wir heute tagtäglich in der Zeitung lesen oder in den Fernsehnachrichten sehen und hören können.

Es waren damals – wir reden so von der Zeit um 732-734 vor Christus – insgesamt drei Großmächte dabei, sich die Welt untereinander aufzuteilen und einander abzujagen. Es ging wie immer um Macht, um Vormacht. Assyrien, Ägypten und das Babylonische Reich waren die drei. Das waren – nur um es ein wenig fassbarer zu machen – gewissermaßen die USA, Russland – und wen nehmen wir noch dazu – ach, ja, die Türkei jener Zeit. Ungefähr so müssen Sie sich das vorstellen. Und mittendrin als Spielball der Mächte das kleine Israel, das sich mal auf die eine und mal auf die andere dieser Mächte stützte, wodurch sich das Land mit der Zeit in immer mehr außenpolitische Probleme verstrickte, zum Spielball, zum Schau- und Kampfplatz diverser politischer Auseinandersetzungen wurde und schließlich seine Unabhängigkeit verlor, weil es nicht auf Gott vertraut hatte. Sich auf den Falschen zu verlassen oder dem Falschen zu vertrauen, das kommt uns ja auch irgendwie bekannt vor. Sie sehen, so ein Text, der aus einer politischen Situation stammt, die rund 2750 Jahre zurückliegt, besitzt immer noch – bedauerlicherweise – tagespolitische Aktualität.

Aber lasst mich noch einmal auf den Begriff der Finsternis zurückkommen. Das ist nämlich auch noch einmal sehr spannend und wird uns auf dem Weg zum Happy End – und das ist versprochene Sache – hilfreich sein.

Also, Jesaja sprach ja nicht Deutsch, sondern – wen wundert’s – Hebräisch. Und da steht an der Stelle, die wir mit „im Finstern“ übersetzen „SCHEOL“. Das ist aber nicht nur die Finsternis, sondern SCHEOL ist die Unterwelt. Also, das Volk, das in der Finsternis wandelt, bewegt sich also im Prinzip schon im Bereich der Unterwelt. Und das erzählt uns sehr viel über die Situation, in der sich die Menschen, an die sich Jesaja mit seinen Worten gerichtet hat, befunden haben. Das Alte Testament kann nämlich nicht nur Menschen, die dem Tode nahe sind, sagen, dass sie sich bereits in der SCHEOL, der Unterwelt, befinden, sondern auch Menschen, die in einer besonderen Weise von Feinden bedroht werden.

Ist doch schon ein Wahnsinn, wie ein einziges Wort eine politische, gesellschaftliche Situation beschreiben kann. So, und nun muss ich armer Pfarrer, Heiligabend über so einen Text predigen, wo ich Ihnen und Euch doch viel lieber etwas über das süße, kleine Jesulein in der Krippe erzählen würde. Aber mal sehen.  Vielleicht gelingt es mir ja noch den Bogen dahin zu spannen.

Doch zuvor müssen wir uns leider noch der Weihnachtsnuss widmen, die uns der Prophet Jesaja hier zu knacken aufgibt. Wenn wir uns über so einen Text heute Gedanken machen, müssen wir uns natürlich die Frage stellen, ob wir selbst nicht auch ein Volk oder Teil des Volkes sind, das in der Unterwelt wandelt. Bewegen wir uns mit der Art, wie wir wählen, wie wir uns in unserer Gesellschaft verhalten, denken, reden, wie unsere Könige – pardon, Präsidenten und Kanzler – sich verhalten nicht auch im Bereich der Todeszone, weil wir wie damals das alte Israel nicht genug Gott vertrauen?

Sind wir also am Ende angelangt? Kommt jetzt nur noch die Unterwelt?

Nein, das muss sie nicht! Denn – und hier folgt ein großer, dicker Doppelpunkt:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Jesaja sagt hier nicht, dass die Befreiung schon geschehen ist. Jesaja richtet sich hier an Menschen, die noch nicht aus der Todeszone, der SCHEOL, herausgelangt sind, sondern sich noch mittendrin befinden. Aber, wer das große Licht sieht, darf auch im Bereich des Todes der schützenden und bewahrenden Gegenwart Gottes gewiss sein. Und genau dieses Licht lässt uns in der Finsternis den Weg finden. Es bietet Orientierung, so wie auch der Morgenstern den Weisen den Weg zur Krippe Jesu gewiesen hat.

Der Blick aus der Finsternis heraus zum großen Licht lenkt den Blick zur Epistellesung von heute, also dem Brief des Paulus an die Galater. Und hier geht es mir vor allem um diese beiden Verse:

Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.
Galater 4, 6-7

Wir sind Erben durch Gott. Der Geist Jesu ist in unseren Herzen.

Mein lieber Vater!

Wie gehen wir denn mit diesem Erbe um?

Haben wir es vergessen?

Spielt es keine Rolle mehr?

Was erwarten wir, Sie, Ihr denn, wenn Ihr heute zu diesem Gottesdienst kommt? Romantik? Goldenes Licht? Warme Gefühle oder eine Botschaft, die Ihr in Euren Tag, Euer Leben außerhalb der Kirchenmauern mitnehmen und leben könnt? Eine Botschaft, die Euch noch morgen bewegt, einen Auftrag, der Euch aus dieser Botschaft heraus bis zur Christvesper 2019 trägt und jeden Tag aufs Neue von Euch erfüllt wird?

Vielleicht sollten wir uns mal dieses Erbe genauer anschauen. Was ist denn dieses Erbe überhaupt?

Zum Beispiel, wenn ich Menschen in Not begegne, begegne ich Gott, weil Jesus gesagt hat:

Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Matthäus 25, 40

So sind z.B. Krankenhäuser eine christliche Erfindung. Sie sind aus den Klöstern heraus entstanden.

Auch das globale Denken, die globale Verantwortung, also die Internationalität ist eine christliche Erfindung, denn wir glauben an den einen Gott, der die ganze Welt mit allen Menschen erschaffen hat. Und er hat alle Menschen und damit alle Menschen aller Völker nach seinem Bilde geschaffen, so dass wir im anderen, im Fremden, im Kranken, im Gebrechlichen, im Kind, im Alten immer einen Teil der Vielfalt Gottes erkennen können.

Und das ist jeden Tag eine neue Herausforderung. Religion ist eben – so leid es mir tut – kein romantisches Gefühl, sondern – wie Dietrich Bonhoeffer mal gesagt hat – harte Arbeit.

Also, wie lange trägt die Botschaft, die Ihr heute, hier im Lichte der Krippe hört?

Im Lichte der Krippe fällt das Licht auf diese Botschaft, mitten zur halben Nacht, in der Finsternis dieser Welt. Mitten zu halben Nacht haben wir die erste Hälfte der Finsternis hinter uns gebracht. Es geht nun zum großen Licht. Wer die Botschaft aus dieser Krippe herausgehört, gesehen, empfunden, gefühlt hat, befindet sich nicht mehr in der Finsternis, sondern wandelt und handelt im Lichte der Erkenntnis des Willens Gottes, der zu unserem Wollen und Tun wird.

Wenn jeder von Euch aus diesem Gottesdienst diese Botschaft, dieses Erbe als kleines Licht in die Welt da draußen trägt, dann ist viel gewonnen. Denn die Zahl derer da draußen, die wollen, dass es wieder richtig dunkel, wieder finster wird, wird leider jeden Tag ein wenig größer.

Wenn jeder von uns begreift, dass es kein Amerika first, kein Polen first, kein Russland first, kein Österreich zuerst und allem voran kein Deutschland zuerst geben kann, sondern nur ein Gott zuerst, dann hat sich der Besuch des Heiligabendgottesdienstes, der Christvesper gelohnt, dann sehen wir uns im kommenden Jahr wieder, um neues Licht zu tanken.

Dann werden wir mit diesem Licht in der Lage sein, zu erkennen, wo man uns Dunkel unter dem Deckmantel des christlichen Abendlandes als Licht verkaufen will.

Fremdenfeindlichkeit ist unchristlich, weil ich auch im Fremden Jesus Christus begegne, genau dem Jesus, dessen Geburt wir heute feiern.

Toleranz ist auch so ein Erbe. Ja, auch die Toleranz ist christlich. Das Lateinische „tolerantia“ heißt „Lasten tragen“. Das bedeutet für uns Christen, dass wir nicht nur die Lasten des anderen tragen, sondern auch Menschen anderer Meinung ertragen müssen. Auch das haben wir von Jesus gelernt und können es noch immer lernen.

Denken wir nur an die vielen Streitgespräche Jesu mit den Pharisäern. Jesus hat keinem von ihnen, die da so gänzlich anderer Meinung waren, den Kopf eingeschlagen, weil er wusste, dass das nichts ändern würde, sondern ganz im Gegenteil. Er wusste, dass er etwas in ihren Köpfen und Herzen ändern musste.

Wollten die Pharisäer mit ihrer Auslegung des Gesetzes, der Schrift, die Menschen in ihrem Sinne lenken und beschränken, hat Jesus den Pharisäern in den Streitgesprächen, die eigentlich Lehrstunden waren, mit dem Geist des Wortes, dem Geist der Schrift vertraut gemacht, sie immer wieder darauf verwiesen, dass die Schrift Freiheit bedeutet, Freiheit und Weite des Herzens und der Liebe. Jesus hat in jedes Dunkel Licht gebracht.

Tja, so sieht unser Erbe aus. Stellen wir uns doch nur einmal in unseren Familien vor, dass jemand, wenn der Weihnachtsbraten auf den Tisch kommt, sagt: „Alles für mich, die Knochen für euch!“ – Da käme doch echte Freude beim Rest der Familie auf, oder? Wenn der Egoismus die Welt regiert, unser Leben regiert, wenn wir selbst so denken und handeln, brauchen wir kein Weihnachten mehr, dann können wir Weihnachten abschaffen, weil wir sonst die Botschaft der Heiligen Nacht pervertieren. Dann könnten wir jetzt unsere Türen öffnen und ich würde Euch noch einen schönen Abend und sonst noch ein schönes Leben wünschen und danach bei Gott den religiösen Insolvenzantrag stellen.

Ich sehe schon, das gefällt Euch nicht.

Stimmt. Mir gefällt das auch nicht. Wir brauchen nämlich Weihnachten mehr denn je, damit uns und der Welt ein Licht aufgeht und wir miteinander kapieren, was es wirklich heißt:

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Der Nächste steht an erster Stelle dieses Gebotes und das ist kein Zufall.

Liebe deinen nächsten wie dich selbst. Das bedeutet, dass ich die Liebe, die ich mir selbst entgegenbringe, im gleichen Maße dem anderen, dem Nächsten entgegenbringe, ja, ihm schulde. Sprich: Jeder, der sich selbst first nimmt, muss im gleichen Maße auch den anderen, den Nächsten first nehmen, weil alles andere einem Leugnen Gottes gleichkäme.

Und genau das ist die friedensstiftende Botschaft dieser Heiligen Nacht. Das ist genau der Grund, weshalb Jesus der Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst ist. Und damit bin ich wieder bei Jesaja. Wir selbst sind entlastet von der Bürde der Herrschaft, weil Jesus allein die Herrschaft auf seiner Schulter trägt; und er Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst ist; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende.

Friede kommt nicht von Politikern, sondern von Gott und das ist unsere Hoffnung zu Weihnachten. Und so ist Weihnachten also weniger ein Happy End, sondern eher ein Happy Beginning, ein fröhlicher Anfang.

In diesem Sinne sage ich Amen! Und das heißt: So soll es sein.

Predigt zur Christvesper am 24. Dezember 2018 in der Königin Luise Gedächtniskirche über Jesaja 9, 1-6 und Galater 4, 4-7