Pfr. Martin Dubberke

Die Zeichen sind schon längst da

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!

Liebe Gemeinde, diese Worte aus dem Römerbrief können wie eine zweite Überschrift über dem Predigttext aus Jesaja stehen. Dieser Vers scheint mir auch gleichzeitig wie der Schlüssel zum Verständnis des Predigttextes.

Aber hören wir erst einmal den Predigttext aus Jesaja 6, 1-13:

1 In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. 2 Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie.3 Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! 4 Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch. 5 Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. 6 Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, 7 und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. 8 Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich! 9 Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! 10 Verstocke das Herz dieses Volks und lass ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen. 11 Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt. 12 Denn der HERR wird die Menschen weit wegtun, sodass das Land sehr verlassen sein wird. 13 Auch wenn nur der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals verheert werden, doch wie bei einer Eiche und Linde, von denen beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein.

Das ist doch wie im Film. Es raucht, Seraphim fliegen durch die Luft, die Schwellen des Tempels beben von ihren Stimmen. Ein hoher und erhabener Thron, der Saum des göttlichen Gewands füllt den ganzen Tempel. Das ist ganz großes Kino, das man heute in Drei-D machen würde.

Aber fällt Ihnen was auf?

Jesaja, der diese Situation so präzise beschreibt, lässt etwas aus. Wissen Sie was?

Nein? – OK, dann schauen wir uns doch erst einmal die Seraphim an. Jesaja beschreibt sie als Flügelwesen, die durch den Raum fliegen. Sie haben insgesamt sechs Flügel. Mit zweien verdecken sie ihr Gesicht, mit zwei weiteren die Füße und mit den letzten beiden fliegen sie.

Haben Sie sich mal die Frage gestellt, warum das so ist?Warum verdecken Sie ihr Gesicht? Soll man sie nicht erkennen können? Nein, sie tun es, weil Sie nicht sehen dürfen. Sie dürfen Gottes Angesicht nicht schauen. Denn wer das Angesicht Gottes sieht, der muss sterben. Und jetzt wird ihnen klar, was Jesaja in seiner Beschreibung ausgelassen hat: Das Antlitz Gottes. Er beschreibt Gott als so unermesslich groß, dass allein der Saum seines Gewandes den ganzen Tempel füllt und damit den Blick auf sein Antlitz verbirgt.Aber warum nun müssen die Seraphim die Füße verbergen? Können Sie etwa besser fliegen, wenn sie diese verbergen? Sind die aerodynamischen Verhältnisse besser, wenn die Füße verdeckt sind?

Was werden Sie jetzt sagen, wenn ich Ihnen verrate, dass die Füße hier gar nicht die Füße sind, sondern der Genitalbereich?

Ja, sie dürfen mir das ruhig glauben. Mit Füßen hat man früher den Genitalbereich umschrieben. Wenn im Alten Testament von den Füßen die Rede ist, ist vom Genitalbereich, von der Scham die Rede.

“Im Verhüllen der Scham spricht sich die uralte Erfahrung des Zusammenhangs von Geschlecht und Schuldgefühl aus.” (Kaiser)

Und damit befinden wir uns mitten im Thema. Der Rauch, mit dem sich der Tempel füllt, stammt vom Altar, wo auf glühenden Kohlen wohl Weihrauch verbrannt wird. Weihrauch wird eine reinigende und auch heilende Wirkung zugeschrieben. Und Feuer hat zum einen eine vernichtende aber auch eine reinigende und lebensspendende Wirkung. Und nicht zuletzt steht die Flamme auch für den Heiligen Geist.

Wir befinden uns also an einem reinen Ort, an dem darauf geachtet wird, dass keine Verfehlung, keine Schuld entsteht und Achtung eine Rolle spielt.In diesen Raum hinein kam Jesaja im Todesjahr des König Usija. Und sagt tief beeindruckt und erschrocken: “Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.”

Ich will jetzt nicht darüber mutmaßen, ob er das Antlitz Gottes geschaut hat. Aber ich glaube er war bei diesem Anblick der Herrlichkeit, der sich ihm bot, so eingeschüchtert, dass er sich als das fühlte, was er ist. Ein kleiner Mensch, der weiß, dass er fehlbar ist und aus einem Volk der Fehlbaren stammt.Ich weiß nicht, wie es mir ginge, wenn ich in unsere kleine Silas-Kirche käme, der Raum vom Saume des göttlichen Gewands gefüllt wäre, Rauch in der Luft läge und dann auch noch Seraphim durch die Luft flögen. Ich glaube, Gottesfurcht bekäme für mich eine ganz neue und sehr fühlbare Bedeutung.

Also, Jesaja war sich sofort bewusst, dass er unreine Lippen hatte, also Schuld auf sich trug. Er wusste, dass er nicht immer konform mit Gottes Regeln gelebt hat. Und noch schlimmer. Im antiken Denken war es selbstverständlich, dass das Individuum die Schuld des Kollektivs mitträgt und sich dafür auch mitverantwortlich weiß. (Wildenberger, Jesaja 1-12, S. 251). Ganz anders als es heute in unserer individualistischen Gesellschaft der Fall ist. Ich weiß gar nicht, ob man überhaupt noch von einer Gesellschaft reden kann. Weil Gesellschaft ja etwas Kollektives ist, etwas gemeinschaftliches. Ich bin kein idealistischer Sozialträumer, aber ich sehe, wie sehr sich in den vergangenen zwanzig Jahren unsere sogenannte Gesellschaft verändert hat. Immer mehr Menschen machen die gesellschaftlichen Verhältnisse für ihre eigenen Verhältnisse verantwortlich, sehen sich als ein Opfer der Gesellschaft. Ich erinnere mich hier an ganz viele Gesprächssituationen in meinen Beratungen. Hier habe ich in den vergangenen zwanzig Jahren mehr und mehr festgestellt, dass die Menschen die Ursache für die Situation, in der sie sich befinden, mehr und mehr in der Gesellschaft suchen und zu finden glauben, als bei sich selbst. Wer in der Schule nicht mitarbeitet, wird keinen angemessenen Schulabschluss machen. Wer seine Ausbildung abbricht oder gar nicht erst in eine Ausbildung geht, hat deutlich geringere Chancen und Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten. Ursachen dafür gibt es viele, aber die liegen in den meisten Fällen in den eigenen vier Wänden. Sie liegen meist in den eigenen Familien, weil schon die Eltern ihr Leben nicht in den Griff genommen haben und so eine fatalistische Lebensauffassung an die nächste Generation weiterreichen.

Wir erinnern uns: Ich bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen. (5. Mose 5, 9)

Wenn ich nicht den Irrweg verlasse und mich wieder auf den Weg Gottes begebe, werden auch meine Kinder und Kindeskinder und Kindeskindeskinder mit hoher Wahrscheinlichkeit auf diesem Wege bleiben.Und wenn ich dann mit den Männern, die ich berate, mir mal ihre Familiengeschichte anschaue, dann fühle ich mich darin bestätigt. Denn es sind Geschichten der Wiederholung. So wie der Großvater, so der Vater, so der Sohn und wenn dieser nicht aussteigt auch die kommende Generation.

Und es ist für alle schwierig und fast unmöglich, die Ursache bei sich selbst zu finden, weil das verflucht schmerzhaft ist, man sich eingestehen muss, dass nicht die Gesellschaft oder die Politik an der eigenen Lage schuld ist, sondern man selbst. Und mit dem Erkennen der Schuld ist auch die Übernahme der Verantwortung verbunden. Das heißt, ich muss auch lernen, Verantwortung für mein Leben, mein Handeln zu übernehmen. Die Verantwortung über mich trägt nicht irgendeine Gesellschaft, sondern einzig und allein ich selbst trage sie.Und damit sind wir heute weit von dem entfernt, was Jesaja im Anblick Gottes ausgerufen hat: “Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen.” Ihm war bewusst, dass er die Schuld des Kollektivs mitträgt und sich dafür mitverantwortlich weiß.Wir hingegen sind ganz stark auf dem Weg in eine Gesellschaft, wo jeder die Gesellschaft, aber nicht sich selbst verantwortlich macht oder gar in die Verantwortung nimmt. Man ist nicht mehr Teil des Kollektivs, sondern ein Opfer des Kollektivs. Und ein Opfer trägt weder Schuld noch Verantwortung.

Jesaja aber ist da – wie gesagt – anders. Und da fliegt einer der Seraphim auf ihn zu und hat eine glühende Kohle vom Altar in der Hand, mit der er die Lippen Jesajas berührte, so dass er frei von Sünde wurde. Nachdem Jesaja entsühnt worden war, konnte er als Werkzeug Gottes dienen.

Interessant ist nun das folgende. Gott fragt, wen er senden soll. Er fragt und befiehlt nicht, weil er die freie Entscheidung Jesajas haben will. Er soll sich nicht zum Dienst gezwungen fühlen. Wer sich nicht gezwungen fühlt, bringt eine höhere Motivation mit sich. Und wer sich entscheidet, der bekennt sich. Und in diesem Falle bekennt er sich zu Gott.Aber nun kommen wir zum Schwierigsten, was der Predigttext zu bieten hat: Die Verstockung: “Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und versteht’s nicht; sehet und merket’s nicht.”

Eigentlich erwartet man doch von einem Propheten etwas anderes. Er soll die Herzen der Menschen erreichen und nicht sie verstocken und verhärten. Die Situation soll sich zum Guten ändern.Gott kündigt ihm die Verstockung des Volkes an, damit der Prophet an seinem Auftrag nicht irre wird, denn sein Erfolg wird in der zunehmenden Verhärtung liegen. Er treibt gewissermaßen die Reife Israels zum Gericht voran. Gott weiß um die Trägheit des Menschen, wenn es um Veränderungen geht. Jesaja dient ihm gewissermaßen als Beschleuniger der Eskalation, weil Gott weiß, dass es anders nicht gehen wird. Das Volk wird angesichts der Wahrheit immer trotziger reagieren. Nach dem Motto: Jetzt erst recht! Hat sich der alte Gott so lange nicht gezeigt, dann wird er sich jetzt auch nicht sehen lassen. Das sind doch alles nur hohle Drohungen. Wir ziehen hier unser Ding durch.

Ist doch irre. Da entsteht plötzlich ein ganz seltsames Wir-Gefühl. Und genau dieses Wir-Gefühl ist fatal, weil es geradezu auf die Katastrophe zusteuert. Eben habe ich noch gesagt, dass jeder die Gesellschaft für seine Situation verantwortlich macht und sich als Opfer der Gesellschaft sieht. Der Gesellschaftsvertrag wird hier gewissermaßen aufgekündigt. Und mit einem Mal entsteht eine zweite Gesellschaft, die sich noch nicht als Gesellschaft erkennt, weil der einzelne nur um sich selbst herum kreist. Aber Stück für Stück – und so war es dann auch bei Jesaja – wird daraus ein neues Wir der Verantwortungslosen erwachsen und sobald sich diese als “Wir” erkennen, werden sie diejenigen, die sie für die Gesellschaft halten, angreifen. Erste Zeichen dafür gibt es schon. In Berlin wurden in diesem Jahr schon mehr als 160 Autos in Brand gesetzt. Die Zeichen sind schon längst da. Aber solange noch nicht das eigene Auto brennt, betrifft es nur die anderen aber nicht mich selbst.Gott plant einen sogenannten Cut, einen Schnitt, einen Neuanfang auf dem Gebiet Israels. Der Herr wird die Menschen weit weg tun. Eine interessante Formulierung. Er wird sie nicht töten, sondern wegtun. Es stehen also Deportationen an. Die Menschen werden, wenn sie nicht auf ihre Gesellschaft achten und sich als verantwortlicher Teil der Gesellschaft fühlen und handeln auch keine Gesellschaft mehr bleiben, sondern alles verlieren, die sozialen Verbindungen und auch das Land und den Besitz. Mit Ausnahme des Lebens, werden sie einen Totalverlust erleiden und in die Fremde kommen, und spüren, was es bedeutet, kein Teil einer Gesellschaft zu sein.

Das Land – das Heilige Land – wird verlassen sein. Niemand wird mehr sein, der das Land verunreinigen kann. Das Land wird verlassen aber heil sein.

Jesaja muss ausharren, bis der Zorn Gottes vorbei ist. Interessanterweise gibt es keinen Blick auf das Danach, sondern nur eine Andeutung:

Der letzte Rest eines Baumes, der bleibt, ist der Stumpf, aus dem Neues wachsen wird. Denn eines ist klar: Die Wurzel, das Fundament und der Boden, aus dem er seine Kraft zieht, ist heil, ja heilig. Und ein heiliger Same, wird ein solcher Stumpf sein.

Liebe Gemeinde, wir wissen aus dem Zeugnis der Heiligen Schrift und unserer Geschichte, was passieren kann, wenn wir uns nicht an die Gebote Gottes halten. Wenn wir uns in unsere vier Wände zurückziehen und den Glauben an den Dreieinigen Gott zur Privatsache machen, die wir nicht nach außen leben und tragen, sondern der Welt außerhalb unserer Wohnungs- und Kirchentüren vorenthalten, den gleichen Weg gehen werden, den uns Jesaja heute im Predigttext geschildert hat.

Lasst uns dieses also nie vergessen und uns nicht von der Einsichtslosigkeit der anderen und der Verhärtung der Herzen abschrecken. Sie sollten eher Einladung sein glühender zu glauben und diesen Glauben glühender zu leben.

Amen.