Pfr. Martin Dubberke
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Wem gehört meine Aufmerksamkeit?

Liebe Geschwister, ich habe vor zwei Jahren einen Freund verloren. Wir waren ziemlich genau dreißig Jahre miteinander befreundet. Wir lernten uns kennen, als die Mauer fiel und ich vom Westen Berlins in den Osten Berlin ging, um dort an der Humboldt-Universität zu studieren. Da gab es noch West-Berlin und die DDR. Beides lag in den letzten Zügen ihrer Existenz. Eigentlich auch ein spannendes Thema, um über das Verlorengehen nachzudenken. Aber ich bleibe bei meinem Freund. Er studierte auch Theologie. Wir waren dann auch später in einem Vikariatsjahrgang. Und wir beide wurden nach dem Examen nicht von unserer Kirche gebraucht. Sie ließ uns gewissermaßen verloren gehen. Diese Erfahrung des Verlorengegebenwerdens hat uns alle geprägt. Es gab kein Interesse an uns und so gingen wir unsere Wege in alle Welt hinaus und ließen uns anders finden.

Vor etwas mehr als zwei Jahren nun, saßen mein Freund und ich bei mir um die Ecke bei einem Italiener und ich erzählte ihm, dass ich Berlin verlassen würde, um nun als Gemeindepfarrer zu arbeiten. Seine Reaktion erschrak mich: „Wie, Du willst Dich an dieses System verkaufen, dass Dir so übel mitgespielt hat? Du willst dich ausgerechnet an dieses untergehende System binden?“

Wir aßen unsere Pizzen auf. Ich brachte ihn zum Zug und als wir uns verabschiedeten, hatte ich das Gefühl, dass ich einen Freund verloren habe.

Ich schrieb ihm. Keine Reaktion. Ihn brieflich zu erreichen, ist die einzige Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Vor einem dreiviertel Jahr habe ich ihm noch einmal geschrieben und keine Antwort erhalten?

Ich habe einen Menschen verloren, mit dem ich vieles in meinem Leben geteilt habe. Oder hat er mich verloren?

Unser Leben ist voll von solchen Geschichten über das Verlorengehen. Und man kann so mancherlei verlieren. Z.B. Geld, Schafe, Gemeindemitglieder, die Unschuld, Freunde, Ehefrauen, den Job, die Heimat, die Freiheit, die Gesundheit und auch die Macht oder einfach die Geduld.

Was wäre, wenn ich vor dem Gottesdienst jeder und jedem Mal einen Zettel und einen Stift in die Hand gegeben und gesagt hätte: Schreibe doch einfach mal alles auf, was Du in deinem Leben verloren hast. Und dann mache einen Haken hinter alles, was Du wiedergefunden hast. Und dann schreibe mal hinter alles, wie und warum des wiedergefunden oder nicht gefunden hast oder gar nicht erst gesucht hast. Auf diese Weise bekämen wir sehr schnell ein Profil von dem, was einem wichtig ist und was einem weniger wichtig ist, woran wir mehr oder weniger hängen. Und dann würde sich uns die Frage stellen, warum uns manches weniger wichtig ist, so dass wir mit dem Verlust gut leben können.

Und damit kommt etwas ganz Neues ins Spiel, nämlich die Unterscheidung von verloren haben und verloren geben.

Und genau darum geht es auch in den drei Geschichten bei Lukas. Die Frau, der ein Silbergroschen verloren gegangen ist, hat das ganze Haus umgedreht, um den Groschen wiederzufinden. Der gute Hirte hat die Herde zurückgelassen, um das eine verlorene Schaf zu finden.

Die beiden Gleichnisse haben auch zweitausend Jahre später nichts von ihrer Brisanz verloren, machen sie doch deutlich, dass alles, was verloren geht, weniger zurücklässt. Geht etwas oder jemand verloren, dann gehört man mit einem Male zu den Übrigebliebenen.

Wie Ihr alle sicherlich wisst, lese ich seit einem halben Jahr mit Menschen aus unserer Gemeinde und über unsere Gemeinde und Konfessionen hinaus Dietrich Bonhoeffers Buch „Gemeinsames Leben“. Und vergangenen Donnerstag spielte hier u.a. auch folgende Stelle eine Rolle:

„Es kommt in einer christlichen Gemeinschaft alles darauf an, dass jeder Einzelne ein unentbehrliches Glied einer Kette wird. Nur wo auch das kleinste Glied fest eingreift, ist die Kette unzerreißbar. Eine Gemeinschaft, die es zulässt, dass ungenutzte Glieder da sind, wird an diesen zugrunde gehen.“ (Bonhoeffer, Gemeinsames Leben / Das Gebetbuch der Bibel – Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) – Band 5, 2008, S. 80/81)

Das Schaf war genauso unentbehrlich wie der Groschen. Ohne das wiedergefundene Schaf und ohne den wiedergefundenen Groschen, hätte etwas gefehlt. Nicht umsonst sagt Jesus, dass es 100 Schafe und 10 Silbergroschen waren. Fehlt ein Schaf, fehlt ein Groschen, ist die Sache nicht mehr rund, nicht mehr vollkommen.

Jesus stellt damit auch uns – hier und heute – die gleiche Frage: Wie gehen wir damit um, wenn etwas, wenn jemand verloren geht?

Akzeptieren wir den Verlust? Ja oder nein? – Wenn ich mir noch einmal die Geschichte von meinem Freund anschaue, stellt sich mir die Frage, ob ich ihn überhaupt verloren habe oder ob nicht vielmehr er mich verloren hat. Das wäre dann ein wenig so, wie in der dritten Verlust-Geschichte. Denn die Geschichte vom verlorenen Sohn birgt noch einmal eine ganz andere Perspektive in sich als die Geschichten vom verlorenen Schaf und dem verlorenen Groschen. Denn der verlorene Sohn ist ja nicht nur dem Vater und dem Bruder verloren gegangen, sondern er ist auch sich selbst abhandengekommen.

Und damit stellt sich eine andere Frage: Kann ich jemanden suchen, der sich selbst abhandengekommen ist? Das ist eine schwierige Frage. Jesus beantwortet diese Frage nicht, weil für ihn der Fokus auf einem anderen Aspekt liegt: Nämlich die Freude darüber, wenn er sich wiederfindet und zurückkehrt.

So, und da sind wir nämlich beim Kern des Ganzen angekommen. Die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und Groschen enden mit folgenden Sätzen:

7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. 

10 So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

Und jetzt mal die Frage gestellt: Was ist denn Buße anderes als Umkehr? Oder wie Martin Luther im Katechismus so schön schreibt: „Buße tun heißt ‚umkehren in die offenen Arme Gottes‘.“ Wenn das geschieht, gibt es auf allen Seiten den großen Moment der Erleichterung, des Aufatmens und der Freude. Dann jubeln die Engel.

Die beiden ersten Gleichnisse sind Beispiele aus dem praktischen Leben, denen jeder irgendwie zustimmen kann. Da geht es noch nicht um das Eingemachte, sondern eher die Theorie der Praxis. Aber diese beiden Gleichnisse bereiten das dritte Gleichnis vor. Das ist psychologisch und dramaturgisch außerordentlich gut komponiert, weil es jetzt nämlich um das Eingemachte geht. Jetzt geht es um das Verhältnis zwischen Menschen.

Der Sohn wollte nicht gefunden werden, so wie immer wieder Menschen aus unserem Leben, unserem Umfeld verschwinden, keinen Abschied wollen und nicht wiedergefunden werden wollen.

Der Sohn war ausgestiegen und glaubte, dass er entfernt vom Vater auf eigenen Beinen stehen könnte. Wir wissen, wie glorios er auf diesem Wege gescheitert ist. Aber er ist auch zu einer Erkenntnis gelangt, die er sonst nicht gehabt hätte. Wenn ihm der Rahmen, die Orientierung, die ihm der Vater geben und damit sind nichts anderes als die Spielregeln Gottes gemeint, wenn diese fehlen, geht’s ihm im wahrsten Sinne des Wortes dreckig. Seine Umkehr zum Vater ist damit Ausdruck seiner Erkenntnis sich auf einen Irrweg begeben zu haben. Diese Erkenntnis machte ihn bescheiden. Er wollte nicht wieder als Sohn zurückkommen, sondern als Knecht, doch sein Vater nahm ihn in die Arme und feierte ein großes Fest. Der verlorene Sohn, war nicht nur der wiedergekehrte, sondern auch der geläuterte.

Und wenn Gott uns das so vorlebt und erleben lässt. Was bedeutet das dann für uns?

Wir können aus diesen Gleichnissen lernen, dass wir als Christinnen und Christen die Offenheit haben, wenn der oder die Verlorene zurückkehrt, wieder offen in unsere Arme aufgenommen wird – offen ohne Vorhaltungen, Fragen, sondern mit großer Freude und einem noch größeren Fest, auch wenn es dann andere, kritische Stimmen geben sollte, wie die des Bruders.

Vielleicht will ja mein Freund auch gar nicht wiedergefunden werden und reagiert deshalb nicht auf meine Lebenszeichen, mit denen ich ihm zeige, dass ich mich ihm immer noch verbunden fühle. Wie groß aber wird die Freude sein, wenn er vielleicht doch noch eines Tages auftaucht, vor meiner Tür steht und wir uns in die Arme nehmen und die eine oder andere Träne fließen wird. Amen!

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis 20. Juni 2021 über Lukas 15, 1-10 in der Markuskirche Farchant & Johanneskirche Partenkirchen