Pfr. Martin Dubberke
Da spannt sich doch ein wunderbarer Regenbogen über den Pfarrgarten. | Bild: Martin Dubberke

Gott mutet uns die Nächstenliebe zu

Liebe Geschwister, heute geht es mal wieder ans Eingemachte. Wenn ich mir die Texte anschaue, die für heute vorgesehen sind und wenn ich mir dann die Welt da draußen vor unserer Kirchentür anschaue, die Zeitung aufschlage, das Radio anmache oder die Nachrichten im Fernsehen einschalte, dann muss ich doch manchmal die Luft anhalten.

Ich denke an den Wirbel um die Partie zwischen Ungarn und Deutschland am Mittwoch in München. Wie sind da die Wellen wegen eines Regenbogens so hochgeschlagen. Die ganze Zeit habe ich mir an diesem Abend gewünscht, dass doch bei all dem Regen, vielleicht das letzte Tageslicht noch einen Regenbogen über dem Münchner Stadion als kleinen Fingerzeig Gottes zeigen würde.

Und ich dachte mir, was für eine starke und glaubwürdige Aktion wäre es an diesem Tag gewesen, wenn alle schwulen Bundesliga-Fußballspieler sich gemeinsam und gleichzeitig geoutet hätten, um dieses Tabu endlich aufzubrechen. Wann, wenn nicht an diesem Tag? Was für eine starke Geste wäre es gewesen? Endlich wäre im Deutschen Fußball etwas aufgebrochen, hinter dem es kein Zurück mehr gegeben hätte. Ein Gewinn an Glaubwürdigkeit hinter all den Apellen und Lippenbekenntnissen.

Ich denke an den furchtbaren Messerangriff in Würzburg, bei dem drei Menschen ihr Leben verloren haben.

Ich denke an den Selbstmordanschlag in Mali.

Ich denke – auch wenn es nicht in dieser Woche war – an die Barrikadenkämpfe in der Rigaerstraße in meiner alten Heimatstadt.

Und all das sind nur die großen Dinge und auch nur einige wenige Beispiele davon, die deutlich machen, dass da doch was in die falsche Richtung läuft. Die Medien berichten umfangreich. Sie diskutieren diese Ereignisse geradezu zu Tode. Es geht um Gegenwehr, hartes Durchgreifen und vieles andere mehr. Es geht um große mediale Empörung. Mit welcher Energie wurde das Regenbogenthema noch am Anfang dieser Woche bewegt und heute? Heute redet kein Mensch mehr davon.

Niemand fragt, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Und das ist das, was mich am Allermeisten schockiert. Niemand fragt, warum sich ein schwuler Fußballspieler verbiegen und verstecken muss, warum er etwas darstellen muss, was er nicht ist, warum er sich verleugnen muss. Niemand fragt danach, warum die Fußballvereine, die Fußballverbände gegen ihre Spieler eine solche Form von Gewalt ausüben. Denn es ist nichts anderes als Gewalt. Weshalb ist es im Fußball noch unmöglicher, sich als schwul zu outen als noch vor wenigen Jahren in der Kirche? Ich erinnere mich noch, als ich Vorsitzender des Konvents der Theologiestudierenden in meiner alten Berliner Landeskirche war und wir das Thema Homosexualität auf die Tagesordnung gesetzt haben und sich im Gespräch mit einer Konsistorialrätin – also Kirchenrätin – eine Studienkollegin outete und die Konsistorialrätin zusammenschrak, bleich wurde und die Kommilitonin bat, das nie wieder zu sagen und versicherte, dass sie so tun würde, als hätte sie nichts gehört. Das ist jetzt rund dreißig Jahre her. Wie haben wir uns als Kirche doch seitdem bewegt. Bei uns gibt es mittlerweile gleichgeschlechtliche Ehen mit dem Segen der Kirche, Pfarrerinnen und Pfarrer können offen ihre Homosexualität leben. Und der Fußball? – Das einzige, was sich hier bewegt hat, ist der Ball.

Müssten nicht eigentlich bei jedem Bundesligaspiel die Stadien in den Regenbogenfarben erstrahlen? Müssten nicht vor jedem Spiel vor den Stadien Regebogenfahnen verteilt werden?

Müssten nicht all diejenigen, die Maßnahmen gegen die Regierung Orban fordern oder die Regierung in Warschau oder Ankara oder wo auch immer, nicht auch Maßnahmen gegen die Bundesliga fordern, in der es ein Klima gibt, das es schwulen Fußballern unmöglich macht, sich zu outen ohne dabei ihre Karriere aufs Spiel zu setzen? Müsste nicht der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk statt, das Thema zu skandalisieren, einfach sagen, wir übertragen keine Bundesligaspiele mehr und berichten auch nicht mehr darüber, so lange es ein so homophobes Klima in den Vereinen und Verbänden gibt? Müssten nicht eigentlich alle Fernseh- und Rundfunkanstalten, die Milliarden für die Lizenzen zur Berichterstattung bezahlen, ein Medienembargo machen?

Müssten nicht eigentlich auch alle Fans, die sich in den Foren und Leserkommentaren über homophobe Verhältnisse, Politik und Gesetze echauffieren, die Spiele ihrer Mannschaften boykottieren?

So, und wer sich nun die Frage stellt, worauf ich heute hinaus möchte und was das alles noch mit dem Predigttext und den anderen Texten zu tun hat, den erinnere ich an diesen Vers aus dem Evangelium dieses Sonntags:

Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge,
aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?
Lukas 6, 41

Und genau das scheint mir das zentrale Problem unserer Gesellschaft und unserer Welt zu sein. Und der Fußball hat es uns in dieser Woche in besonderer Weise vorexerziert. Wir alle sehen, wo und bei wem auch immer, jeden Splitter im Auge des Bruders, der Schwester, des politischen Gegners, aber wir sehen nicht den Balken in unserem eigenen Auge, der uns eigentlich blind macht.

Solange wir so sind, so leben, so denken, so fühlen, werden wir nicht wirklich zu wirklicher Gemeinschaft im Sinne Jesu fähig sein, werden wir nicht zum Frieden fähig sein und im Frieden leben.

Das ist im Grunde genommen so, als würde ich mich beim Grünen Gockel engagieren und dann mit dem SUV statt mit dem Radl um die Ecke zum Bäcker fahren.

In allen Texten des heutigen Sonntags geht es um Buße, Vergebung, Umkehr, Demut, Selbstreflektion, Selbsterkenntnis, Schuldeingeständnis, Bitte um Vergebung, das Verhältnis zu meinem Nächsten und mein Verhältnis zu Gott.

Und damit stellt sich die Frage, was ich heute aus diesen Texten lernen kann. Und das Spannende ist: Alles, was ich aus diesen Texten lernen kann, verändert mein Verhältnis zu mir selbst, zu meinem Nächsten und zu Gott.

Wir alle kennen die Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Wer solche Brüder hat, braucht keine Feinde mehr. Brüder, die ihren eigenen Bruder verraten und verkauft haben und später dann selbst als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge nach Ägypten kommen. Allein das ist schon eine missliche Lage. Der gemeinsame Vater, dem sich auch Josef verpflichtet weiß, wird von den Brüdern als Schutz empfunden, doch als er stirbt, bekommen die Brüder Angst vor einer möglichen Rache durch ihren Bruder Josef. Sie fühlen sich schutzlos und ausgeliefert. Diese Geschichte steht einfach zwischen Josef und seinen Brüdern. Sie trennt sie voneinander und verbindet sie auch gleich miteinander.

Und was fürchten die Brüder am meisten? Die Vergeltung durch Josef.

Ist es vielleicht das, wovor sich auch – um beim Beispiel Fußball zu bleiben – die Vereine fürchten, die Reaktion durch die Fans, wenn ein schwuler Fußballer auf dem Spielfeld ausgebuht und diffamiert wird, wenn er das Tor nicht trifft oder den Ball verliert?

Vergeltung scheint viele Beziehungen zu bestimmen oder gar zu definieren. Vergeltungsschläge, Vergeltungsmaßnahmen, Vergeltungsembargo, Vergeltungseinfuhrbeschränkungen, Vergeltungszölle, Vergeltungsgesetze, Vergeltungsauflagen… ich glaube, dass wir alle gemeinsam diese Liste noch lange fortsetzen könnten.

Vergeltung scheint mehr Beziehungen zu konstituieren als die Liebe, habe ich manchmal das Gefühl.

Und mal so ganz nebenbei gesagt, das gilt nicht nur für Putin gegen den Rest der Welt, sondern auch für Erna Birkenhuber und Franz Berger, also unsere eigenen Beziehungen.

Der Vater von Josef und seinen Brüdern, dessen ganzes Leben ja von diesem Verhältnis der Brüder untereinander bestimmt war, hatte dennoch die Hoffnung und Zuversicht, dass, wenn er einmal sterben würde, Josef nicht den Brüdern das Licht ausblasen würde. Er kannte seinen Josef besser. Also, hinterließ er mit seinem Testament einen Auftrag. Nämlich den, dass seine Söhne zu Josef gehen sollen, um ihn endlich um Verzeihung zu bitten und ihre Sünden und Missetaten einzugestehen.

Das ist kein einfaches Erbe, dafür braucht man schon die berühmten fünf Buchstaben in seiner Hose. Natürlich war den Brüdern klar, dass sie Mist gebaut hatten, denn man verkauft nicht seinen eigenen Bruder.

So, und nun passiert etwas ganz Wichtiges. Josef weint, als seine Brüder ihn um Vergebung bitten. Es ist also ein unwahrscheinlich emotionaler Moment, ein Augenblick der Erleichterung. Josef scheint Jahrzehnte auf diesen Moment gewartet zu haben. Und er, der ja das Opfer seine Brüder war, der eine große Karriere gemacht hatte und Macht hatte, also ein ganz Großer war, ein gesellschaftliches Schwergewicht, verzichtet auf alle Vergeltung. Und das Spannende daran ist der erste Teil seiner Begründung:

Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? (1. Mose 50, 20)

Welch menschliche Größe. Josef durchbricht zeichenhaft und vorbildlich den Kreislauf der Vergeltung, weil er deutlich macht, dass ihm diese nicht zusteht, sondern allein Gott. Und genau das ist für mich der zentrale Moment. Auf Vergeltung folgt Vergeltung. Auf Einsicht folgt Einsicht, Verstehen und Begegnen auf Augenhöhe. Auf Einsicht folgt die Wendung zum Guten.

Josef tut damit das, was Jesus bei Lukas von uns erwartet:

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.

Und Josef tut das, was er tut aus der Erkenntnis seiner eigenen Fehlbarkeit heraus. Er weiß, dass auch er Fehler macht und gemacht hat und dann auch Vergebung braucht. Er ist genauso auf die Gnade Gottes angewiesen, wie seine Brüder.

Und damit sind wir wieder bei der Geschichte mit dem Splitter und dem Balken angekommen. Die Haltung, die Josef seinen Brüdern einnimmt, ist genauso demütig wie die, die seine Brüder ihm gegenüber einnehmen, die vor ihm auf die Knie gefallen sind und sich als seine Knechte bezeichnet haben.

Und genau diese Demut des Josef ist’s, die wir heute mehr denn je auf allen Ebenen in unserer Gesellschaft, in dieser Welt und nicht zuletzt in unseren eigenen Beziehungen brauchen. Denn die Stärke erwächst einem nicht aus dem Machtgehabe, dem Drohen und Poltern, dem Provozieren, sondern aus der Demut.

Ohne Demut geht man am Balken in seinem eigenen Auge zugrunde, fällt man über diesen Balken in den Abgrund.

Die Stärke liegt in der Demut. Wer poltert, droht und provoziert ist eigentlich ein armer, kleiner Wicht, der Angst vor seiner eigenen Ohnmacht hat und sich deshalb aufblasen muss.

Das Problem daran ist, dass unter solchen Popanzen die Welt leidet. Weil nur wenige die hohe Kunst des Josef beherrschen.

Paulus findet dafür in seinem Brief an die Römer folgende Worte:

Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
Vergeltet niemandem Böses mit Bösem.
Römer 12,17

Das ist die Formel für unsere Glaubwürdigkeit als Christinnen und Christen. Das ist der Ausstieg aus der Spirale, dem Ohnmachts-Kreislauf von Gewalt und Vergeltung. Wir haben nämlich eine geniale Aufgabenteilung: Unser Job ist das Gute und das braucht unsere ganze, unsere ungeteilte Kraft. Gott hat uns von der Vergeltung befreit. Diese liegt ganz und gar im Ermessen Gottes. Denn, wie sagt doch Josef es so klar und deutlich: Stehe ich denn an Gottes statt?

So, und wenn unser Leben und unsere Haltung als Christinnen und Christen glaubwürdig sein soll, wenn wir dazu beitragen wollen, dass Gemeinschaft möglich wird, so wie Jesus sie uns vorgelebt und angeboten hat, dürfen wir andere Menschen, nicht ausgrenzen, weil Ausgrenzen Unterdrückung und Gewalt bedeuten, weil Ausgrenzen Ausdruck unserer eigenen Angst ist. Gott aber mutet uns die Nächstenliebe zu und das bedeutet mutiges Handeln aus unserem Glauben heraus, weil wir selbst durch den Tod Jesu am Kreuz Gnade aus Erbarmen erfahren haben. Amen!

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2021, über 1. Mose 50, 15-21 in der Markuskirche Farchant & Johanneskirche Partenkirchen

Liturgische Texte

Eingangspsalm: Psalm 42,2–6
AT-Lesung: 1. Mose 50,15–21
Epistel: Römer 12,17–21
Evangelium: Lukas 6,36–42
Predigttext: 1. Mose 50,15–21
Hallelujavers: Psalm 92,2