Pfr. Martin Dubberke

Um Gottes Willen

Diese Woche ist schon eine besondere Woche. Sie hat mit St. Martin begonnen. Da habe ich zusammen mit meinem katholischen Kollegen den Ökumenischen Gottesdienst in Maria Himmelfahrt gehalten und bin anschließend mit Sankt Martin, der uns auf seinem Pferd vorausging, einer Blaskapelle und ganz vielen Kindern mit Laternen durch Partenkirchen gezogen und habe die Kälte spüren dürfen, der der arme Mann in der St. Martin-Geschichte ausgesetzt war. Naja, und was ist passiert: Ich habe mir eine faustdicke Erkältung eingefangen. So deutlich kann man es dann zu spüren bekommen, wenn man ziemlich ungeschützt der Kälte ausgesetzt ist. Tja, und heute am dem vorletzten Sonntag des Kirchenjahres fangen wir schon an Rückschau zu halten, mit dem lieben Gott Bilanz über das zu Ende gehende Kirchenjahr zu ziehen. Also, was liegt da näher, als heuer mal zu schauen, was Sankt Martin und den vorletzten Sonntag im Kirchenjahr miteinander verbinden könnte.

Einen ersten Anhaltspunkt bekommen wir, wenn wir einen Blick auf den Predigttext werfen, der bei Hiob im 14. Kapitel, die Verse 1 bis 6 steht:

Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer! Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.

Da haben wir einen Mann, der in einem Aschehaufen sitzt. Dem es im wahrsten Sinne des Wortes dreckig geht, der alles verloren hat, was ihn einmal ausgemacht hat: Seine Kinder, sein Vieh, seinen Hof, einfach alles, was seine Existenzgrundlage gebildet hat. In der Geschichte von Sankt Martin gibt es auch so einen Mann, der keine Existenzgrundlage mehr hatte. Der Unterschied ist, dass wir am Anfang nicht wissen, wie es dazu kam, dass der Bettler in der Geschichte von Sankt Martin arm ist.

In beiden Fällen jedoch handelt es sich um Männer, die um ihre Existenz ringen. Allerdings in unterschiedlicher Weise. Der Bettler bei Sankt Martin bettelt um Brot, Kleidung, eben das, was er zum täglichen Überleben braucht.

Hiob ringt auch, aber nicht um das einfache Überleben, sondern mit Gott, um seine Existenz, weil er verstehen will, was er getan hat, dass ihn Gott so straft, weil er ihm alles genommen hat.

Hiob denkt hier im weisheitlichen Zusammenhang von Tun und Ergehen. Sprich: Tust du Gutes, wird dich Gott gut behandeln. Tust du Schlechtes, wird dich Gott schlecht behandeln. Vor diesem Hintergrund ist Hiob in eine mehr als nur existenzielle Krise geraten, weil er doch ein Vorbild an Frömmigkeit und guten Handeln war, so dass er gar nicht verstehen kann, dass Gott ihn nun so gnadenlos gebeutelt hat. Seine Krise ist zugleich auch die Krise der alttestamentlichen Weisheit, in der sich der Zusammenhang von Tun und Ergehen auflöst und sich eine neue Qualität im Verhältnis zwischen Mensch und Gott auftut: Nämlich die, mit Gott zu ringen und an diesem Ringen zu wachsen, weil ich nichts als gegeben hinnehme, sondern verstehen will und damit auch erkennen will.

Die Selbstverständlichkeit ist dahin und genau darin liegt eine besondere Qualität des Lebens. Es gibt Gott gegenüber keinen Automatismus mehr. Hiob klagt Gott nicht sein Leid, sondern er klagt Gott an. Er fordert von Gott eine Antwort auf die Frage, warum er ihm gegenüber gewissermaßen den Vertrag gebrochen hat, das Versprechen, dass ihm Gutes folgt, wenn er Gutes tut.

Und Hiob ist hier unnachgiebig. Er lässt sich auch nicht von seinen Freunden davon abbringen, die ihm alle einreden wollen, dass er doch für etwas verantwortlich sein muss.

Ich beschäftige mich schon seit mehr als dreißig Jahren mit Hiob. Ich habe mit ihm in meinem Studium Bekanntschaft, ja eigentlich schon Freundschaft geschlossen. Und diese Freundschaft begann in einem Proseminar von Prof. Peter Welten an der Kirchlichen Hochschule in Berlin. Über Hiob habe ich den Zugang zur Alttestamentlichen Weisheit gefunden, die mich bis heute nicht mehr loslässt und in ganz eigener Weise meinen Glauben, meine Entscheidungen, mein Leben prägt.

Und jedes Mal, wenn ich mich mit Hiob beschäftige, entdecke ich etwas Neues und so auch heute. Ich habe das Gefühl, dass es noch einen anderen Grund gibt, weshalb Hiob alt und vor allem lebenssatt gestorben ist. Das hatte nicht nur etwas damit zu tun, dass er es durchgehalten hat, gegen Gott zu klagen, bis sich Gott ihm gezeigt hat, sondern dass er vielleicht noch etwas ganz anderes in seinem Leben erkannt hat.

Und damit komme ich noch einmal auf den Tun-Ergehens-Zusammenhang zurück. Auch wenn Hiob in seinem früheren Leben viel Gutes getan hat, stellt sich doch die Frage, ob er das getan hat, damit ihm Gutes widerfährt oder, ob es den anderen gut gehen soll. Merken Sie? Hier kann es zu einem Perspektivwechsel gekommen sein. Wenn meine Motivation ist, dass mir Gutes widerfahren soll, wenn ich anderen Gutes tue, dann ist das die falsche Motivation. Wenn ich aber anderen Gutes widerfahren lasse, damit es ihnen gut geht, weil sie wie ich ein Geschöpf Gottes sind, geht es nicht mehr um mich, sondern um gelingende Gemeinschaft. Dann verändert sich auch die Gesellschaft. Wie schreibt doch Paulus im Brief an die Römer?

Leben wir, so leben wir dem Herrn.
Römer 14,8

Und vielleicht ist es auch genau das, warum die jährliche Erinnerung an Sankt Martin so wichtig ist.

Als Martin dem frierenden halbnackten Mann am Stadttor von Reims half, dachte er nicht an sich selbst, sondern sein Impuls war es, den armen Mann vor der Kälte zu bewahren, so dass er seinen Mantel halbierte und dem Mann im wahrsten Sinne des Wortes Wärme schenkte.

Martin nahm dafür den Spott seiner Soldatenkameraden auf sich, die diese Geste nicht verstanden. Für Martin war aber genau das der Moment, in dem sich sein Leben fundamental änderte. Nachdem er mit dem armen Mann seinen Mantel geteilt hatte, war nichts mehr so wie vorher. Noch in der gleichen Nacht erschien ihm im Traum Jesus, der ihm für die gute Tat dankte und sagte: „Martinus, der noch nicht getauft ist, hat mich mit diesem Mantel bekleidet.“ Der arme Mann war nämlich niemand anderes als der Sohn Gottes selbst. Auch das ein sehr spannender Aspekt der St. Martin-Geschichte. Martin, war nämlich noch gar kein Christ. Aber er handelte wie ein Christ und dieses Handeln hatte für ihn und sein Leben Folgen.

Martins Leben war seit dieser Nacht vom christlichen Glauben geprägt. Er ließ sich taufen und trat zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus dem Heer aus und gründete um 360 das erste Kloster des Abendlandes. Um 375 herum gründete er ein weiteres Kloster, dem sich viele seiner Anhänger anschlossen. Er wurde zum geistlichen Ratgeber und Nothelfer – ein schönes altes Wort, das man sich durchaus mal in aller Ruhe auf der Zunge zergehen lassen kann.

Als dann einige Jahre später ein neuer Bischof von Tours gesucht wurde, versteckte er sich, als er erfuhr, dass man ihn zum Bischof machen wollte. Jemand, der nicht aufzufinden ist, kann auch nicht zum Bischof gewählt werden. So dachte er sich das. Auch an dieser Geschichte können Sie sehen, dass es ihm durch sein Tun nicht um Ruhm und Ehre ging. Sein „Tue Gutes!“ sollte ausschließlich anderen guttun.

Aber die Leute suchten keinen anderen Kandidaten. Und so griffen sie zu einer List. Sie schickten Rusticus, einen engen Vertrauten Martins los, der wusste, wo sich Martin versteckt hielt. Und der erzählte ihm eine Notlüge, dass seine Frau sterbenskrank sei und unbedingt noch einmal mit Martin reden wolle. Ohne lange zu überlegen, verlässt Martin sein Versteck und wird zum Bischof gewählt.

Martin starb im Alter von 81 Jahren, also alt und ich vermute einmal auch lebenssatt. Er ist einer der ersten Heiligen, der nicht durch den Märtyrertod heilig wurde, sondern durch sein vorbildliches Leben.

Und damit komme ich wieder zurück zu Hiob. Unser Predigttext ist ja nur ein Ausschnitt aus seinem Gespräch mit Gott:

Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer! Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.

Hiob beschreibt eindrücklich die Vergänglichkeit des Lebens. Er vergleicht es mit der Blume, die aufgeht und welkt, dem Schatten, der flieht und nicht bleibt. Das Leben rast dahin und das einzige, was Hiob möchte, ist, dass er seine Ruhe vor Gott habe. Soll er doch endlich mal wegschauen, damit ich zur Ruhe komme. Hiob fühlt sich wie ein Getriebener. Alle Welt redet auf ihn ein und dann ist da noch dieser Gott, der ihn allem Anschein aufs Korn genommen hat.

Was auf den ersten Blick wie ein Jammern über die eigene Vergänglichkeit des Lebens aussieht, eines Lebens, dem Gott auch noch seine besondere Plage auferlegt hat, ist in Wirklichkeit ein Reflektieren des eigenen Lebens. Und hier haben wir – wie gesagt – nur einen Moment aus einem Buch, das 42 Kapitel umfasst und im Grunde genommen eine großangelegte Reflektion über das Leben und das Verhältnis zu Gott ist.

Und das zu Beginn der Fastenzeit. Ja, zu Beginn der Fastenzeit. Der Martinstag, also der 11. November war in früher Zeit der letzte Tag im Wirtschaftsjahr und damit auch der letzte Tag, bevor die sechswöchige Fastenzeit begann. Mit dem 12. November setzt das sogenannte Adventsfasten ein. Damit werden wir noch einmal daran erinnert, dass die Adventszeit eine Bußzeit ist. Das ist auch der Grund, weshalb die liturgische Farbe des Advents violett ist, also genauso wie in der Passionszeit vor Ostern. Auch noch zu Luthers Zeiten wurde diese Fastenzeit eingehalten.

Wie auch die Fastenzeit vor Ostern dauert diese vierzig Tage, wenn man die Sonn- und Feiertage abzieht. Und dann gibt es vom 6. Januar bis Aschermittwoch eine Pause zwischen den beiden Fastenzeiten. Und diese Pause wird als Fastnacht bezeichnet.

Also, am Dienstag hat die Fasten- und damit die Bußzeit begonnen. Und damit sind wir herzlich eingeladen uns gewissermaßen wie Hiob in den Aschehaufen zu setzen und mit Gott ins Gespräch zu kommen. Und dann könnten wir uns vielleicht die Frage stellen, wo wir wie Hiob gewesen sind und Gutes getan haben, damit uns Gutes folgt, wo wir eben nicht wie Martin gewesen sind und einfach „nur“ Gutes getan haben. Wir könnten uns auch die Frage stellen, wo wir uns mehr geliebt haben als unseren Nächsten. Wir könnten uns aber auch fragen, welche Verantwortung wir in dieser Gesellschaft tragen, in der der Flüchtling zum Feind wird. Wer sagt uns denn, dass uns nicht in jedem Flüchtling der Sohn Gottes selbst begegnet?

Wir können uns in dieser Zeit die Frage stellen, ob oder wo wir warum den Weg verlassen haben könnten, den uns Gott nahelegt.

Die Zeit, die vor uns liegt, erinnert uns an unsere eigene Vergänglichkeit. Sie bindet uns aber auch in die Vergänglichkeit der anderen Menschen ein, die vor uns gelebt haben und von denen, von denen wir im zurückliegenden Jahr Abschied genommen haben. Auch dazu dient die Zeit, zu überlegen, was zwischen dem Verstorbenen und mir offengeblieben ist, und was das für mein weiteres Leben bedeutet? Was ist in meinem eigenen Leben noch offen?

Was erzählen mir die Menschen, die im zurückliegenden Jahr Opfer von Willkür, Gewalt und Krieg geworden sind? Was erzählen mir die Ereignisse, die sich in diesem Jahr gejährt haben, wie z.B. dreißig Jahre Mauerfall, siebzig Jahre Bundesrepublik, 80 Jahre Ausbruch des 2. Weltkriegs, 100 Jahre Friedensvertrag von Versailles??

All diese Ereignisse – zum Teil mehr als ein Menschenleben her – haben Spuren in dieser Stadt, in unseren Straßen, in unserem Leben hinterlassen. All diese Ereignisse prägen noch heute unser Leben. Und so dienen die vierzig Tage Bußzeit auch dazu, sich selbst darüber bewusst zu werden, was ich selbst aus meinem Glauben heraus tun kann, damit sich das nicht wiederholt. Welche Lehren ziehe ich selbst daraus?

Nichts, absolut nichts im Leben ist selbstverständlich. Das zeigt uns das Beispiel von Hiob und das finden wir auch in der Geschichte unseres Landes wieder und auch in unserer eigenen persönlichen Geschichte.

Und aus dem Leben von Hiob können wir nicht nur lernen, nichts als selbstverständlich hinzunehmen, sondern auch unsere Stimme zu erheben, zu klagen und zu ringen.

Wie das im praktischen Leben aussehen kann, das hat uns Sankt Martin gezeigt, als er seinen Mantel geteilt hat. Man muss einfach mal an der richtigen Stelle, einen Schnitt wagen. Und so war das Teilen des Mantels für Martin im wahrsten Sinne des Wortes ein einschneidendes Erlebnis, das bis zum heutigen Tag trägt.

Welches Erlebnis in meinem Leben war so einschneidend, dass es mich nachhaltig geprägt hat? Hat es mich Jesus nähergebracht oder hat es mich von Jesus entfernt? Und wenn es mich von Jesus entfernt hat, wie kann ich wieder näher zu Jesus zurückkommen?

Es beginnt nun die Zeit, in der wir uns über solche Fragen angesichts unserer eigenen Vergänglichkeit wieder intensiver Gedanken machen können. Buß- und Bettag, Ewigkeits- und Totensonntag bilden hier gewissermaßen den einladenden und erinnernden Doppelpunkt, der zugleich auch Ausrufezeichen ist.

Und vielleicht lassen wir uns ja dabei von Hiob begleiten. Das Buch Hiob hat 42 Kapitel. Wenn Sie heute die ersten fünf/sechs nachholend lesen, haben Sie für jeden Tag der vierzigtägigen Fasten- und Bußzeit ein Kapitel.

Und wer weiß, was wir dabei entdecken oder erkennen werden. Und vielleicht werden wir dabei genau das erkennen, was Jesus im Evangelium des Lukas im 17. Kapitel, Vers 24 den Pharisäern geantwortet hat:

Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Lukas 17,24

In diesem Sinne sage ich: Amen! Und das heißt: So soll es sein.


Pfr. Martin Dubberke – Predigt am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres am 17. November 2019 über Hiob 14, 1-6, Perikopenreihe I in der Markuskirche in Farchant und der Johanneskirche in Partenkirchen