Pfr. Martin Dubberke

Angesichts von Tod und Ewigkeit

Noch klingt mir der letzte Vers des Predigttextes in den Ohren:

Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.
Matthäus 12, 13

Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde. – Es gibt so Momente, da denkt man plötzlich doch über die eigene Vergänglichkeit nach. So ging es mir, als ich hier in Garmisch-Partenkirchen meine erste Beerdigung hatte. Es war eine Sozialbestattung auf dem Garmischer Friedhof. Ich stand zusammen mit dem Friedhofsmitarbeiter und meinem Sohn Justus allein vor dem Sarg, der schon auf dem Sarglift über der Gruft stand. Da gingen mir einige Gedanken durch den Kopf. In dem Sarg ruhte eine Frau von knapp achtzig Jahren. Was war die Summe ihres Lebens? Wo waren die Menschen, die ihr in ihrem Leben wichtig waren? Lebten diese Menschen überhaupt noch? Hatte diese Frau Kinder? Wer kannte, mochte, liebte diese Frau? Und ich stellte mir vor, wie diese Frau auf die Welt gekommen ist und hoffte, dass sich mindestens zwei Menschen über dieses neue Leben gefreut haben.

Da stand ich nun vor diesem Sarg und nahm mit einem Menschen, der von Berufs wegen schon zahllose Beerdigungen erlebt hat und einem Menschen, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Beerdigung erlebt hat, Abschied von dieser Frau und dachte so bei mir: „Das hat kein Mensch verdient, dass er so alleine nach einem langen Leben in einer knappen viertel Stunde unter die Erde gebracht wird.“

Ich habe in meinem Leben schon viele Beerdigungen erlebt und auch selbst gemacht, aber keine einzige hat mich in dieser Weise in meinem tiefsten Innern so sehr über mich selbst zum Nachdenken gebracht.

Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.

Ich muss an den Wochenspruch denken:

Lasst Eure Lenden umgürtet sein und Eure Lichter brennen.
Lukas 12,35

Das korrespondiert mit dem Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen und macht gleichermaßen deutlich, dass es für Männer wie Frauen gleichermaßen gilt: Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.

Lasst Eure Lenden umgürtet und Eure Lichter brennen. Seid bereit, denn ihr wisst nicht wann Eure Stunde, noch Euer Tag ist, wann die Ewigkeit beginnt, wann Jesus wiederkommt.

Angesichts von Tod und Ewigkeit, gibt es nichts, was man auf die lange Bank schieben kann. Das wird sowohl bei Lukas als auch bei Matthäus und dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen deutlich. Was man auf die lange Bank schiebt, holt einen am Ende dann doch wieder ein und dann ist es zu spät.

Mir klingen ein paar Zeilen von Klaus Hoffmann in meinem inneren Ohr:

Aber morgen
Werd ich meinem Herzen folgen
Werde irgendwohin gehn
Und völlig anders leben
Aber morgen
Werd ich meiner Stimme folgen
Werde mich nicht mehr umdrehn
Ich werd mit irgendwem nach irgendwohin gehen.

Aber morgen! – Wie vertraut ist uns dieses träumerische, sehnsuchtsvolle „Aber morgen“? Wie oft haben wir schon in unserem Leben „Aber morgen!“ gesagt, gedacht und nicht getan. Manchmal taten wir es nicht aus Angst. Manchmal dachten wir, dass noch Zeit wäre.

Doch dann passiert plötzlich etwas in unserem Leben, das uns wieder genau an diesen Vers erinnern lässt – und das dann meist, wenn es zu spät ist:

Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.

Das ist ein Weckruf zum bewussten Leben. Ich muss an Hiob denken. Sie erinnern sich? Vor einer Woche war der Predigttext aus dem Buch Hiob. Der Mann, der, nachdem er so ziemlich das ganze Repertoire an Schicksalsschlägen durchhatte, das man nur so erleiden kann, dann alt und lebenssatt starb.

Angesichts von Tod und Ewigkeit stelle ich mir die Frage, was es braucht, um alt und lebenssatt zu sterben.

Ich erinnere mich an das Abschiednehmen von meinem Vater vor fast fünf Jahren. Alle sagten: „Ach, das wird schon wieder. Nun komm! Reiß Dich zusammen. Habe nur ein wenig Geduld!“ – Mein Vater war 85. Mein Vater und ich führten damals viele Gespräche miteinander und irgendwann sagte er einmal: „Weißt Du, ich warte eigentlich nur noch darauf, dass ich endlich sterben kann. Das ist wie mit einem Wasserkrug, der voll ist. Jeder weitere Tropfen fließt über, weil er überflüssig ist, denn es passt nichts mehr rein.“

Was für ein wunderbares Bild für lebenssatt.

Ich sagte damals zu meinem Vater: „Weißt du, ich werde nicht an deinem Bett stehen und sagen, dass es schon wieder werden wird, sondern Danke, dass Dich gegeben hat. Weißt Du, ich habe ja gewissermaßen den Hof meiner Eltern verlassen und hänge meiner Christiane an und wir sind ein Fleisch, haben eigene Kinder, die mich, die uns brauchen. Ich brauche Euch nicht mehr, um zu leben, aber ich genieße dankbar jeden Tag mit Euch, so lange Ihr noch lebt. Wenn Du das Gefühl hast, dass es soweit ist, dann ist es so. Dann ist es soweit.“

Mein Vater atmete tief auf und entspannte sich. Endlich jemand, der ihn verstanden hatte. Als er dann ein halbes Jahr später ganz friedlich zu Hause im Beisein meiner Mutter und meines Bruders starb, sprach ich zur gleichen Zeit an anderer Stelle die Worte des Aaronitischen Segens: „..und gebe dir Frieden.“

Meine Dankbarkeit, dass er so sterben durfte, wie er es sich immer gewünscht hat, war größer als meine Trauer. Und ich konnte diese Dankbarkeit empfinden, weil ich den Mut hatte, mit meinem Vater über dieses und andere heikle Themen zu sprechen, diesen Themen nicht aus dem Weg zu gehen, sondern gerade, weil ich weder Tag noch Stunde wissen konnte, anzusprechen. Das hat vieles verändert, auch nach seinem Tod.

Der Tod eines anderen konfrontiert mich mit meiner eigenen Vergänglichkeit, dem was offengeblieben ist und offenbleibt.

Angesichts von Tod und Ewigkeit – Totengedenken in der Johanneskirche in Partenkirchen | Bild: Martin Dubberke

Wie oft habe ich bei Vorbereitungsgesprächen für eine Beerdigung eine ganze Welt von offenen Dingen erleben dürfen, das Konflikte durch den Tod beendet, aber nicht aufgelöst wurden. Wie oft habe ich in Seelsorgegesprächen von Schuldgefühlen gehört, weil Menschen anderen Menschen aus dem Wege gegangen sind und man sich erst nach Jahrzehnten wiedergesehen hat – am Grab wiedergesehen hat.

Der Tod markiert einen Verlust im Leben. Und mancher kann auch selbst nicht loslassen. Auch das habe ich erst kürzlich erleben dürfen, als ich zu einer Sterbebegleitung gerufen wurde. Der Mann war noch nicht so weit, auch wenn er nicht mehr reden konnte und vollkommen abwesend schien. Ich hielt seine Hand und hatte eine Hand auf seiner Schulter. Es war so deutlich zu spüren, dass er noch nicht loslassen wollte. Da war noch etwas. Als ich seine Frau fragte, ob er ein Lieblingslied gehabt hätte, erzählte sie mir, dass er gerne gesungen hat und sie legte die CD mit seinem Lieblingslied ein. In dem Moment hörte das Röcheln auf, seine Augen bekamen plötzlich einen Glanz und aus seinem Mund kam ein letzter Klang, als wollte er noch einmal singen.

Einen Menschen, der einem nahe ist, zu verlieren, bedeutet auch, gemeinsame Erinnerung zu halbieren. Ich habe nun diese Erinnerung nur noch für mich. Es gibt dann kein „Weißt Du noch?“ mehr.

Der Tod markiert auch eine Grenze, die, wenn man sie überschritten hat, kein Zurück mehr kennt. Wer auf dieser Seite der Grenze zurückbleibt, weiß, dass auch er einst diese Grenze überschreiten wird. Und das verändert das eigene Leben.

Ich habe vor ein paar Minuten mal die Frage gestellt, was es braucht, um alt und lebenssatt zu sterben. Ich glaube, dass eines der Geheimnisse ist, das Leben zu leben und nicht einfach zu funktionieren. Das Leben, dass uns, das mir, Gott geschenkt hat, bedeutet VerANTWORTung, auch und vor allem Gott gegenüber. Im Wort VerANTWORTung steckt das Wort Antwort. Ich antworte mit meinem Leben auf die Frage, die mir Gott gestellt hat: Bist Du bereit so zu leben, wie ich es Dir vorgeschlagen habe? Bist Du bereit, nach meinen Spielregeln zu leben? Glaubst Du, dass Du es schaffst, deinen Nächsten so zu lieben wie dich selbst? Glaubst Du, dass Du mich, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft lieben kannst?

Die gelebte Antwort auf diese Fragen, verändert das Leben, verändert meine Beziehung zu anderen Menschen, verändert mein Verhältnis zur Schöpfung, verändert die Welt. Die gelebte Antwort bedeutet, das Leben, das mir Gott geschenkt hat, anzunehmen. Die gelebte Antwort bedeutet, Aufmerksamkeit, ausreichend Lampenöl zu haben und gegürtet zu sein. Die gelebte Antwort bedeutet auch, an das ewige Leben zu glauben.

1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.

3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 

5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaf-tig und gewiss! 6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers um-sonst. 7 Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.
Offenbarung des Johannes 21,1-7

In diesem Sinne sage ich: Amen! So wird es sein.


Pfr. Martin Dubberke, Predigt am Ewigkeitssonntag/Totensonntag am 24. November 2019 über Matthäus 25, 1-3, Perikopenreihe I in der Heilandkirche in Oberau und der Johanneskirche in Partenkirchen.