Pfr. Martin Dubberke
Altarraum der Johanneskirche | Bild: Martin Dubberke

Heilung ist möglich

Liebe Geschwister, ich glaube, dass wir gerade in unserem Leben ziemlich orientierungslos durch die Gegend laufen. Wenn ich das jetzt so sage, dann mag das vielleicht ein wenig hart und verallgemeinernd wirken. Ja, wir funktionieren in unseren Jobs, Beziehungen zu anderen Menschen, in unserem Alltag, aber es scheint, als läge über allem so eine Art lähmender Mehltau, dessen Nährboden die Ungewissheit über unsere Zukunft ist.

Ich möchte jetzt nicht wieder mit den Heiz- und Stromkosten, den Teuerungen in allen anderen Bereichen unseres Lebens und dem Krieg in der Ukraine kommen, aber Ihr wisst, was ich meine: Dieses Gefühl einer gewissen Ohnmacht, die einen lähmt, die Energie raubt und bei vielen Menschen, die ich kenne, auch auf die Seele schlägt. Diese Hilflosigkeit, weil man selbst das so gar nicht ändern kann, ist immer wieder bei Gesprächen im Raum.

Es sind mehr Menschen geworden, die bei mir Seelsorge suchen. Ich erlebe diese Lähmung an ganz vielen Stellen um mich herum, auch wenn ich mit meinem Team bei der Tafel spreche, wenn ich Ihnen erzähle, was alles in den kommenden Monaten auf uns zukommen wird. Wie viele Flüchtlinge zu uns kommen werden und die Frage, wie wir das alles wuppen sollen oder können, angesichts der wenigen Lebensmittel, die wir gerade haben.

Und so wird es vielleicht auch manch einem und einer von Euch gehen. Woher nehmen wir die Kraft, morgens aufzustehen, zu gehen und unser Tagwerk zu verrichten?

Seit drei Jahren leben wir im Dauerkrisenmodus. Da mag sicherlich auch eine gewisse Gewöhnung oder Abstumpfung eingetreten sein, aber Krise ist Krise. Da denkt man, dass man Corona so langsam im Griff hat, da beginnt der Krieg mit all seinen Folgen und mittlerweile greift auch wieder Corona zu. Eigentlich wollte heute Morgen noch ein Bekannter von mir zum Gottesdienst kommen, aber er musste absagen, weil er im Krankenhaus einspringen musste, da der Krankenstand mittlerweile wieder so hoch ist.

Ich habe das Gefühl, dass die ganze Welt gerade krank ist. – Naja, ob sie wirklich jemals so ganz gesund war, lasse ich mal dahingestellt sein.

Also lasst uns über Leiden und Unglück miteinander ins Gespräch kommen, um gesund zu werden.

Es ist ja ein wenig wie beim Arzt: Er kann mir nur helfen, wenn ich zu ihm gehe und sage, dass ich leide, Schmerzen habe und mich deshalb von ihm untersuchen lassen möchte. Dann erst weiß er, welche diagnostischen Methoden er einsetzen muss.

Das ist genauso, wenn mir jemand, nachdem er unseren Kirchgeldbrief bekommen hat, schreibt, dass er nicht zahlt, weil ich nicht bei ihm war, als es ihm nicht gut ging. Das Problem daran ist, dass er sich aber nicht bei mir gemeldet hat, als es ihm schlecht ging. Wer hat noch die Stelle von eben aus dem Jakobusbrief im Ohr? Genau! Da heißt es:

Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.

Jakobus 5, 14-15

In solchen Fällen frage ich mein Gegenüber dann, warum er sich nicht bei mir gemeldet habe und sage, dass mich der liebe Gott zwar mit vielen Gaben gesegnet habe, aber nicht mit der der Hellsichtigkeit. Es sei doch mit dem Pfarrer wie mit dem Arzt. Wenn es ihm schlecht ginge, würde er doch auch nicht auf einen Anruf des Arztes warten, der in einem göttlichen Moment der Eingebung zum Telefon greift und sagt: „Ich komme heute bei Ihnen vorbei, weil sie krankgeworden sind.“

In einer solchen Situation gibt es immer zwei Reaktionen bei meinem Gegenüber: Entweder habe ich den anderen bei einer Ausrede ertappt, das Kirchgeld nicht bezahlen zu wollen, oder ich habe den anderen überrascht, dass er in dem Moment nicht daran gedacht hat, dass ich ihm helfen könnte und es an ihm sei, sich auf den Weg zu machen oder bringen zu lassen, so wie der Gelähmte in unserer Geschichte…

Aber, es gibt natürlich auch Situationen wie in der Geschichte vom Gelähmten, wenn mich jemand anruft und sagt: „Könnten Sie mal zu Frau Sedlmayer gehen? Der geht es gerade nicht so gut.“ – Das ist jemand, der wie bei der Geschichte vom Gelähmten gewissermaßen das Dach aufdeckt, damit ich den Seelsorgebedürftigen sehe.

Woran krankt es in unserer Gesellschaft? Vielleicht an der Selbstverständlichkeit? Ich stelle seit drei Jahren fest, dass mich das Thema „Selbstverständlichkeit“ nicht mehr loslässt. Das werdet Ihr sicherlich schon bemerkt haben. Dabei haben wir in dieser Zeit – glaube ich – alle erleben dürfen, dass wir in der Phase des Endes der vermeintlichen Selbstverständlichkeit leben. Und diese Phase ist geprägt von der Undankbarkeit.

Eben noch haben wir Paul Gerhardts Lied „Ich singe dir mit Herz und Mund“ gesungen. Paul Gerhardt hat den Dreißigjährigen Krieg überlebt, viele seiner Kinder verloren und auch seine Frau, aber seinem Glauben hat das keinen Abbruch getan. Ganz im Gegenteil. Er schreibt Lieder der Zuversicht, der Hoffnung, des Lobens und Dankens. Und ist auch dieses Lied ein Dank- und Loblied. Wir brauchen in unserer Zeit wieder die Einübung von Dankbarkeit als ein deutliches Handeln wider die Selbstverständlichkeit.

Ich – wir als Familie – haben das in diesem Jahr in besonderer Weise erleben dürfen, als einer unserer Söhne in der Folge von Corona lebensgefährlich erkrankt war. Wir haben gebetet und auch Kerzen angezündet. Es hat geholfen. Unser Glaube hat uns in dieser Zeit geholfen und wir sind dankbar, dass unser Junge wieder gesund ist.

Welche krankmachenden Haltungen haben wir? Habe ich selbst? – Die Geschichte von der Heilung des Gelähmten macht deutlich, dass es auch um Vergebung geht:

Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.

Markus, 2,5

Wie wird das sein, wenn dieser Krieg einmal vorbei sein wird? Was bedeutet dann „Deine Sünden sind dir vergeben?“

Es geht neben der Krankheit des Menschen und seiner Heilung auch um unsere kranke Welt, und wie sie geheilt werden kann. Und wie krank diese Welt ist, können wir jeden Tag auch hier in unserem Ort erleben.

Da gibt es Menschen, die sich nicht das tägliche Brot leisten können und auf die Tafel angewiesen sind.

Da gibt es Menschen, die sich kaum die Wohnung leisten können, in der sie wohnen oder Menschen, wie jene 73jährige, die nun ihre Wohnung verloren hat, weil sie rausgeklagt wurde und mit ihrer kleinen Rente am Rande der Grundsicherung nun keine Wohnung findet.

Wenn das keine kranke Welt bei uns ist, dann weiß ich es auch nicht. Und wir kriegen es ja kaum hin, solche Dinge in unserer kleinen und überschaubaren Welt zu regeln, die Probleme in den Griff zu bekommen, auch weil es an den Egoismen scheitert. Wir als Gemeinde haben ein Mietshaus und können dieses trotz sozialverträglicher Mieten wirtschaftlich führen. Es geht also.

Tja, wenn wir das alles schon in unserer kleinen Welt nicht regeln können, wie soll es dann erst in den großen Dimensionen von Nationen, EU und dem Rest der Welt gelingen?

Alles, was ich sehe, ist, dass diese Welt gegen sich selbst lebt. Das ist fast so, wie bei mir. Ich weiß, dass ich deutlich weniger Gewicht auf die Waage bringen sollte, aber es gelingt mir einfach nicht. Wider besseres Wissen esse ich mehr als für mich und meine Gesundheit gut ist.

Wir haben alle unsere Lähmungen. Und manchmal machen uns unsere Lähmungen auch hoffnungslos.

Verdammt noch mal!

Kruzifix noch mal!

Da muss doch was zu machen sein?!?!?!

Ich kann es gut verstehen, wenn die Leute sagen, dass sie Gott nicht spüren bei all dem, was gerade passiert, dass Menschen sagen und fragen: „Gott, wo bist du? Wie kannst du all das zulassen?“

Aber so, wie ich Gott einschätze, wird er wahrscheinlich auf diese Frage mit einer Gegenfrage antworten: „Was glaubst Du, Mensch?“

Ja, was glauben wir eigentlich? Dass Gott uns alles abnimmt? Glauben wir an so eine Art „Rundum-Sorglos-Paket“?

Ich kann das nicht glauben! Gott hat uns mit verschiedenen Gaben ausgestattet, damit wir miteinander heil in Frieden und Freiheit leben können.

Welches Dach müssen wir abdecken?

Der Gelähmte hatte Verbündete, hatte Freunde, die ihn zu Jesus getragen haben und für ihn das Dach abgedeckt haben. Und genau das ist die Not wendende Stelle in der Geschichte. Es geht um Verbündete, um Verbündete, die die gleiche Vision und Hoffnung haben, dass Jesus hilft. Und diese Vision trägt uns zur Lösung und hilft durchhalten.

Ich gehe jede Wette ein, dass unter den Freunden des Gelähmten einer gestöhnt und gesagt hat: „Ich kann nicht mehr. Du bist so schwer wie ein nasser Sack! Und dann auch noch all die Menschen hier. Da ist doch kein Durchkommen. Das ist eine aussichtslose Sache. Worauf habe ich mich hier nur eingelassen?“

Und genau in solchen Momenten braucht’s einen, den es dann sicherlich unter seinen Freunden auch gegeben hat, der sagt: „Kopf hoch, schau mal, da vorne ist eine Treppe, die aufs Dach führt. Da müssen wir hin! Und dann werden wir irgendwie über das Dach zu Jesus rankommen. Wirst sehen, wir schaffen das.“

Der Zweifler und der Mutmacher sind immer ein gutes Team. Und Jesus hat diese Hartnäckigkeit belohnt, als er den Gelähmten geheilt hat. Jesus war nämlich von dieser Hartnäckigkeit beeindruckt. Und genau von dieser Hartnäckigkeit der Freunde dürfen wir für heute lernen.

Unser Glaube, einzig unser Glaube, dass Jesus hilft, lässt uns hartnäckig das Ziel verfolgen, die Menschen in ihrer Gottesferne zu erreichen, die Nächstenliebe in diese Welt hinauszutragen, Dächer abzudecken, um neue Perspektiven zu eröffnen, auch ungewöhnliche Lösungswege zu beschreiten. Einzig unser Glaube an Jesus Christus bringt uns ans Ziel.

Und jetzt kommt tatsächlich noch mein Lieblingssatz von Dietrich Bonhoeffer, auf den Ihr sicherlich schon gewartet habt:

Ein schwerer, verhängnisvoller Irrtum ist es, wenn man Religion mit Gefühlsduselei verwechselt. Religion ist Arbeit. Und vielleicht die schwerste und gewiß die heiligste Arbeit, die ein Mensch tun kann.

Dietrich Bonhoeffer – Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, DBW Band 10, Seite 484

Amen.

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 23. Oktober 2022, über Markus 2, 1-12, Perikopenreihe IV, in der Markuskirche zu Farchant und der Johanneskirche zu Partenkirchen.

Pfarrer Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

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