Pfr. Martin Dubberke
Blüten | Bild: Martin Dubberke

Berührt

Liebe Geschwister, „berührt“ – ein einziges Wort und doch sofort Kino im Kopf. Ein Hauch von Berührung auf meiner Haut, sanft, kaum spürbar und doch löst es Gänsehaut aus und damit im ganzen Körper ein Wohlgefühl, das auch die Seele erreicht. Eine zärtliche Berührung, die Geborgenheit fühlen lässt.

Auch Musik kann mich berühren oder ein liebes Wort. Mich kann aber auch ein Schicksal berühren. Mich berührt, was in den letzten Tagen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen geschehen ist. Die Natur hat uns wieder gezeigt, wie gewaltig sie sein kann, wie sie uns herausfordert und auf unser Versagen antwortet. Die Naturgewalt ist zur Naturkatastrophe geworden, die bislang 143 Tote gefordert hat. Allein in Ahrweiler sind es 670 Verletzte. In der Eifel ist nahezu ein ganzes Dorf verschwunden, im Trierer Ortsteil Ehrang hat das Unwetter die Keller und Erdgeschosse von 670 Häusern zerstört.  Eine Katastrophe von nahezu biblischem Ausmaß. Es wird Jahre dauern, bis alles wieder aufgebaut sein wird. Und während ich noch an dieser Predigt schreibe, wird im Berchtesgardener Land der Katastrophenfall ausgerufen, werden zwei Tote im Hochwassergebiet in Oberbayern gemeldet und zugleich wälzt sich eine Flut durch Hallein in Österreich.

Mich berühren die Bilder der Menschen, die alles verloren haben, der Helfer, die erschöpft in einer Ecke sitzen, denen man das Erschrecken über das, was sie sehen und erleben, ansehen kann.

Das ist keine Berührung, die ein wohliges Gefühl auslöst, sondern Trauer und Erschrecken über die Gewalt der Natur.

Wie anders ist da der Liedvers, den ich mir vor einigen Monaten als Predigttext im Rahmen unserer Sommerpredigtreihe ausgesucht habe. Er nimmt so schöne Bilder auf:

Du durchdringest alles;
lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so still und froh
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen.

Was für ein Kontrast zu dem, was wir in diesen Tagen in den Medien sehen und hören? Ein Bild der Ruhe und Ergebenheit. Gott durchdringt alles. Und dieses Durchdringen löst nicht die geringste Assoziation von Gewalt aus. Gott ist gegenwärtig. Er ist einfach in allem gegenwärtig. Es ist nun Gott, der mich berührt.

Der Dichter dieser Zeilen, Gerhard Terstegen, 1697 in Moers in Nordrhein-Westfalen geboren, war Laienprediger und gilt als Mystiker. Was aber ist ein Mystiker? – Karl Rahner hat einmal gesagt: „Der Christ der Zukunft ist ein Mystiker, er ist einer, der Gott erfahren hat.“

Es geht also in der Mystik nicht allein ums Glauben, sondern auch ums Erfahren. Es geht nicht nur darum, dass ich glaube, sondern, dass ich auch Gott erfahre. Es geht also um das, was wir heute so gerne Spiritualität nennen.

Gerhard Terstegen war ein Mann mit einem sehr tiefen Glauben und vor allem einem Gottvertrauen. Er hat in seinem Leben die Erfahrung gemacht, dass ihn sein Glaube überleben lässt.

Terstegen war früh Halbwaise geworden und seiner Mutter fehlte einfach das Geld, ihrem begabten Sohn ein Theologiestudium zu finanzieren und so ließ sich der Schüler einer Lateinschule, der auch noch Griechisch und Hebräisch gelernt hatte, zum Kaufmann ausbilden. Er gründete sogar ein eigenes Geschäft, zog sich aber daraus wieder zurück, weil es ihn daran hinderte, seinen Glauben wachsen zu lassen. Aus dem Trubel seines Geschäfts wechselte er in eine Profession, die ruhiger schien. Er wurde Leineweber, aber seine Gesundheit litt darunter, so dass er noch einmal den Beruf wechselte und dann in ziemlicher Armut und Einsamkeit lebte, geistliche Übungen machte und schließlich gab er 1728 – ein Jahr, bevor er das Lied „Gott ist gegenwärtig“ dichtete – seinen Beruf gänzlich auf und lebte als Laienprediger und Übersetzer von Mystikerinnen und Mystiker, zu denen auch die Schriften von Theresa von Avila gehörte, ganz von den Gaben, die er für seinen Lebensunterhalt erhielt. Er war also kein gut bestallter Pfarrer mit Pfarrhaus und einem ausreichenden Gehalt. Seine Lebenssituation war eher prekär. Er hatte keinen Predigtauftrag von irgendeiner Landeskirche. Er war nicht Teil einer verfassten Kirche, war kein Rädlein in einer Organisation. Er war im besten Sinne ein Laie und hatte sich freigestellt für die Sache Gottes.

Er hat sich in seinem Leben ganz allein auf Gott eingelassen und verlassen. Das hat seinem Leben seine Richtung gegeben. Er war im besten Sinne des Wortes befreit zu einem Leben mit und durch Gott.

Terstegen war ein Mann, der etwas getan hat, was wir uns heute kaum noch trauen, öffentlich zu sagen. Nämlich von seiner Erfahrung mit Gott zu sprechen. Und genau das ist der Unterschied zwischen Bekennen und Zeugnis ablegen.

Wenn ich sage, dass ich an Gott glaube, befinde ich mich auf der sicheren Seite. Da geht es dann um Werte, die auch Menschen teilen können, die nicht an Gott glauben. Das ist dann vielleicht die Konfession, die auf meiner Steuerkarte steht.

Wenn ich aber von meiner Gotteserfahrung spreche, mache ich mich gewissermaßen nackig. Von meiner Gotteserfahrung zu sprechen, bedeutet, dass ich etwas von mir preisgebe. Wenn ich von meiner Gotteserfahrung spreche, ordne ich mein Leben in meinem Glauben ein.

Und genau in dem Moment geschieht etwas sehr Wesentliches. Ich erkenne das Wirken Gottes in meinem Leben und genau das bedeutet wiederum, dass ich Gott erkenne.

Glaube bedeutet dann auch für mich, dass ich bin bereit bin, mich in meinem Leben von Gott berühren zu lassen. Gott zu erfahren, heißt dann, sich in und mit seinem Leben auf Gott einzulassen, mit ihm in Beziehung zu gehen und diese Beziehung zu leben. Diese Beziehung wird mich verändern und sie wird mich in meinen Beziehungen zu anderen Menschen verändern, weil mein Glaube mein Handeln durchdringen wird. Erst diese Beziehung wird mich beziehungsfähig machen, weil ich aufblühe und mich anderen Menschen öffne und mich mit allem, was mich ausmacht, zu erkennen gebe.

Du durchdringest alles;
lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so still und froh
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen.

Wer blüht nicht auf, wenn die Sonne scheint? Terstegen findet ein einfaches und geniales Bild dafür, was Gott im Leben eines Menschen bewirken kann. Die Natur besteht nicht nur aus Katastrophen, sondern auch aus Wundern. Denkt nur an die Bienenwiese vor unsere Kirche. All die Blumen versteckten ihren Duft und ihre Farben in ihren Knospen, die nicht aufgehen wollten. Doch mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen geschah das Wunder. Die Strahlen der Sonne berührten die Knospen, die vor lauter Freude aufplatzen und ihre Blüten entfalteten.

Und genauso wirkt Gott auch auf uns und unser Leben, wenn wir uns berühren lassen.

Terstegen wollte sich nicht mehr mit Worten über Gott begnügen, so wie ich sie gerade hier von der Kanzel spreche, sondern er sehnte sich, danach, Gott zu erfahren: Lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte.

Du durchdringest alles – Das ist eine Berührung, die durch und durch geht. Da klingt Ignatius von Loyola, der Ordensvater der Jesuiten durch, von dem der Satz stammt: „Gott finden in allen Dingen.“

Du durchdringest alles – Das ganze Leben, die ganze Schöpfung, alles Erleben ist von Gott durchdrungen. Ich muss also nur noch die Augen meiner Seele öffnen, um das, was ich in meinem Alltag erfahre, auf Gott hin wahrzunehmen. Ich muss nicht darauf warten, dass er mir begegnet, ich muss nur bereit und offen sein, ihn zu sehen und mich von ihm berühren zu lassen, denn Gott ist gegenwärtig.

Amen!

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis 18. Juli 2021 in der Johanneskirche Partenkirchen über die 6. Strophe aus Gerhard Terstegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165) in der Sommerpredigtreihe „Berührt“

 

 

 

 

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