Liebe Geschwister, Sonntag Rogate. Es ist der Sonntag des Bittens und Betens, der uns daran erinnert, dass Gott unsere Bitten und Gebete hört, unser Gebet weder verwirft, noch seine Güte von uns abwendet. Es ist aber auch der Sonntag, an dem wir uns fragen müssen, ob wir auch auf Gott hören, ob wir uns im zuwenden. Sonntag Rogate erinnert uns daran, dass uns Gott sieht und hört. Aber sehen wir selbst auf Gott. Lassen wir Gott in unserem Leben die Rolle spielen, die wir bei Gott spielen?
Wir werden heute von Georg Philipp Telemann die Kantate für den 27. Sonntag nach Trinitatis hören. Das ist der vorletzte Sonntag im Kirchenjahr. Also, noch eine gute Weile hin. Die Kantate mahnt uns zur Buße und Umkehr. Sie mahnt uns, unser Leben wieder an Gott auszurichten, weil ein Leben, das sich nicht an Gott orientiert, ins Verderben, oder klassisch formuliert, nicht in den Himmel, sondern direkten Weges in die Hölle führt.
Ich habe mich in der Tat gefragt, warum Wilko ausgerechnet diese Kantate für diesen Sonntag ausgesucht hat. – Also, er hat sie ja auch schon am Sonntag Kantate in Mittenwald aufgeführt. Wir haben interessanterweise gar nicht darüber gesprochen, warum es ausgerechnet diese Kantate sein sollte. Eigentlich wäre heute ja die Kantate zum Sonntag Rogate mit dem Titel „Vater unser im Himmelreich“ ideal gewesen. Sie korrespondiert mit dem Evangelium zu diesem Sonntag, der Einsetzung des Vaterunsers als dem Gebet der Gebete.
Und wie heißt es so wunderbar im Vaterunser?
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Es geht also um Schuld und Vergebung. Es geht um das Eingestehen von Schuld, dem Erfahren von Vergebung und dem eigenen Vergeben anderen Menschen gegebenüber, die uns gegenüber schuldig geworden sind.
Der Mensch ist nun einmal fehlbar. Wir sind nicht vollkommen und darum ist es so wichtig, dass Gott uns so sehr liebt, dass er uns eine neue Perspektive im Leben durch die Vergebung der Schuld eröffnet. Und weil wir diese Vergebung erfahren, sollten wir selbst diese Vergebung unseren Schuldigern nicht vorenthalten. Die Vergebung ist nicht das Vergessen, sondern der Beginn des Friedens zwischen Gott und dem Menschen und unter uns Menschen.
Und in dieser Telemann-Kantate, die wir heute nun hören werden, geht es um unsere Einsicht angesichts unserer eigenen Endlichkeit. Und wenn wir diese Kantate mit dieser eindringlichen Einladung heute fünf Wochen nach Ostern hören, darf uns das Herz und Ohr dafür öffnen, dass wir in dieser Welt eine dringende Umkehr brauchen, eine Umkehr, die die Not dieser Welt wendet. Buße und Umkehr sind notwendig und wenn wir uns diese Welt anschauen, dann haben wir keinen einzigen Tag zu verlieren, um uns im intensiven Gebet wieder Gott zuzuwenden und um seine Führung zu bitten, denn jeden Tag kostet diese Gottesferne in unserer Welt Menschenleben.
Aber es geht nicht nur um das große Ganze, sondern es geht auch um uns selbst. Es ist die Aufforderung unser Leben zu ordnen und unsere Beziehung zu Gott ins Reine zu bringen. Diese Kantate hält uns vor Augen, dass wir die offenen Dinge in unserem Leben nicht auf die lange Bank schieben sollten, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit wir haben, wie viel Zeit uns gegeben ist.
Im ersten Rezitativ heißt es:
Dass Herz und Sinn, o schwacher Mensch,
in dir sich nicht von deinem Schöpfer wende,
so denke für und für ans Ende!
Wir dürfen den Mut finden, auch an unser unser Ende und überhaupt das Ende zu denken. Wenn man jung ist, scheint das Ende so weit entfernt zu sein. So ging es mir, als ich jung war auch. Doch heute in vier Wochen werde ich 61 Jahre alt. Wenn alles gut geht, habe ich vielleicht noch zwanzig oder dreißig Jahre. Wir haben aber auch schon erlebt, dass es mit einem Male ganz anders sein kann.
Dieses Rezitativ ist ein Weckruf, ein Appell, nicht in Selbstzufriedenheit zu verharren, sondern sich der fundamentalen Wahrheit des menschlichen Daseins zu stellen. Es ist der Aufruf, sich nicht von seinem Schöpfer abzuwenden, sondern im Bewusstsein der Endlichkeit zu leben.
Daran schließt sich die Arie an, die mich nicht aus diesem Appell herauslässt, sondern mich gewissermaßen ins Gebet nimmt:
Bedenke stets das Ende deines Lebens,
bedenke stets das Ende dieser Welt,
eh‘ beides sich, o Sünder, eingestellt!
Sonst wird dir jenes lauter Schrecken,
und dieses lauter Angst erwecken;
denn wer sich hier nicht in Bereitschaft hält,
dem kömmt die Reue dort vergebens,
der Baum liegt, wie er einmal fällt.
Hier klingt das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen durch. Wer sich nicht in Bereitschaft hält. Ich soll das Ende meines Lebens, aber auch das Ende dieser, unserer Welt, in der ich lebe, bedenken. Schon allein, wie Teleman das „Bedenke stets“ vertont, ist eine Botschaft. Es ist eine aufsteigende Tonfolge, die mich in den Himmel führt. Ich soll den Himmel bedenken, ich soll bei alledem an Gott denken. Der Himmel ist das Ziel meines Lebens. Und beim Ende meines Lebens steigt die Tonfolge noch höher hinauf, um mich spürbar und hörbar daran zu erinnern, dass der Himmel, das ewige Leben das Ziel meines Lebens ist. Und Telemann wiederholt diesen Weckruf, um die Dringlichkeit zu unterstreichen.
Dem schließt sich gewissermaßen ein melodischer Höllenritt mit aufsteigenden und absteigenden Achtel – und Sechszehntelnoten an:
Sonst wird dir jenes lauter Schrecken,
und dieses lauter Angst erwecken
Telemann unterstreicht auf diese Weise, wie groß der Handlungsdruck ist. Wenn ich Gott in den Blick nehme, muss ich auch mich selbst in meinem Verhältnis, in meiner Beziehung zu ihm in den Blick nehmen. Und dann muss ich erkennen, dass ich vielleicht doch nicht so verantwortlich lebe oder gelebt habe, wie es notwendig gewesen wäre. Telemann leistet hier ganze musikalische Überzeugungsarbeit, um mich davon zu überzeugen, jetzt Reue zu zeigen, jetzt umzukehren, bevor es zu spät ist, die Umkehr keinesfalls auf die lange Bank zu schieben.
Das Bild vom Baum, der liegt, wie er einmal fällt, symbolisiert die Unabwendbarkeit des Verfalls. Telemann und sein Textdichter lassen nichts unversucht, durch eindringliche Bilder und den rhythmischen Wiederhall der Worte uns als Hörende in eine Haltung der ständigen Wachsamkeit und Buße zu führen.
Man sollte meinen, dass es jetzt gut sei und die Botschaft endlich bei uns im tiefsten Innern angekommen ist. Aber Telemann weiß um die Widerständigkeit des Menschen. Er weiß um unsere Resilienz gegenüber solchen Appellen. Darum steigert er noch einmal die Dringlichkeit. Es ist eine absolute Dringlichkeit. Mit den Möglichkeiten eines Rezitativs redet er uns gewissermaßen noch einmal ins Gewissen:
Nein! Sparre deine Busse nicht,
bis dir der Tod beinah die Augen bricht.
Wie schwehr ist’s, bei geschwächten Sinne,
noch Kraft zur Busse zu gewinnen!
So bald alsdann das Leben nur aufgegeben,
beschliesst sich auch die Gnadenzeit,
und öffnet sich dafür das Tor der Ewigkeit.
Zu dem, wie leichtlich kann’s geschehn,
dass wir, auch ohne Sterben,
der ganzen Welt Verderben,
und den Gerichtstag, plötzlich sehn!
Wenn also mehr, als tausend Donner knallen,
wenn Furcht und Bangigkeit
die Menschen überfallen,
wenn dieser heulet, jener bebet,
die ganze Kreatur in Angst
und Leiden schwebet,
und sich so gar Himmelsfeste trennen:
wer wird (ach niemand wird’s)
sich da bekehren können?
Drum suche.
Weil du kannst, für deine Seele Ruh!
Bekehre dich in dieser Stunde!
Ja, was am sichersten, so gleich in diesem Nu!
Lass Tod und Hölle
dir allzeit in Gedanken sein,
und präge dies dem Herzen ein:
der Richter kommt,
er kommt gewiss und schnelle!
Allein das „Nein!“ ist genial. Ein klares Nein, dass wie ein Stopp-Zeichen sein soll. Dieses Nein mit einem Ausrufezeichen liegt auf dem hohen F und dem folgt als Akzent eine achtel Pause. Ein kurze Pause, die das „Nein!“ noch für einen kurzen Moment nachhallen lässt, um Wirkung in mir zu erzeugen. Diese achtel Pause ist zugleich wie ein Doppelpunkt:
Sparre deine Busse nicht,
bis dir der Tod beinah die Augen bricht.
Wie schwehr ist’s, bei geschwächten Sinne,
noch Kraft zur Busse zu gewinnen!
Mensch, jetzt, jetzt hast Du noch die Kraft zur Buße. Warte damit nicht bis zur letzten Sekunde deines Leben! In diesem Moment entfaltet sich eine gerdezu prophetische Kraft. Wir sollten aktiv und as soon as possible, so schnell wie möglich Buße tun. Wir erinnern uns, dass die Kantate für den vorletzten Sonntag des Kirchenjahres geschrieben ist und der nächste Sonntag schon der Ewigkeits- oder auch Totensonntag ist. Was für eine theologische Dramaturgie. Hier wird deutlich gemacht, dass die Gelegenheit zur Umkehr flüchtig ist und mit dem schwinden der Lebenskraft auch die Gnadenzeit endet – ein Moment, in dem sich das „Tor der Ewigkeit“ öffnet. Die eindrucksvollen Naturbilder – von tosenden Donnerschlägen bis hin zur vollständigen Erfassung aller Geschöpfe in Angst und Leiden – mahnen uns, dass das Kommen des „Richters“ unausweichlich ist.
Musikalisch versetzt uns hier Telemann in ein inneres und äußeres Beben. Er lässt unseren Puls höher schlagen. Die tausend Donner erklingen in den höchsten Tönen. Und allein das Wort Donner fällt vom hohen G ins B. Vom Himmel auf die Erde. Gott mahnt uns selbst. Und dann gibt es wieder einen hektischen Lauf mit Achtel und Sechzehnteln, der unsere Bangigkeit, unsere Angst hör- und spürbar macht. Nur einmal kommt eine gewisse Ruhe ins Spiel, wenn er das Wort „Himmelsfeste“ auskomponiert. Die ersten drei Silben sind wieder das hohe F, nur die letzte Silbe ist ein Es.
Die Dringlichkeit der Aufforderung, sich zu bekehren, wird fast schon als letzte Möglichkeit präsentiert, eine vergebliche Reue zu vermeiden. Telemann und sein Autor Matthäus Arnold Wilckens – der nebenbei gesagt Jurist war – bauen hier sprachlich und inhaltlich einen hohen psychologischen und auch moralischen Druck auf:
Lass Tod und Hölle
dir allzeit in Gedanken sein,
und präge dies dem Herzen ein:
der Richter kommt,
er kommt gewiss und schnelle!
Diesen Druck lassen sie im erlösenden Appell der zweiten Arie münden:
Lebe so, dass nach dem Leben
dich das Ende krönen kann!
Mache, dass der letzte Tag
dich bereitet finden mag!
Denn so darf vor seinen Plagen
keine Seele nicht verzagen.
Wenn die stärksten Helden beben,
gehet dein Vergnügen an.
Diese Arie ist nun ganz das Gegenteil von der ersten Arie. Führt er uns noch in der ersten Arien durch eine düstere Vorahnung, gelangen wir hier mit ihm hin zu einer hoffnungsvollen, beinahe erhabenen Perspektive auf das Ende des Lebens – als einen krönenden, würdevollen Abschluss eines Lebenswandels, der sich wieder auf Gott ausgerichtet hat.
Die wechselnden Dynamiken, das Spiel mit Moll- und Dur-Tonalitäten sowie die kunstvolle Ornamentik lassen erkennen, dass Telemann hier nicht nur Worte vertont, sondern einen emotionalen Bogen spannt, der das Ringen zwischen irdischer Vergänglichkeit und der Hoffnung auf göttliche Erlösung musikalisch einfängt.
Im Mittelpunkt dieser Kantate steht die Aufforderung zur ständigen inneren Erneuerung. Uns als Hörenden soll bewusst werden, dass jeder Moment ein Geschenk, aber gleichzeitig auch ein Schritt zum endgültigen Urteil ist.
Ich finde, dass Telemann etwas gelingt, was uns mit einer klassischen Predigt, egal wie gut sie auch sein mag, kaum gelingen mag. Er spricht durch die Musik alle Sinne, alle Dimensionen des Seins an und lässt so die Dringlichkeit der Buße sinnlich und körperlich spürbar werden.
Das Motiv, dass man sich rechtzeitig zur Umkehr bereit zeigen muss, rührt an eine existenzielle Wahrheit: Das göttliche Gericht ist unvermeidlich, und nur durch aktive Buße kann man sich auf diesen entscheidenden Moment vorbereiten.
Und so spielt die Transformation durch Gnade eine ganz zentrale Rolle: Trotz der ernsten Warnungen klingt auch immer wieder die Möglichkeit der Erlösung durch göttliche Gnade durch. Es geht nicht allein um Furcht, sondern um die Chance, das eigene Leben so zu gestalten, dass es – auch wenn es mit Plagen und Prüfungen verbunden sein mag – letztlich zu einer krönenden Vollendung gelangt.
Diese Perspektive lädt und ein, unser gesamtes Leben als Vorbereitung auf das Treffen mit dem Richter zu begreifen, was zu einer authentischen, von innerer Sicherheit getragenen Lebensführung führen soll.
Heute würde man sagen: Das ist ganz großes Kino. Oder mit anderen Worten: Diese Kantate ist eine Bußpredigt, die mit allen Mitteln arbeitet, um uns für die Umkehr, die Buße, die Reue und ein Leben zu motivieren, dass sich an der österlichen Botschaft orientiert. Sprich: Der Tod ist besiegt und ein neues Leben beginnt.
Amen.
Pfr. Martin Dubberke
Predigt am Sonntag Rogate in der Johanneskirche zu Partenkirchen am 25. Mai 2025, über die Telemann-Kantate TWV 1:194 „Daß Herz und Sinn, o schwacher Mensch“ für den 27. Sonntag nach Trinitatis
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