Pfr. Martin Dubberke
Kruzifix in der Johanneskirche in Partenkirchen | Bild: Martin Dubberke

Das Kreuz ist aufgerichtet

Liebe Geschwister, ich predige heute über ein Lied, dass nicht leicht zu singen ist. Und das hat auch seinen Grund. Die Melodie stammt nämlich von Manfred Schlenker – aber dazu später mehr. Den Text hat Kurt Ihlenfeld gedichtet, der 1901 in Colmar geboren wurde und 1972 in meiner alten Heimat im alten West-Berlin gestorben ist.

Er war promovierter Theologe und Pfarrer, der durch die Gründung des sogenannten Eckart-Kreises jungen, christlichen Autorinnen und Autoren wie Werner Bergengruen, Ricarda Huch, Jochen Klepper, Rudolf Alexander Schröder im Dritten Reich eine Plattform für den Widerstand geschaffen hatte.

Von Klepper und Schröder gibt es heute mehrere Lieder in unserem Gesangbuch und auch eines von Kurt Ihlenfeld: Das Kreuz ist aufgerichtet, das er 1967 gedichtet hat:

94:1 Das Kreuz ist aufgerichtet, der große Streit geschlichtet. Dass er das Heil der Welt in diesem Zeichen gründe, gibt sich für ihre Sünde der Schöpfer selber zum Entgelt.

94:2 Er wollte, dass die Erde zum Stern des Kreuzes werde, und der am Kreuz verblich, der sollte wiederbringen, die sonst verlorengingen, dafür gab er zum Opfer sich.

94:3 Er schonte den Verräter, ließ sich als Missetäter verdammen vor Gericht, schwieg still zu allem Hohne, nahm an die Dornenkrone, die Schläge in sein Angesicht.

94:4 So hat es Gott gefallen, so gibt er sich uns allen. Das Ja erscheint im Nein, der Sieg im Unterliegen, der Segen im Versiegen, die Liebe will verborgen sein.

94:5 Wir sind nicht mehr die Knechte der alten Todesmächte und ihrer Tyrannei. Der Sohn, der es erduldet, hat uns am Kreuz entschuldet. Auch wir sind Söhne und sind frei.

Manfred Schlenker, einer der bedeutendsten evangelischen Kirchenmusiker in der früheren DDR und lange Zeit Kantor am Dom zu Greifswald hat 1977 den Text von Kurt Ihlenfeld vertont. Ich habe Manfred Schlenker während meines Vikariats kennengelernt, weil mein Mentor im schönen Schöneberg, gut mit ihm befreundet war. Dabei habe ich sehr viel über seine Art des Textumgangs und seine Art zu komponieren gelernt, die einer Predigt in Noten gleichkommt.

Daher kann ich über dieses Lied auch nur in Verbindung mit seiner Vertonung predigen. Wir werden die erste Strophe nach der Predigt von Gianna Schuck gesungen, hören.

Ich habe von den Proben gehört, dass das Lied nicht ganz so leicht zu singen ist. Dem stimme ich gerne zu. Schlenkers Melodien haben es nämlich in sich.

Wie genial Manfred Schlenker dem Text mit seiner Melodie eine zweite Interpretationsebene unterlegt, möchte ich an der ersten Strophe verdeutlichen:

94:1 Das Kreuz ist aufgerichtet, der große Streit geschlichtet. Dass er das Heil der Welt in diesem Zeichen gründe, gibt sich für ihre Sünde der Schöpfer selber zum Entgelt.

Die Melodie steigt auf, so dass das Kreuz Jesu auch musikalisch aufgerichtet wird. Man hört auch geradezu das „Hauruck“, wenn man singt: Das Kreuz ist auf-gerichtet. Und in dem Moment, in dem das Kreuz aufgerichtet ist, ist auch der Streit geschlichtet. Mensch und Gott sind wieder miteinander versöhnt. Doch damit ist noch nicht der höchste Ton dieses Liedes erreicht.

Dass, er das Heil der Welt…“ Diesem „dass“ gehört das „D“. Das „D“ ist das begründende „dass“ und gleichzeitig weist das „D“ auf Gott, den Allerhöchsten, der der Ursprung von allem ist. Das „D“ wie „Deus“, also Gott.

Nebenbei gesagt, das Lied beginnt mit einem tiefen „H“ wie Hölle. Das bedeutet, dass das Kreuz gewissermaßen in die Hölle gerammt wird und dieser so ein Ende bereitet. Das Kreuz wird in den Urgrund der Sünde gerammt und ragt nun bis zum Himmel und verbindet auf dieses Weise den tiefsten Punkt menschlichen Seins mit dem Höchsten.

Und dann steigt von diesem göttlichen „D“ das Heil wieder auf die Welt hinab und breitet sich dort zur Gänze aus. Schlenker schenkt der „Welt“ eine ganze Note. Und eine ganze Note steht für die Vollkommenheit, das Ganze und Ungetrennte. Damit ist klar, dass das Heil ohne jede Ausnahme der ganzen Welt, der ganzen Schöpfung gilt.

Schlenker hält die Welt beim hohen „H“ ist Atem. Das „H“ wird nun zum Heil, so dass wir jetzt vom Höllen-H zum Heil in der Welt aufgestiegen sind.

Der Streit zwischen Gott und Mensch ist in diesem Zeichen, im Zeichen des Kreuzes geschlichtet. Damit wird das Kreuz zum Urgrund, zum Zeichen der Sündenvergebung. Und jetzt wird es melodisch ganz spannend. Eigentlich müssten wir doch davon ausgehen, dass das Lied von hieran in die Höhe geht, wie zu einem Lobpreis, aber nein, Schlenker kommt wieder beim letzten Ton des Liedes dort an, wo er losgegangen ist, beim tiefen „H“, also dem Höllenton.

Was ist da passiert? – Der Schöpfer, hat die Sünde der Welt, auf sich genommen, hat sie von unseren Schultern genommen, und tief unten in der Hölle selbst das Lösegeld bezahlt. Und auch hier lohnt es sich noch einmal genauer hinzuschauen:

„…gibt sich für ihre Sünde der Schöpfer selber zum Entgelt.“ Das „selber“ beginnt auf dem Ton C, dem Christus-C. Gott gibt sich in der Gestalt seines Sohnes Jesus zum Entgelt für unsere Sünde.

Jetzt könnte man natürlich fragen: Und warum hat Schlenker dann nicht jede Strophe anders komponiert? Das ist im Prinzip eine gute Frage, aber wenn ich mir nun die restlichen Strophen genau anschaue, dann wird mir auch Dank der Musik etwas klar, Schlenker deckt die Struktur und Botschaft des Textes auf seine Art auf:

Die zweite Strophe ist nämlich im Grunde genommen eine Variation auf die erste:

94:2 Er wollte, dass die Erde zum Stern des Kreuzes werde, und der am Kreuz verblich, der sollte wiederbringen, die sonst verlorengingen, dafür gab er zum Opfer sich.

Weihnachtsstern und Kreuz kommen zusammen als die beiden großen Momente der Heilsgeschichte. „und der am Kreuz verblich“ – Das „verblich“, das Sterben wird hörbar, die ganze Note fordert den ganzen noch verbliebenen Atem. Es das H, das in der ersten Strophe die Welt zum Klingen gebracht hat. Es ist das H des Heils. Wäre Jesus am Kreuz nicht verblichen, hätte es kein Heil gegeben. Und natürlich muss diese Strophe wieder im tiefen Höllen-H enden, weil Jesus das Lösegeld für unsere Sünde war und ist.

An dieser Stelle komme ich noch einmal auf das Christus-C der ersten Strophe zurück, weil wir hier noch eine weitere spannende theologische Aussage finden.

Nebenbei gesagt: In allen weiteren Strophen liegt auf dem fünftletzten Ton des Liedes, also dem Christus-C ein ganz besonderer Akzent:

In der zweiten Strophe singen wir auf dieser Note „dafür gab er sich zum Opfer“: Er = Jesus Christus = C.

Auch in der dritten Strophe geht das Konzept wieder auf.

94:3 Er schonte den Verräter, ließ sich als Missetäter verdammen vor Gericht, schwieg still zu allem Hohne, nahm an die Dornenkrone, die Schläge in sein Angesicht.

Der Verräter kommt wieder aus dem Tiefsten und zu ihm begab sich Jesus hinab. Und gleichzeitig muss der Verräter aus der Tiefe heraus nach oben blicken. Jesus schonte ihn, den Verräter, durch den er als Missetäter hoch am Kreuze starb. Wir müssen in der Melodie zu Jesus am Kreuz hinaufschauen. Und kaum, dass die Melodie wieder nach unten geht, kommen auch die Schläge von unten, die Demütigungen durch die Dornenkrone und vieles andere mehr.

Auch hier spielt das Christus-C im letzten Vers dieser Strophe wieder eine Rolle. Zugegebenermaßen etwas vertrackt, aber es geht auf. Die Passage lautet lauten nun: „die Schläge in sein Angesicht“ – hier ist es das „in“, das auf dem Christus-C gesungen wird, damit wird deutlich, dass mit den Schlägen wirklich Jesus gemeint ist.

Die vierte Strophe:

94:4 So hat es Gott gefallen, so gibt er sich uns allen. Das Ja erscheint im Nein, der Sieg im Unterliegen, der Segen im Versiegen, die Liebe will verborgen sein.

Die Melodie macht deutlich, dass Gott zu uns herabgestiegen ist und wir nun unseren Blick wieder auf ihn richten sollen, der sich für uns alle hingegeben hat. Und jetzt kommt eine ganz besondere Wendung. Gottes Ja zum Menschen ist Jesus Christus. Und genau das sehen wir auch noch einmal in den Noten. „Das Ja“ – Ein D und ein C. Deus Christus. Christus ist Gott. Quasi ein Bekenntnis in zwei Noten. Jesus ist das Ja Gottes zu uns Menschen. Und dann steigt er wieder nach unten „der Sieg im Unterliegen, der Segen im Versiegen, die Liebe will verborgen sein.“ Was verborgen ist, das liegt unter etwas anderem, das ist heimlich. Und auch hier schaffen die Noten ein Bild. Das H bekommt nun die Bedeutung des Heimlichen. Und zugleich ist das tiefe H unterhalb der Notenlinien und bedarf der Hilfslinie. Dementsprechend wird die Verborgenheit auch im Notenbild deutlich. Aber zugleich kommt natürlich auch hier wieder das Christus-C zum Tragen: Wir singen auf dem Christus-C nun das „will“ im Vers „die Liebe will verborgen sein.“ Diese besondere Liebe ist Jesus und Jesus Christus wird nun für uns verborgen sein.

So, und nun kommen wir zur letzten Strophe. Und wieder geht das musikalische Konzept auf, bekommt aber eine ganz neue Bedeutung.

94:5 Wir sind nicht mehr die Knechte der alten Todesmächte und ihrer Tyrannei. Der Sohn, der es erduldet, hat uns am Kreuz entschuldet. Auch wir sind Söhne und sind frei.

Das „Wir“ klingt noch im Höllen-H. Wir sind gebeugte Knechte der Hölle, „der alten Todesmächte und ihrer Tyrannei.“ Die letzte Strophe ist der Höhepunkt. Das Lied offenbart nun seinen eigentlichen Charakter. Es ist ein Befreiungslied von all den alten Mächten, denen wir uns unterworfen haben. Aber weil uns Jesus entschuldet hat, uns diese Schuldenlast nicht mehr niederdrückt, können wir aufrecht und erhobenen Hauptes aus der Macht der Hölle zur Sonne, zur Freiheit aufbrechen. Unser aufrechter Blick hat von jetzt an nicht mehr die Sünde im Blick, sondern Jesus Christus, dem wir nachfolgen. So, und das ist jetzt für mich eigentlich schon mit die genialste Stelle, weil wir hier mit dem Christus-C in eine neue Dimension unserer Existenz vordringen. Die erste Silbe von „hne“ liegt auf dem Christus-C, ein inklusives C. Das bedeutet, dass wir als Christinnen und Christen unser Leben in der Nachfolge am Sohn Gottes ausrichten und die Freiheit nur dann möglich sein und bleiben wird, wenn wir als „Söhne“ leben werden. Und so können wir fröhlich, glücklich und trotzig in die Hölle rufen: „Auch wir sind Söhne und sind frei!“ Und bei diesem „frei“ bekommt das Höllen-H mit einem Male etwas Offenes, den Sound von Aufbruch in die Freiheit, die wir nur durch den Tod Jesu am Kreuze haben können. Das Höllen-H wird nun endgültig zum H des Heils, dem wir zwar noch ein wenig zaghaft, aber voll Zuversicht entgegengehen, weil – man beachte bitte, dass es wieder eine ganze Note ist – uns der Glaube dafür den langen Atem gibt.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Gottesdienst am Sonntag Invokavit im Rahmen der Gottesdienstreihe „Lieder der Passion“. Predigt über das Lied „Das Kreuz ist aufgerichtet“ EG 94 am 21. Februar 2021 in der Markuskirche in Farchant und der Johanneskirche in Partenkirchen.