Pfr. Martin Dubberke

Wo ist Gott?

Wenn ich so auf diese Woche zurückblicke, haben mich zwei Dinge sehr bewegt. Auf der einen Seite habe ich mit Kolleginnen und Kollegen, die fast alle nicht zur Kirche gehören, über das Thema Erntedank gearbeitet und auf der anderen Seite hatte ich eine Mail zu beantworten, die mit der Frage schloss: Wo ist Gott????? – Und diese Frage schloss mit fünf schwungvollen Fragezeichen.

Während ich mit der einen Gruppe, denen alles Christliche fremd und ungewohnt ist, das Thema Dank und Danke sagen, also Wertschätzung – auch in der Kommunikation miteinander – besprach, hatte ich auf der anderen Seite jemanden, der ganz offen sagte, dass er nicht an Gott glauben könne, weil er nicht fassen könne, dass Gott all das, was in dieser Welt geschieht zulassen könne, dass Flüchtlinge im Meer ertrinken, Priester Kinder und Jugendliche missbrauchen und vieles andere mehr. Da war sie wieder die altbekannte Frage, warum das Gott zulässt. Oder treffender: Wenn es Gott geben sollte, warum lässt er das zu?

Diese Frage kennen wir. Mein Vater hat sie nach dem Krieg gestellt und seine Konsequenzen daraus gezogen. Die Existenz Gottes wird durch die Taten der Menschen in Zweifel gezogen.

Ich finde das spannend, weil in dem einen Fall die Menschen, die das sagen, davon ausgehen, dass Gott das verhindern könnte. Aber weil Gott das nicht verhindert hat, gibt es keinen Gott. Was ja eigentlich auch wieder eine spannende Glaubensfrage ist. Glaube ich an Gott, weil er tolle Dinge tut oder glaube ich nicht an Gott, weil schlimme Dinge nicht verhindert?
In allen Fällen bleibt aber interessanterweise immer der Mensch die handelnde Person. Tut der Mensch Gutes, dann war es Gott. Tut der Mensch Schlechtes, dann gibt es keinen Gott oder – im besten Falle – wird dann die Frage gestellt, warum Gott das zugelassen hat. Merken Sie, dass in beiden Fällen, die Verantwortung des Menschen dabei ausgeblendet wird? Die Verantwortung liegt immer bei dem existierenden oder eben bei dem nichtexistierenden Gott. Der Mensch wird bei der sogenannten Theodizee-Frage komischerweise nie in Frage gestellt. Bei der Theodizee-Frage geht es darum, warum Gott das Leiden zulässt, wenn er doch die Allmacht und die Güte besitzen müsste, das Leiden zu verhindern.

Wo also ist Gott?????
Wo habe ich Gott in meinem Leben gelassen???
Warum spielt Gott in meinem Leben keine Rolle?

Sie merken, all das hat mich sehr bewegt und bewegt mich noch. Und dann schaue ich mir an, was so alles in dieser Woche in der Welt geschehen ist, der Staatsbesuch des Türkischen Präsidenten, ein US-Präsident, der in der UNO-Vollversammlung offen ausgelacht wird, die Festnahmen unter der Überschrift „Revolution Chemnitz“, den als Ablasshandel bezeichneten Dieselstreit, den Hambacher Forst und was da sonst noch so alles durch die Medien geht. Mit all dem und noch einigem mehr im seelischen Wochengepäck habe ich mich dann am Samstag an meinen Schreibtisch gesetzt, um meine Predigt für heute zu schreiben.

Und dann lese ich in Ruhe die alttestamentliche Lesung aus dem Propheten Jesaja, das Evangelium mit der Warnung vor der Habgier und dem reichen Kornbauern und schließlich den Predigttext. Schon bei der alttestamentlichen Lesung aus dem Propheten Jesaja stelle ich fest, dass sich die Themen seit Jesaja nicht geändert haben.

Schon der erste Satz lässt mich aufhorchen:

Heißt das nicht…

Ach, was für eine wunderbare rhetorische Einleitung. Jesaja vermittelt seinem Gegenüber schon allein mit diesem Satz, dass er sich eigentlich jedes weitere Wort sparen kann, weil sein Gegenüber nun genau weiß, was kommt:

Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot,und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!

Und wer glaubt, dass da am Satzende ein Fragezeichen steht, der hat sich schwer getäuscht. Da steht ein klares und selbstbewusstes, weil selbstverständliches Ausrufezeichen, weil es so und nicht anders sein kann. Denn es kann auch nicht anders sein. Aber dazu gleich mehr.

Mit dem Hungrigen das Brot zu brechen, verändert die Welt. Und damit ist für mich eine sehr wesentliche Frage verbunden:

Wer bricht, warum mit dem Hungrigen nicht sein Brot?

Welche Antwort werden wir wohl darauf hören? Dieser Satz mit dem Ausrufezeichen ist eine ganz klare Ansage wider den Egoismus, der sich in letzter Zeit so gnadenlos und rasant breit macht, dass er schon fast den Status der Gesellschaftsfähigkeit erreicht hat.

Das Ausrufezeichen erinnert mich daran – und damit komme ich wieder darauf zurück -, dass der andere, und zwar jeder andere Mensch, ausnahmslos jeder andere Mensch mein eigen Fleisch und Blut ist, dem ich mich nicht entziehen kann. Und er ist das, weil wir alle von Gott geschaffen worden sind. Alle Menschen – und das können wir im Schöpfungsbericht nachlesen – gehen auf Adam und Eva zurück. Das heißt, wir alle, egal aus welchem Land wir kommen, welche Sprache wir sprechen, welcher Religion wir angehören, welche Hautfarbe wir haben, egal ob arm oder reich, ob Mann oder Frau oder divers: Wir alle, die wir hier sitzen, glauben das. Wir Christinnen und Christen glauben das und von uns gibt es immerhin 2,26 Milliarden in dieser Welt. Keine Religion hat mehr Anhänger in der Welt als das Christentum. Man stelle sich nur vor, wenn sich alle davon diesen Satz zu Herzen nehmen würden und danach handeln würden. Und dabei wollen wir nicht vergessen, dass die meisten Politiker und Staatsoberhäupter der westlichen Welt selbst Christen sind. Auch – und das erwähne ich nur am Rande – der US-Amerikanische Präsident.

Mit anderen Worten: Schon hier bei Jesaja gibt es die Antwort auf alle Probleme, die wir hier und heute 2700 Jahre später noch immer haben. Also:

·     Hunger
·     Obdachlosigkeit
·     Gefühlskälte
·     Armut
·     Unterjochung
·     Diffamierung

Kommt uns doch sehr bekannt vor, um nicht zu sagen vertraut.

Und Jesaja sagt nun mit Gott:

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.

Wenn ich all das tue, wird meine Heilung, also die Heilung unserer Welt schnell voranschreiten, dann wird Gerechtigkeit vor uns herziehen und die Herrlichkeit des Herrn wird uns im Rücken sein. Dann wird uns keine Dürre mehr etwas anhaben, weil wir alles teilen. Dann wird uns das Wasser nie ausgehen und deshalb auch nie die Früchte unserer Erde.

Aber, was steht dem entgegen? Wo ist Gott??? Wer bricht, warum mit dem anderen nicht das Brot?

Die Antwort darauf finden wir im Evangelium für das Erntedankfest. Da sagt Jesus:

„Hütet euch vor aller Habgier!“

Heute würde Jesus in einem Fernsehinterview wahrscheinlich sagen: „Hütet euch vor aller FIRSTgier.“

Wo fängt die Habgier an? Wo hört sie auf? Spannend finde ich, dass Lukas die Warnung vor der Habgier mit der Geschichte vom reichen Kornbauern kombiniert. Der Bauer, der – im Gegensatz zu unseren Bauern in diesem Jahr – eine überreiche Ernte eingefahren hat und nun glaubt, auf Jahre hin ausgesorgt zu haben und mal zur Ruhe kommen zu können.

Wer von uns hat nicht schon mal davon geträumt, Sechs Richtige im Lotto zu haben, um nicht mehr arbeiten gehen zu müssen?

Die Geschichte vom reichen Kornbauern macht deutlich, dass man sich nicht auf seinen Erfolgen ausruhen darf.

Da denkt man leicht und schnell, dass man keine Verantwortung mehr tragen muss, weil alles so gut und satt ist, dass es von alleine läuft. Und dann nimmt man das mit der Zeit als selbstverständlich hin und kümmert sich nicht mehr. Und dann merkt man auch nicht, wenn sich die ersten Risse auftun.

Wohlstand allein reicht nicht aus. Und plötzlich wundert man sich dann, dass so viele Menschen plötzlich eine Partei wählen, die den Duft einer dunklen Zeit atmet und verströmt.

Das passiert, wenn man alles für selbstverständlich nimmt und nicht Danke sagt. Und mit einem Male wachen die Menschen dann auf aus ihrer Selbstverständlichkeit, weil die sogenannten Retter des christlichen Abendlands plötzlich genau mit dem Quote machen, was so gar nicht dem christlichen Glauben entspricht und entspringt. Unser Glaube und damit unser Gott, erwartet nämlich von uns, mit den Hungrigen unser Brot zu brechen, niemanden zu unterjochen, nicht mit dem Finger nach jemandem zu zeigen und nicht übel über jemanden zu reden, ihn also zu diffamieren. All das erwartet Gott von uns.

Wir alle waren oder sind wie die reichen Kornbauern. Wir haben das, was wir hier in diesem Land nach 1945 hatten, als zu selbstverständlich hingenommen, als zu sicher, als zu gefestigt. Die letzten Jahre haben uns deutlich gezeigt, wohin uns das in dieser Welt geführt hat. Das gilt nicht nur für uns in Deutschland, nein, in Europa, Amerika, ach was, in der ganzen Welt.

Und dann lese ich zum Schluss den Predigttext und weiß, dass die Lösung – wie immer – eigentlich ganz einfach ist. Sie muss nur innig gelebt werden.

Der Predigttext steht im ersten Brief des Paulus an Timotheus im vierten Kapitel, die Verse vier bis fünf:

Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.

Wow… Ist das nicht toll? Da steht es schwarz auf weiß: Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut.

Das erinnert uns doch sofort an den Schöpfungsbericht, wo es heißt: Und Gott sah, dass es gut war.

Und nichts von dem, was Gott geschaffen hat, ist verwerflich.

„…und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.“ – Und da haben wir es wieder: Der Mensch ist die zentrale Schwachstelle. Und so schließt sich bei Paulus der Kreis, der bei Jesaja begonnen hat.

Es geht um die Tat des Menschen. Die Welt ist gut von Gott geschaffen, aber sie wird von undankbaren Menschen verdüstert. Von egoistischen Menschen zerstört. Man schaue sich nur den Hambacher Forst an. Ein Juwel des deutschen Waldes, bei dem man das Gefühl hat, dass dort Gott wohnen muss, weil alles in diesem Wald so perfekt geschaffen scheint, eine Gegend, die seit 12000 Jahren – also nach Ende der letzten Eiszeit – bewaldet ist, mit Bäumen, die 350 Jahre alt sind. Was diese Bäume wohl erzählen würden, wenn sie reden könnten? So ein Wald ist unersetzbar. Keine Renaturierung wird je wiederherstellen, was in 12000 Jahren entstanden ist. Und wie ein kleiner, weiser Scherz Gottes wirkt es da, dass ausgerechnet die vom Aussterben bedrohte, kleine Bechsteinfledermaus den Wald retten könnte. Wie wunderbar ist doch die Schöpfung Gottes. Das klingt doch ganz so, als hätte Gott unsere Gebete erhört.

Und damit komme ich am Ende wieder bei der eingangs gestellten Frage an:

Wo ist Gott???

Gott ist überall da, wo wir mit dem Hungrigen das Brot brechen. Gott ist überall da, wo wir den Elenden Obdach geben. Gott ist überall da, wo wir den Elenden kleiden. Gott ist überall da, wo wir Menschen uns nicht unserer Verantwortung unseren Mitmenschen gegenüber entziehen. Überall dort, wo wir das tun, wird sich eine Gemeinde, eine Region, eine Gesellschaft, ein Land, die Welt verändern, weil Heilung und Gerechtigkeit geschehen. Mit anderen das zu teilen, was ich habe, ist Gott gegenüber Dank für das, was ich habe. Und wenn ich das tue, dann wird die Herrlichkeit Gottes in meinem Rücken sein, wird sie mich stärken, wird sie mich schützen.

Gott ist überall da, wo ich niemanden unterjoche, auf niemanden zeige und niemanden diffamiere, sondern dem anderen mit Wärme begegne. Dann wird das Licht in der Finsternis aufgehen und der Herr wird mich führen und sättigen. Dann ist die Welt wieder so, wie Gott sie gemacht hat: Nämlich gut.

Und deshalb feiern wir Erntedank, um das tätige Danken Gottes durch unser Handeln nicht zu vergessen.

Amen!

Predigt am Erntedankfest 2018 in der Königin Luise-Gedächtniskirche in Berlin-Schöneberg, 7. Oktober 2018