Pfr. Martin Dubberke

Welche der Geist treibt…

Ich habe in meinem Garten einen Bereich, den ich nie mähe. Da wächst das Gras wild und in die Höhe. Und wenn ich dann draußen auf meiner Bank sitze, alles ruhig ist und der Wind sanft durch das hohe Gras streift, sieht es nicht nur schön aus, wenn die Halme sich im Winde biegen, sondern es entsteht auch ein wunderbares sanftes und die Seele entspannendes Rauschen.

Und dann gibt immer wieder Menschen, die in unseren Garten kommen und einfach nicht aufpassen, in das hohe Gras gehen und die Halme knicken und mit einem Male liegt alles geknickt, flach am Boden.

Manches richtet sich wieder im Laufe des Tages auf und manchen bleibt geknickt. Und wir wissen ja, wenn ein Rohr erst geknickt ist, kann man es nicht mehr gerade bekommen.

Manchmal ist unser Rücken krumm und wir können uns nur unter Schmerzen aufrichten. Und manchmal begegnet uns ein Mensch und wir sagen zu ihm: „Du siehst ja ganz schön geknickt aus.“

Dann hat die Seele gerade einen Knacks bekommen. Man kann es Menschen ansehen, wenn ihre Seele einen Knacks hat. Man sieht es ihren Augen an. Sie haben ihren Glanz verloren.

Menschen, deren Seele krank geworden ist, werden oft auch einsam, weil sie von anderen Menschen gemieden werden, weil man mit Ihnen nicht mehr zurechtkommt.

Oder von einer anderen Seite betrachtet: Wir werden alle älter. Ich erlebe es am eigenen Leib und ich sehe es zum Beispiel bei meinem Vater, der morgen 84 Jahre alt werden wird. Er hat vor einiger Zeit gesagt: „Weißt Du, mein Junge, bis 80 war eigentlich alles ok, aber mit dem Achtzigsten fing der spürbare Abbau an.“

Man läuft nicht mehr so aufrecht wie früher, die Kräfte lassen nach. Man hat nicht mehr die Kondition und braucht für alles länger. Und doch, im geknickten Rohr ist noch jede Menge Leben und der glimmende Docht, da ist noch Leben drin, da ist noch Glut. Da ist die Erfahrung eines langen Lebens. Da stecken viele Geschichten drin, die es noch zu erzählen gibt.

Da gibt es die Rücksichtslosigkeit in unserer Gesellschaft. Es fehlt der achtsame Umgang miteinander an vielen Stellen. Da wird im Laden ein alter Mensch am Krückstock oder Rollator angerempelt, weil man schnell an ihm vorbei möchte. Da wird man an der Kasse nervös, weil der alte Mensch vor einem nicht die vierundzwanzig Cent aus seinem Portemonnaie herausfingern kann.

Wir haben bei uns im LAFIM einen Anzug, mit dem man aus einem jungen Menschen in wenigen Minuten einen alten Menschen machen kann. Und so sind wir mal mit dem Anzug zu Netto gegangen und dann ist eine junge Frau in dem Anzug einkaufen gegangen. Sie ist an der Kasse fast wahnsinnig geworden, weil es ihr nicht gelungen ist, das Geld passend aus ihrem Portemonnaie zu nehmen.

Ich denke, das ist jetzt der richtige Moment, um mal den Predigttext aus Jesaja vorzulesen:

Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen.

Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen.

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus.

Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

Jesaja 42, 1-9

Wir verstehen diese Stelle als eine Ankündigung auf den kommenden Sohn Gottes. Also, auf Jesus. Und irgendwie erinnert die Stelle ja auch an Matthäus 17, 5:

„Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“

Bei Jesaja richtet sich der Text an die Exilanten. Also, als die Israeliten im babylonischen Exil waren und es den Babyloniern egal war, wie es den Israeliten erging.

Wir lesen diese Ankündigung ja heute aus der Perspektive von 2000 Jahren Christentum und damit in Verbindung mit der christlichen Botschaft.

Jesus hat uns etwas ganz wichtiges mit auf den Weg gegeben: Die Nächstenliebe. Und die Nächstenliebe ist die Keimzelle ewigen Friedens auf Erden. Also, wie wir es immer wieder singen: „nun ist groß Fried ohn Unterlaß, all Fehd hat nun ein Ende.“

Und so ist unser Predigttext auch eine Zeitansage: Noch ist nicht groß Fried ohn Unterlass. Noch ist das Recht nicht überall auf Erden aufgerichtet.

Noch achten wir nicht genug aufeinander. Noch werden Christen in aller Welt verfolgt. Noch kann man in Nordkorea für den Besitz einer Bibel hingerichtet werden oder ins Arbeitslager kommen.

Noch werden in 130 Ländern Christinnen und Christen benachteiligt.

Jesus hat uns die Achtsamkeit aufeinander und füreinander gelehrt. Er hat uns aber auch am Ende seines irdischen Wirkens die ganze Dimension unseres Glaubens deutlich gemacht, als er sagte: Geht hinaus in alle Welt…

Damit hat er deutlich gemacht, dass Nächstenliebe global zu denken und zu leben ist, denn Gott hat nicht nur ein Land, eine Region geschaffen, sondern die ganze Erde mit allen Menschen.

Und wir sind seine Werkzeuge, seine Mitarbeiter, die mit seiner Hilfe und der Unterstützung seines Sohnes und der Kraft des Heiligen Geistes, ihren Beitrag dafür leisten sollen, dass das Recht auf Erden aufgerichtet wird.

Und das können kleine Beiträge sein. Denn auch die kleinen Beiträge sind weltbewegend. So kann es reichen, wenn ich damit anfange, darauf zu achten, ob ich im Bus nicht einem alten Menschen einen Platz anbiete, weil er sich nicht mehr so gut festhalten kann, wie ich, auch wenn ich nach einem langen Arbeitstag müde bin.

Friede und Recht kann werden, wenn wir anfangen, auf unsere kleinen Egoismen zu verzichten.

Und wie heißt gleich noch mal der Wochenspruch?

Welche der Geist treibt, die sind Gottes Kinder,

Römer 8, 14

Also, lassen wir uns vom Geist treiben!

Amen.