Liebe Geschwister, strenggenommen, ist jetzt noch nicht so richtig Weihnachten. Noch befinden wir uns im Status der Vorfreude, wie vor der Bescherung, nur mit dem Unterschied, dass wir alle schon wissen, was auf uns zukommen wird. Schließlich feiern wir ja nicht zum ersten Mal in unserem Leben Heiligabend und Weihnachten. Wir wissen, dass Jesus geboren wird. Wir wissen, dass Jesus in einem Stall das Licht der Welt erblickt hat. Wir wissen um die Hirten auf dem Felde, denen der Engel begegnet ist, wir wissen um alle Geschichten von und über Jesus, seine Wunder, seine Passion, seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung. Eigentlich ist das alles nichts Neues für uns.
Und dennoch zieht es uns Jahr für Jahr besonders an diesem einen Abend im Jahr wie magisch in die Kirche. Es würde uns das fehlen, was uns an keinem der 52 Sonntage eines Jahres fehlt. Ich glaube, ich weiß auch warum, weil an keinem anderen Tag im Jahr die Botschaft so einfach, so klar ist, wie an diesem Tag: Christ, der Retter ist!
Es geht also ums gerettet werden und gerettet sein oder ganz kurz: ums Geborgensein. Also, die größte und tiefste Sehnsucht, die wir Menschen in uns tragen.
Der Heilige Abend ist daher ein Sehnsuchtsort, ein Ort, an dem man sich ganz und gar seiner Sehnsucht nach Frieden, nach einer heilen Welt hingeben kann. Der Heilige Abend ist ein Abend der Hoffnung, aber auch ein Abend der Zusage, dass diese Hoffnung sich erfüllen wird.
Ooops, wahrscheinlich ist das jetzt genau der Moment, bei dem Ihr aussteigt und Euch fragt, ob sich Euer Pfarrer jetzt einer tiefromantischen Traumwelt hingibt und es nun gänzlich unrealistisch wird.
Nein, ganz im Gegenteil. Jetzt kommt nämlich das Vollkornbrot und nicht das süße Milchbrötchen.
Habt Ihr Euch eigentlich einmal die Frage gestellt, warum im Gottesdienst am Heiligen Abend vor allem Propheten zur Sprache kommen?
Die Lesung aus dem Alten Testament stammt heute aus dem Propheten Jesaja und der Predigttext aus dem Propheten Micha. Und eigentlich ist auch das Weihnachtsevangelium aus dem Lukas-Evangelium nichts anderes als ein prophetischer Blick in die Zukunft.
Was stand noch einmal bei Jesaja?
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht.
Jesaja 9, 1aDenn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen…
Jesaja 9, 3Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Jesaja 9,5-6
Das sind doch alles Bibelstellen, die im Grunde genommen jede und jeder von uns auswendig kann, die einem so vertraut sind, dass man die Lieder hört, die aus diesen Versen gedichtet und komponiert wurden.
Und jetzt mal Hand aufs Herz, sind wir nicht eigentlich ein Volk, das im Finstern wandelt?
Sind wir nicht ein Volk, auf dessen Schultern seit zwei Jahren spürbar eine Jochstange drückt?
Hoffen wir nicht seit zwei Jahren, dass dieses Joch endlich zerbrochen wird?
Erleben wir nicht seit zwei Jahren, dass Menschen unter diesem Joch zusammenbrechen und sich die Gesellschaft spaltet?
Ich glaube, dass die meisten von uns emotional und seelisch noch nie in ihrem Leben näher an dem dran waren, was Jesaja schreibt. Ich glaube, dass wir in unserem Leben nie näher an der Sehnsucht nach Erlösung dran waren als heute.
Und Jesaja kündigt an, dass es da jemanden geben wird, der auf dem Thron sitzen wird und der Garant für Recht und Gerechtigkeit auf Ewigkeit sein wird.
Es wäre jetzt extrem verkürzt, unter dieser Aussicht eine Forderung zum Beispiel an eine Bundes- oder Staatsregierung abzuleiten. Und ich sage auch, warum: Weil weder ein Bundeskanzler noch ein Ministerpräsident auf diesem Thron sitzt. Der Garant für Recht und Gerechtigkeit ist nämlich jemand ganz anderes. Aber, dazu kommen wir erst später. Denn vorher werfen wir mal noch einen Blick auf den Predigttext aus dem Propheten Micha:
Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten. Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des HERRN und in der Hoheit des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein.
Hier möchte ich Euer Augenmerk auf drei kleine Aussagen lenken, die einem vielleicht nicht sofort ins Auge fallen:
…aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist …
Na klar, spricht Jesaja in Begriffen und Chiffren, die die Menschen damals sofort verstehen und entschlüsseln konnten – vorausgesetzt, die Augen, Ohren und Herzen waren nicht verschlossen oder verstockt. Das kennen wir doch heute auch noch. Auch wir gehören zu einem guten Teil zu den Verstockten – und damit meine ich jetzt nicht die Impfgegner und Coronaleugner, sondern jeden einzelnen von uns, weil in jedem von uns auch immer ein Verstockter steckt, einer, der nicht kann, der nicht will.
Also, ehe ich wieder eine Schleife mache, wie mich meine liebe Frau immer wieder mahnt, komme ich auf den Punkt: Wenn Micha sagt, dass da jemand kommt, der der Herr sein wird, dessen Ausgang und Eingang von Ewigkeit her gewesen sind, können wir uns sicher sein, dass damit keine Dauerkanzlerin gemeint sein kann, sondern jemand, der deutlich und dauerhaft über der weltlichen Macht steht, derjenige, der die eigentliche Richtlinienkompetenz hat. Und derjenige hat diese schon immer gehabt und wird sie auch immer haben – in alle Ewigkeit.
Und dann kommt wieder so eine Jochstelle – wie bei Jesaja:
Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten.
Als Heiligabend-Profis, wissen wir, dass diese Stelle natürlich auf Maria hin, die Mutter Jesu, gedeutet wird. Doch bis dahin wird die Plage währen.
Ich habe es geahnt. Gerade habe ich in einem Gesicht die Frage gesehen: Worauf will er jetzt hinaus? Und das gleiche Gesicht, signalisierte mir auch schon die nächste Frage: Warumsind wir denn dann heute so in aller Welt geplagt, obwohl der, von dem hier fortwährend die Rede ist, doch schon längst geboren, gestorben, auferstanden und zum Himmel aufgefahren ist?
Wir müssten doch eigentlich in paradiesischen Zuständen leben. Es müsste doch eigentlich aller Welt gut gehen?
Tja, wer diese Frage stellt, hat den zweiten Teil des Verses – aus welchen Gründen auch immer – überlesen:
Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten.
Ja, das ist natürlich ein Hinweis auf das Exil, aber es ist auch ein Hinweis darauf, dass eine Aktivität erfolgen muss, wenn Recht und Gerechtigkeit, wenn Friede in die Welt kommen soll, keiner mehr hungern soll, niemand mehr ermordet werden soll, weil er eine andere Meinung hat, wo es keinen Mob und keinen Pöbel mehr gibt, der andere Menschen auf eine Todesliste setzt, weil sie ihnen nicht in den Kram passen. Auf diese Weise kommt nämlich kein Frieden in die Welt.
Damit es Friede werde, gibt es nämlich eine ganz wesentliche Voraussetzung: Dich und mich. Ich muss mich bewegen, wenn ich Frieden haben möchte. Ich muss meine eigenen Einstellungen, Bequemlichkeiten, Annehmlichkeiten, Privilegien, Vorurteile, aber auch Ängste hinterfragen.
Wenn wir nach der Predigt das Bekenntnis singen werden: „Christ der Retter ist da!“ kann damit nicht die Haltung verbunden sein: Jesus wird’s schon richten. Da sind nämlich die Enttäuschungen vorprogrammiert.
Da schickt Ihr mir dann gleich massenweise die Kirchenaustrittserklärungen mit dem Hinweis, dass Jesus sein Leistungsversprechen nicht eingehalten hat, weil:
a. Wir haben Corona.
b. Wir eine Spaltung der Gesellschaft.
c. Wir haben keinen Weltfrieden.
d. Wir gehen auf eine Klimakatastrophe zu.
e. Wir haben Hunger in der Welt.
f. … und so weiter und so fort
Was würde ich dann tun? – Ich würde Euch zu Beichtgesprächen einladen.
Und da würde ich Euch dann z.B. fragen:
- Welchen Anteil hast Du an der Spaltung der Gesellschaft?
- Welchen Anteil hast Du am Hunger in der Welt?
- Welchen Anteil hast Du an der Klimakatastrophe?
Und das wären nur die Überschriften. Ihr erinnert Euch vielleicht, dass ich vorhin einmal von Richtlinienkompetenz gesprochen habe. Eine Richtlinienkompetenz wirkt nur, wenn alle in einem Team, einer Gemeinschaft, die Richtlinienkompetenz des Chefs, also in diesem Fall Jesus Christus akzeptieren und dieser aktiv folgen und nicht durch Verweigerung, Bockigkeit, egozentriertem Starrsinn sabotieren.
Oder, um noch einmal auf die Liedzeile zurückzukommen: „Christ der Retter ist da!“ – Ich kann nur gerettet werden, wenn ich mich auch retten lassen möchte. Es liegt also am Ende an und bei mir selbst, ob ich gerettet werde, ob sich die Verhältnisse in dieser Welt verändern, ob meine tiefe Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit endlich erfüllt wird, liegt bei mir.
Ich muss mich bewegen und ich darf mich von Jesus bewegen lassen.
Nicht umsonst schließt der Predigttext von Micha mit dem Satz:
Und er wird der Friede sein.
Er, ganz groß, dick und fett geschrieben: ER wird der Friede sein. Wollen wir Frieden haben, gibt es keine Alternative, als ihm zu folgen, sich der Richtlinienkompetenz Jesu zu unterstellen, seinem Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ vorbehaltlos und ohne Einschränkungen zu folgen.
Und das bedeutet nichts anderes als Umkehr. Das bedeutet für jeden einzelnen und jede einzelne von uns, sich die Frage zu stellen und vor allem zu beantworten, was mich hindert, dieses Gebot konsequent zu leben. Das nennt man z.B. Beichten.
Genau deshalb hören wir schon in der Christvesper das Weihnachtsevangelium, das eigentlich erst in der Heiligen Nacht geschieht. Denn da stehen so tolle Sätze drin, die wir vor lauter Romantik und Kitsch heutzutage eher als Situationsbeschreibung denn als Ereignis wahrnehmen, wie z.B.:
Und des Herrn Engel trat zu ihnen,
und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie…
Die „Klarheit des Herrn“ – Es braucht zuweilen genau diese Klarheit, dieses Licht, um zu erkennen, wo man steht. Die Klarheit des Herrn ist die Erkenntnis, sich auf den Weg zu machen, so wie die Hirten sich vom Felde aus – wohl zur halben Nacht – auf den Weg zu Krippe gemacht haben.
Und damit wage ich es, zu sagen, dass Euch die Sehnsucht nach dieser Klarheit heute hierher in die Kirche geführt hat. Also macht etwas daraus! Macht etwas aus dieser Erkenntnis! Macht Euch auf den Weg! Das ist die Botschaft von Weihnachten: Macht Euch auf den Weg! Bewegt Euch! Und er wird der Friede sein.
Amen.
Pfarrer Martin Dubberke, Predigt zur Christvesper am 24. Dezember 2021 in der Johanneskirche zur Partenkirchen über Micha 5, 1-4a
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