Pfr. Martin Dubberke

Und der Engel sprach

Ich halte hier in meiner Hand einen kleinen Bronze-Engel, den das Rauhe Haus in Hamburg verkauft. Er wiegt 99 Gramm, liegt wunderbar in der Hand und ist nicht einer dieser klassischen Pausbäckchen-Engel. In den nächsten Tagen werde ich von dem 100 Stück bestellen. Also, gewissermaßen eine ganze Armee von Engeln, die ich dann im Schrank meines Büros stationieren werde, um sie vor dort aus in die Welt zu bringen.

Diesen Engel verschenke ich gerne bei Einführungen, wenn wir eine neue Pflegedienstleitung oder einen Geschäftsführer oder, oder, oder einführen oder jemand ein besonderes Jubiläum haben.

Und jedes Mal sage ich den Menschen, denen ich einen solchen Engel schenke, dass er den Besitzer an die Liebe Gottes erinnern soll, dass immer jemand hinter einem steht, egal wie schwierig die Situation gerade ist, wie herausfordernd gerade die Aufgabe ist, der man sich stellen muss, dass immer jemand da ist, auch wenn man das Gefühl hat, dass niemand da ist. Dieser Engel steht dafür, dass es immer jemanden gibt, der um einen herum ist oder in Gestalt eines Freundes oder einer guten Kollegin einen auffängt, berät. Dieser kleine Bronzengel, der – tut man ihn sich in die Hosentasche – wunderbar in die Hand schmeichelt, soll einen an den stärkenden Segen Gottes erinnern, den man bekommen hat. Und notfalls kann es auch ein Schutzengel sein, den man in der Not jemandem an den Kopf werfen kann, um sich zu retten. Das ist dann der Moment, bei dem die Menschen immer schmunzeln, wenn ich dann auch so eine schöne Wurfbewegung mache. Es ist ein sinnliches Bild dafür, wie sich der Schutzengel in einer Gefahr zwischen mich und die Ursache der Gefahr wirft.

Ja, natürlich könnten Sie mich jetzt fragen, was habe ich als Protestant mit Engeln zu tun. Ist das nicht eher eine katholische Angelegenheit. Nein, auch wir Protestanten kennen Engel und ich glaube auch ganz fest daran, dass es Engel gibt, aber eben nicht, dass sie aussehen wie Barockengel mit einer Windel dran. Nein, ich glaube daran, dass mir in meinem Leben so mancher Engel begegnet ist, der meinem Leben den Kick in die richtige Richtung gegeben hat und mir gesagt hat, was ich tun sollte.

Allein, dass ich heute hier auf dieser Kanzel stehe und Pfarrer bin, hat damit zu tun, dass mir ein Engel in meinem Leben begegnet ist. Das war damals Pfarrer Martin Reuer. Er hat mich gefragt, ob ich Kindergottesdiensthelfer werden möchte. Hätte es ihn nicht gegeben, wäre ich vielleicht doch Schauspieler geworden.

Martin Reuer war damals der Mann, den mir Gott gesandt hat, damit ich weiß, was ich in meinem Leben machen soll. Er war einer meiner ganz wichtigen Engel, um nicht zu sagen: Der entscheidende Engel.

Und irgendwie hatte er mit meinem Engel, den ich hier in der Hand halte eine gewisse Ähnlichkeit. Er war auch sehr schlank und hoch aufgeschlossen. Er schaute auch ein wenig ernst in die Welt und wenn man genau hinsah, erkannte man auch den großen Jungen in seinen Augen, den Schalk in seinem Nacken. Auch seine Haltung war ein wenig wie dieser Engel: Von stiller Nachdrücklichkeit. Er sprach leise und mit hoher Autorität. Ja, auch er konnte laut sein und musste erleben, was passiert, wenn man nicht auf den Engel und damit den Boten Gottes hört, sondern sein eigenes Ego in den Vordergrund stellt. Engel zu sein, kann auch bedeuten, dass Dich andere nicht mögen und wegdrängen.

Als Engel muss man auch in der Lage sein, den Frust auszuhalten, wenn der andere partout nicht dein für ihn Engelsein erkennen möchte. Ich glaube, wenn mehr Menschen die Engel Gottes, die ihm begegnen erkennen und ihnen folgen würden, sähe es anders in dieser Welt aus.

Wer von Ihnen die Losungen liest, wird sich jetzt vielleicht an die Losung vom Donnerstag erinnern, vor allem wenn Sie noch ein wenig die nächsten Verse gelesen haben. Da heißt es im 2.  Buch Mose, Kapitel 23, die Verse 20 bis 22:

Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe. Hüte dich vor ihm und gehorche seiner Stimme und erbittere ihn nicht, denn er wird euer Übertreten nicht vergeben, weil mein Name in ihm ist. Wirst du aber auf seine Stimme hören und alles tun, was ich dir sage, so will ich deiner Feinde Feind und deiner Widersacher Widersacher sein.

Hier können wir sehr schon nachlesen und erfahren, wie wichtig es ist, dem Engel zu folgen.

Ich habe in dieser Woche mir schon einmal Gedanken über Engel machen müssen, als ich am Donnerstag in der Wochenandacht über die Losung gesprochen habe und heute, habe ich einen Predigttext, in dem ein Engel die zentrale Rolle spielt.

Ich halte das nicht für einen Zufall. Vor allem, wenn ich mir die Situation in dieser Welt und in diesem Land anschaue. Ich mag schon manchen Morgen oder manchen Abend nicht mehr in die Zeitung schauen oder das heute journal einschalten. Die Wette um den ersten Platz der Meldung könnte ich nahezu jeden Tag gewinnen. Trump – nein, keine Angst, ich schwinge mich nicht in die Reihe der Prediger, die wider Trump predigen. Wozu auch, das Thema ist ausgepredigt. Da gibt es nichts Neues, sondern eher immer wieder nur Bestätigendes. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie selten nur noch der Name Putin in den Nachrichten vorkommt?

Also, wenn es nicht Trump ist, dann ist es das, was hier direkt um uns herum geschieht. Ich denke gerade an Chemnitz und Köthen, weil das seit Tagen durch alle Nachrichten geht und vielleicht sogar die Regierung unseres Landes sprengen kann.

Es findet in unserem Land etwas statt, das sich in beängstigender Weise entwickelt. Und wenn ich einen Blick in das zweite Buch Mose werfe, dann werden Sie sofort erkennen, was ich damit meine. Dort heißt es im 23. Kapitel:

  • Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten;
  • du sollst nicht einem Schuldigen Beistand leisten, indem du als Zeuge Gewalt deckst.
  • Du sollst der Menge nicht auf dem Weg zum Bösen folgen und nicht so antworten vor Gericht, dass du der Menge nachgibst und vom Rechten abweichst.
  • Du sollst den Geringen nicht begünstigen in seiner Sache.
  • Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen in seiner Sache.
  • Halte dich ferne von einer Sache, bei der Lüge im Spiel ist. Den Unschuldigen und den, der im Recht ist, sollst du nicht töten; denn ich lasse den Schuldigen nicht recht haben.
  • Du sollst dich nicht durch Geschenke bestechen lassen; denn Geschenke machen die Sehenden blind und verdrehen die Sache derer, die im Recht sind.
  • Einen Fremdling sollst du nicht bedrängen; denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid.

Da ist alles drin, was uns in diesen Tagen beschäftigt:

  • Fake-News
  • Massenaufläufe und rechte Zusammenrottungen
  • Heulen mit der rechten Seite, um die Wahlen zu gewinnen
  • Korruption und Wahlgeschenke
  • Das Thema Flüchtlinge und Migration

Und nicht nur das. Da steht auch ganz genau drin, was wir zu tun haben. Natürlich könnte ich jetzt wieder sagen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Das stimmt auch, aber in dieser Liste aus dem 2. Buch Mose wird es wieder konkret, was das im Detail für jeden von uns bedeutet: Nämlich Farbe zu bekennen.

Ich spüre angesichts der Bilder im Fernsehen und den Nachrichten in den Zeitungen Ohnmacht und Hilflosigkeit, weil ich nicht weiß, wie ich dagegen arbeiten kann. Ich habe das Gefühl, dass das alles eine gefährliche Dynamik entwickelt hat, der ich alleine am Ende nicht mehr gewachsen bin. Und gleichzeitig weiß ich, dass ich denen nicht das Feld, nicht mein Land, nicht meine Freiheit, unsere Freiheit überlassen möchte.

Ich stehe hier auf der Kanzel im geschützten Raum und rede schlaue Worte. Und ja, ist es nicht eher die Verantwortung der Politiker, das wieder zu richten? Nein, es liegt in meiner Verantwortung. Schließlich wähle ich sie doch. Es liegt in meiner Verantwortung, wenn ich in einem Café nichts sage, wenn zwei Tische weiter widerwärtige rechte Parolen ausgetauscht werden.

Und ja, ich kann gut verstehen, wenn es nicht leicht fällt Farbe zu bekennen. Wenn da dann so einer vor einem steht, dessen Gesicht volltätowiert ist mit Nazisymbolen und aus seinen Augen der Hass spricht, dann ist das durchaus furchteinflößend.

Das ist dann der Moment, wo ich den Engel in meiner Hand spüren darf und mich daran erinnern darf, wer wirklich hinter mir steht.

Und damit komme ich endlich, ja endlich zum Predigttext. Und vielleicht werden Sie sich wundern, aber ich habe beim Lesen dieses Textes noch einmal einen ganz neuen Blick auf die Geschichte gewonnen und auch auf Petrus. Das ist der Grund, weshalb ich einen so langen Anlauf genommen habe.

Ich habe mir die Frage gestellt, wofür die Bewacher und die Ketten in dieser Geschichte über den inhaftierten Petrus stehen. Sind diese nicht eher ein Bild dafür, wie einen die eigenen Ängste und die Situation der Gefahr lähmen, fesseln und bis zur Untätigkeit gefangen halten? Sind sie nicht Ausdruck des „Ich kann doch nichts ausrichten! Ich sehe zwar, was da um mich herum passiert, aber ich kann es doch nicht ändern, ohne dafür selbst draufzugehen? Und wem nützt es, wenn ich mein Leben verliere. Das wird doch nichts ändern.“

Ja, da denke ich doch sofort an das bekannte Lied:

„In Ängsten die einen, und die anderen leben.“

Das hat Peter Janssens 1975 auf einen Text von G. Hildebrandt komponiert hat. Es wäre interessant, wie neue, aktuelle Strophen für dieses Lied lauten würden.

Aber soll ich Ihnen etwas verraten. Beim Lesen dieser Geschichte von der Befreiung des Petrus fiel mir noch etwas anderes auf. Für mich steht die Geschichte in einem engen Zusammenhang mit der dreifachen Leugnung durch Petrus. Sie erinnern sich, als Petrus dreimal geleugnet hat, Jesus zu kennen und einer der Seinen zu sein.

Erst hier im Gefängnis, als er seine physische Machtlosigkeit erlebte, seine absolut reale und körperlich erfahrbare Ohnmacht, war er reif genug, die eigentliche Macht und die eigentlichen mit Gott verbundenen Möglichkeiten für sein Leben und Wirken zu erfahren. Erst hier, als der Engel ihn weckte und seine Fesseln von ihm abfielen und sie an den Wachen vorbeigingen und sich das große Tor ganz von alleine öffnete, erkannte Petrus, was er mit Gottes Hilfe aus- und errichten kann. Erst hier, erst jetzt hat er die wirkliche Macht Gottes geschaut und erfahren. Es ist die Macht der Befreiung und der Freiheit. Ohne dieses Erlebnis hätte Petrus – und da bin ich mir sicher – nicht das ausrichten können, was er dann in seinem Leben ausgerichtet hat.

Und wir lernen noch ein zweites aus dieser Geschichte. Im 5. Vers des Predigttextes heißt es:

…aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.

Das bedeutet: Unterschätze niemals die Kraft des Gebets. Die Fürbitte der Gemeinde sorgte mit dafür, dass der Engel zu Petrus in das Gefängnis kam. Das gemeinsame Gebet schafft Gemeinschaft und Gemeinschaft macht stark und wird am Ende zu einer lauten Stimme.

Dieses Erlebnis im Gefängnis schildert aus meiner Sicht auf wunderbare und beeindruckende Art und Weise einen großartigen spirituellen Reifungsprozess von Petrus. Alles, was ihn zuvor gefangen nahm, ein ganzes politisches und gesellschaftliches System mit all seine Korruptheit, seinem verzweifelten Machterhalt, mit seiner Angst vor Veränderung, die auf Liebe und Nächstenliebe beruht, fiel von ihm ab.

Liebe, Nächstenliebe kann Unrecht sprengen und dem anderen vor Augen führen, dass er im Unrecht ist. Denken wird doch nur an die berühmte Stelle aus der Bergpredigt, wo Jesus sagt:

Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar… Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei.
Matthäus 5, 39.41

Da steht im Hintergrund, dass jeder römischer Soldat, dich nötigen konnte, eine Meile mit ihm zu gehen und zwar als sein Packesel. Die zweite Meile, die man freiwillig mitgehen sollte, war Ausdruck des Protestes, des Widerstands gegen das Unrecht, um dem Römer zu beschämen. Genauso, wie niemand das Recht hat, Dich zu schlagen. Halte ihm auch die andere Wange hin, damit er sein Unrecht spüren kann.

Liebe ist für Menschen, die nur sich selbst zuerst sehen, die nur an sich selbst zuerst denken, die größte Gefahr, weil sie durch die Liebe mit ihrer eigenen Erbärmlichkeit konfrontiert werden. Und das muss man aushalten können. Und wer hält das schon aus? Erbärmlichkeit heißt, dass man sich meiner erbarmt. Das bedeutet, dass ich schwach bin. Und paradoxerweise ist es genau diese Erbärmlichkeit, aus der heraus sie sich selbst definieren, weil sie sagen: „Wir werden nicht gesehen. Wir sind die nicht gesehenen. Und wir zeigen Euch jetzt, dass wir gesehen werden müssen.“ Und genau daraus leiten sie ihren Machtanspruch ab.

Wir Christen stellen dem die Nächstenliebe entgegen und dazu gehört der gleiche Mut, den ich brauche, um eine weitere Meile mitzugehen, um meine linke Wange hinzuhalten. Doch dazu muss man sich auch frei und mutig fühlen.

Und was das bedeutet, wenn die Fesseln der Verzagtheit von einem fallen, das erzählt uns die Geschichte von der Befreiung des Petrus durch den Engel. Als Petrus befreit war, sagte er:

„Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.“

Hierzu habe ich etwas sehr Hilfreiches gelesen: „Es handelt sich bei der Apostelgeschichte um eine „biographisch-pathetische Geschichtsschreibung“ (Dormeyer/Galindo), eine antike Form der Geschichtsschreibung, die darauf zielt, den Leser zu beeinflussen. Ein Urteil über die „bösen“ Juden sollte nicht aufgrund dieser Darstellung gefällt werden!“ (VELKD, Lesepredigten 2018, S. 416).

Warum empfinde ich das als hilfreich? Weil damit deutlich wird, dass es sich um eine Metapher des Autors handelt. Wahrscheinlich würde Petrus heute an dieser Stelle sagen, dass Gott ihn vor dem befreit und gerettet hat, was die ewig Gestrigen erwartet haben.

Und genau daraus hat er Kraft und Zuversicht gezogen, seinen Weg zu gehen, dem Engel bis an dem ihm bestimmten Ort zu folgen, so wie es im 2. Buch Mose, Kapitel 23, Vers 20 heißt:

Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe.

Herr, lass uns deinen Engel erkennen und ihm auf dem Weg folgen, der uns zu dem von dir bestimmten Ort bringt.

Amen.

Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis am 16. September 2018 in der Königin-Luise-Gedächtniskirche in Berlin Schöneberg über Apostelgeschichte 12, 1-11, Perikopenreihe IV.