Pfr. Martin Dubberke

Schreibtische

In der letzten Biblischen Mittagspause saßen wir um meinen Tisch herum und kamen so miteinander ins Gespräch. Eigentlich wollten wir uns ja über eine Zeile aus der neunten Strophe des Liedes „Jesus ist kommen“ unterhalten. Also, über „Schwöret die Treue mit Herzen und Händen.“ Aber was passierte? Wir unterhielten uns über den Ort, an dem wir arbeiten, zum Teil sogar schon seit Jahrzehnten. Wir hielten ein wenig Rückschau, lachten, tauschten ernste Worte aus. Und irgendwie kamen wir nicht dazu, die Andacht vorzubereiten, die ja nun meine letzte in dieser Runde ist.

Tja, und so saß ich dann gestern Abend zu Hause im Bonhoeffer-Haus an meinem Schreibtisch, der vor dem Fenster steht. Und wie ich so gedankenverloren – naja, eher Gedanken suchend – aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass gegenüber mein Nachbar auch an seinem Schreibtisch sitzt. Ich muss sofort an Matthias Claudius denken „Und unsern kranken Nachbarn auch.“ – Also, nicht, dass mein Nachbar krank ist, aber irgendwie erinnert es mich daran, dass mein Nachbar ja auch mein Nächster ist, den ich so von meinem Schreibtisch aus sehe. Sein Schreibtisch steht in einer Ecke und ich glaube, dass er beim Arbeiten nicht aus dem Fenster schauen kann, sondern nur in seinen Monitor, der in besagter Ecke steht. Und genau in dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mir mal Gedanken über Schreibtische und ihre Auswirkung auf das Denken, das theologische Reflektieren machen könnte.

Naja, und jetzt, da ich gehe, dachte ich mir: Schau Dir mal die Schreibtische an, an denen Du so die vergangenen zehn Jahre gearbeitet hast. Allein hier im LAFIM haben meine Schreibtische in vier verschiedenen Büros gestanden. Und dann habe ich in der Zeit an zwei verschiedenen Orten gewohnt und nicht zuletzt gibt es noch in dem Haus, in dem ich wohne, einen Schreibtisch, an dem mal Dietrich Bonhoeffer gearbeitet hat.

Also, warum nicht mal eine Schreibtisch-Andacht machen?

Ich denke an meinen ersten LAFIM-Schreibtisch. Ein klassisches, altes, schweres Teil, das im Raum 113 stand, meinem ersten Büro, gleich da hinten am Künstlereingang. Hier stand der Schreibtisch mitten im Raum, mit Blick auf die Wand. Tja, kein weiter Blick, fast engstirnig. Aber irgendwie passte das zu meiner Anfangszeit. Der Raum war überschaubar. Ich konnte mich so langsam an die Größe des LAFIM gewöhnen. Und ich schaute in diesem Büro von meinem Schreibtisch aus auf einen Tresor, so einen richtigen Franz-Jäger-Berlin-Tresor, an dem Egon Olsen seine wahre Freude gehabt hätte und tolle Pläne entwickelt hätte. Ja, auch ich hatte damals einen Plan: Erst einmal mit Gottes Hilfe die Probezeit zu überleben. Keine Ahnung, wer vorher an meinem Schreibtisch gearbeitet hat. Er hat mir keine Geschichten erzählt. Aber ich habe meine Probezeit mehr als nur überlebt.

Und als dann mein Vorgänger, mit dem ich vier Monate parallel gearbeitet habe, in den Ruhestand ging, zog ich in sein Büro. Das ist das, wo heute Anette sitzt. Er hatte seinen Schreibtisch, so einen, den man mal schnell zu einem Stehpult hochfahren konnte, mit nach Hause genommen. So blieb mir nur sein alter Schreibtisch. Auf dem lagen eine Menge Altlasten, Erwartungen, Wünsche und vieles andere mehr. Der Raum war nun deutlich größer. In meinem Rücken standen alte Vitrinenschränke, wie sie in den Wohnzimmern meiner Großeltern standen, wo man die Kristallgläser drin hatte und einen Weinbrand. Hier waren es lauter Akten, Diakästen, Fotoalben. Es war ein erdrückender Raum, in dem die Zeugen einer jahrzehntelangen Betriebszugehörigkeit meines lieben Vorgängers standen.

Tja, und auch hier stand der Schreibtisch mitten im Raum, kein Blick aus dem Fenster, sondern ins Vorzimmer, das nicht weniger verbaut war. Ich mag keine Schreibtische, die mitten im Raum stehen. Sie trennen mich von meinem Nächsten und verleiten dazu, eine Hierarchie zu erzeugen. Ich liebe es, wenn mein Schreibtisch vor einem Fenster steht, dann habe ich die Weite, die ich zum Denken und Beten brauche. Und so war der weite Raum meines neuen Büros eigentlich auch irgendwie eng. Der Blick rund um diesen Schreibtisch konfrontierte mich mit all dem, was mich hier im LAFIM erwartete: Vergangenheit und Zukunft. Widerstand und Bewegung. Blockaden überwinden und am besten durchbrechen, neue Perspektiven schaffen. Was auch nicht immer einfach war, weil es ja noch andere Schreibtische hier im LAFIM gab und gibt, an denen andere arbeiten, die je ihre Perspektive auf die Sache haben.

Schreibtisch 310 | Bild: Martin Dubberke

Tja, und dann kam nach wenigen Wochen auch schon der dritte Schreibtisch-Ort in diesem Haus. Es ging unters Dach. Hier wurde es im wahrsten heiß. Manches Mal wurde hier das Hirn gegrillt. Aber hier oben waren wir von manchem Ballast befreit. Jetzt fing wirklich etwas Neues an. Der Raum hatte keine Altlasten, sondern war neu, selbst gestaltet und hell. Gut, dank meiner Größe gab es unter dem Dach nicht so viele Möglichkeiten, den Schreibtisch aufzustellen. Und so stand der Tisch zwar irgendwie mitten im Raum und wieder gab es keinen Blick aus dem Fenster. Es fehlte wieder die Weite. Ich blickte auf die Tür, von wo die neuen Aufgaben reinkamen. Hier habe ich fast acht Jahre gesessen, den Blick auf die Menschen, die zu mir ins Büro kamen. Wollte ich mal aus einem Fenster schauen, musste ich mich wenig nach hinten lehnen und durch das Dachfenster in den Himmel schauen. Weiter ging nicht 😉

So hatte ich hier in diesem Büro an diesem Schreibtisch immer die spannende Kombination von Nähe und Weite, von begrenzter und unendlicher Sicht, von Vision und Realität. Das war keine schlechte Kombination, mit dem Schreibtisch dem Himmel so nah zu sein und vom Schreibtisch aus, dem Vorstandsvorsitzenden, der das Büro darunter hat, quasi auf dem Schoß zu sitzen. Das bildete auch stets eine besondere Herausforderung, zwischen zwei Bossen zu sitzen, einem über mir und einem unter mir. Da kann es einen schon manchmal schier zerreißen.

Schreibtisch 114 | Bild: Martin Dubberke

Und so kam ich dann nach acht Jahren in die 114 mit sechs Metern Fensterfront nach draußen ins Leben. Und da gab es eine ganz klare Entscheidung: Mein Schreibtisch muss vor dem Fenster stehen. Jeden Tag genieße ich diesen Blick – habe ich genossen. Die Menschen, die kommen und gehen, die Kolleginnen und Kollegen, die eine rauchen gehen. Und manches Mal sehe ich an ihrem Rauchen, dass es ihnen nicht so gut geht. Da habe ich zuweilen auch schon mal Tür aufgemacht, um es dem anderen leichter zu machen, bei mir mal so ganz unverbindlich, nachbarschaftlich, kollegial vorbeizuschauen.

Hier habe ich stets den Blick ins pralle Leben gehabt: Wie Ehemänner ihre Frauen abholen und sie einander liebevoll einen Kuss schenken oder AZUBIs ins Mamataxi steigen. Wie oft habe ich von diesem Schreibtisch morgens Kolleginnen und Kollegen zugewunken, mich am offenen Fenster unterhalten. Manch einer hat die Richtung geändert und ist zu mir ins Büro gekommen. Das Leben zu sehen, verändert die Perspektive auf vieles und verändert auch das eigene Leben und Arbeiten, wenn Freiheit sichtbar und spürbar ist. Und ich denke daran, was ich an diesem Schreibtisch alles erarbeitet, gelesen, gedacht und geschrieben habe, wie z.B. die Handreichung „Wie begegnen? – Zwischen Dialog und Distanz.“

Dietrich Bonhoeffers Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer im Bonhoeffer-Haus (Bild: Martin Dubberke)
Dietrich Bonhoeffers Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer im Bonhoeffer-Haus | Bild: Martin Dubberke

Und noch ein Schreibtisch: Nachdem ich nun schon so vielen Menschen aus aller Welt das Zimmer von Dietrich Bonhoeffer gezeigt habe, so viele Menschen sich an seinen Schreibtisch gesetzt haben, sich daran haben fotografieren lassen, habe ich mich nun gestern Abend auch einmal an seinen Tisch gesetzt und geschaut, was mir dieser Tisch wohl erzählen, welche Perspektive sich an diesem Tisch eröffnen könnte. Der Tisch steht so, dass ich links von mir das Fenster zum Nachbargrundstück habe, wo früher einmal Bonhoeffers älteste Schwester gewohnt hat. Und wenn ich am Schreibtisch sitzend nach vorne schaue, blicke in die Nische mit dem Wachbecken. Und dann sitze ich da an diesem Schreibtisch und lausche, höre die Vögel und denke in der Stille dieses Raumes daran, was in diesem Zimmer alles geschehen, gesagt und gedacht wurde, was ihn bewegt hat. Hier hat er seinen Essay „Nach zehn Jahren“ geschrieben, wo er 1943 zurückgeschaut hat auf zehn Jahre Nationalsozialismus, zehn Jahre Diktatur, zehn Jahre Widerstand und was Widerstand und Diktatur mit Menschen macht. Und dann denke daran, dass er an diesem Schreibtisch auch sein Glaubensbekenntnis geschrieben hat:

Ich glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube,
dass Gott uns in jeder Notlage
soviel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben müsste alle Angst
vor der Zukunft überwunden sein.

[Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.]

Ich glaube,
dass Gott kein zeitloses Fatum ist,
sondern dass er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet und antwortet.

Es wird deutlich, dass Glauben ein Handeln zur Folge hat, das alles andere in Bewegung setzt und die Welt verändert, zum Guten verändern kann.

Neue Perspektiven | Bild: Martin Dubberke

Tja, und nun wechsle ich mit meinem Schreibtisch mal wieder die Perspektive. In Zukunft wird mein Schreibtisch in meinem Amtszimmer in Partenkirchen stehen. Und natürlich wird er auch hier wieder vor einem Fenster stehen, von dem aus ich auf die Berge sehen kann. Mal sehen, wie diese Perspektive mein Denken, mein theologisches Arbeiten und meine Zwiesprache mit Gott beeinflussen wird.

Schreibtische sind Orte des Denkens, Reflektierens und der Zwiesprache mit Gott. Nähern Sie sich doch heute, jetzt gleich nach der Andacht mal ihrem Schreibtisch von dieser Perspektive aus.

Amen.

Wochenandacht im Landesausschuss für Innere Mission am 27. Juni 2019