Pfr. Martin Dubberke
Meine Zeit in deinen Händen | Bild: Martin Dubberke

Meine Zeit in Gottes Händen

Meine Zeit steht in deinen Händen.
Psalm 31,16a

Liebe Geschwister, lasst uns einfach mal gemeinsam diesen Vers laut miteinander aussprechen und dann darauf achten, was mit uns geschieht, was in uns vorgeht, wenn wir ganz bewusst sagen: „Meine Zeit steht in deinen Händen.“

Also lasst es uns wagen:

„Meine Zeit steht in deinen Händen.“

[Nachwirken lassen]

„Meine Zeit steht in deinen Händen.“

Ich weiß nicht, wie es Euch dabei ergangen ist ergeht. Ich persönlich fühle mich deutlich leichter, weil ich das Gefühl habe, loszulassen von dem, was mich bindet. Was aber bindet mich? – Meine Angst vor der Zukunft? Meine Angst, nicht allen und allem gerecht werden zu können? Meine Angst an Corona zu erkranken, obwohl ich geimpft bin? Meine Angst um meine Familie und Freunde? Meine Angst zu versagen? Meine Angst, nicht genug geliebt zu werden?

Wenn ich das Psalmwort ausspreche:

„Meine Zeit steht in deinen Händen“,

spüre ich mit einem Male Erleichterung, Geborgenheit, aufgehoben sein. Wenn meine Zeit in seinen Händen steht, fühle ich mich frei von all dem, was mich durch Konvention und selbst auferlegte Zwänge bindet.

Wer jetzt von Euch glaubt, dass ich dann mit einem Male frei von aller Verantwortung bin, der irrt.

Wenn meine Zeit in Gottes Händen ist, bedeutet das auch, dass ich nie weiß, wie viel irdische Zeit mir oder mit meinem Nächsten beschieden ist.

Gott trägt mich durch mein Leben, damit es mir leichter fällt, dieses irdische Leben zu bestehen und in diesem Leben die Verantwortung zu tragen, die mir Gott meinem Nächsten gegenüber, mir selbst und seiner Schöpfung gegenüber gegeben hat.

Auch die Zeit ist ein Mitgeschöpf. Hugo von Hofmannsthal hat in seinem Libretto für den Rosenkavalier so wunderbare Worte für die Zeit gefunden:

Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters,
der uns alle geschaffen hat.

Und die Zeit ist älter als der Mensch, denn der Mensch wurde erst am Ende der Erschaffung der Zeit geschaffen. Indem Gott an jedem der sieben Tage etwas Neues schuf, schuf er zugleich auch die Zeit.

Und deshalb hat er uns mit seiner Schöpfung auch die Zeit anvertraut. Wir gehen in vielen Dingen verschwenderisch mit der Ressource Zeit um. Nur ein kleines Beispiel. Ich wurde in diesem Jahr zu einer Mitgliederversammlung eines großen Trägers eingeladen. Dazu musst man eine ganz schöne Strecke Weges zurücklegen. Lange Rede, kurzer Sinn: Für zweieinhalb Stunden sollte ich rund elf Stunden Fahrzeit – hin und zurück – einsetzen. So, und nun stellt Euch mal vor, wenn mehr als zweihundert Menschen angefahren kommen, wie viel Fahrzeit das bedeutet – mal vom ganzen Spritverbrauch abgesehen, der auch damit verbunden ist. All das kann ich heutzutage mit der gleichen Qualität auch in einer Videokonferenz abarbeiten. Aber der Träger wollte das nicht, weil es ihre Satzung nicht hergab. Ich sagte daraufhin meine Teilnahme mit Hinweis darauf, dass man dann die Satzung ändern sollte, ab, weil der Einsatz meiner Zeit in keinem Verhältnis zum Ergebnis stehen konnte. Und vergessen wir nicht die Kosten und den Einsatz weiterer Ressourcen, die damit verbunden sind, wenn sich so viele Menschen auf den Weg machen müssen…

In unserem alltäglichen Leben haben wir viele solcher Situationen, in denen wir die Zeit als eine Ressource aus dem Blick verlieren. Wenn wir von Umweltschutz sprechen, gehört dazu nach meiner Überzeugung auch der Zeitschutz. Doch das hat meines Wissens, die Umweltpolitik – auch innerkirchlich – noch nicht auf dem Schirm. Wir verschwenden und verlieren viel Zeit in unserem Leben, weil wir es uns oft so kompliziert machen oder so prinzipiell sind.

Das gilt auch für mich selbst. Auch ich muss mir das immer wieder mal vor Augen halten. Wir packen unsere Zeit mit so vielen Dingen voll, dass wir es zuweilen gar nicht schaffen, gar nicht schaffen können.

Wenn meine Zeit in seinen Händen steht, bedeutet das auch, mit dieser Zeit verantwortungsvoll umzugehen, weil meine irdische Zeit begrenzt ist.

Maßband des Lebens | Bild: Martin Dubberke
Maßband des Lebens | Bild: Martin Dubberke

Ich habe hier einmal ein Maßband mitgebracht. Wenn ich mir so anschaue, wie alt die Menschen geworden sind, die ich in diesem Jahr beerdigt habe, so waren die meisten von ihnen um die 90 Jahre alt. Also, wenn wir davon ausgehen, dass wir 90 Jahre alt werden könnten, wären das auf dem Band 90 Zentimeter. Ich bin 57 Jahre alt. Sprich, dann hätte ich schon 57 cm verbraucht, und dann wären 32 cm das, was mir noch bliebe. Daran sehe ich wie begrenzt meine irdische Zeit ist und ich weiß nicht einmal, weil ja meine Zeit in seinen Händen liegt, ob ich diese Zeit noch ausschöpfen werde, ob ich gesundbleiben werde, ob die Menschen, mit denen ich zusammenlebe, meine Frau, meine Kinder, meine Familie, meine Freunde mich so lange umgeben werden.

Unser Leben spielt sich vor allem vor dem Horizont unserer irdischen Lebenszeit ab, aber eigentlich leben wir vor dem Horizont der Ewigkeit, dem ewigen Leben. Was verändert sich in meinem Leben im Bewusstwerden dieses Horizonts?

Andreas Gryphius schrieb – nebenbei gesagt – 1637 unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges das Sonett „Es ist alles eitel“, mit dem er sich auf den Prediger Salomo bezog:

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel.
Prediger 1,2

Oder Lateinisch: Vanitas vanitatum. Gryphius schloss das Sonett mit den Versen:

Noch will, was ewig ist,
kein einzig Mensch betrachten!

Genau! Bewusstes Leben. Der Prediger Salomo hat uns das heute in der Lesung so wunderbar und eindrücklich vor Augen gehalten:

Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
Geboren werden hat seine Zeit,
sterben hat seine Zeit;
[…]
weinen hat seine Zeit,
lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit,
tanzen hat seine Zeit;
[…]
Prediger 3, 1-2.4

Unser Leben besteht aus Zeitabschnitten. Und wir können nur in einem Zeitabschnitt leben. Im Hebräischen steht an dieser Stelle der Begriff „Äth“. Und das bedeutet Dauer, ein Zeitraum mit Anfang und Ende. Auch ein Jahr hat einen Anfang und ein Ende. Auch eine Pandemie hat ihre Zeit. Und da kann ich mich noch so sehr an eine andere Zeit erinnern und eine neue Zeit erhoffen, aber ich lebe erst einmal in dieser Zeit und kann dieser Zeit nicht entfliehen. Aber, im Wissen darum, dass meine Zeit in seinen Händen liegt, kann ich genau aus diesem Wissen und Vertrauen heraus durch eine solche Zeit gehen, weil in dieser Zeit das gilt, was Dietrich Bonhoeffer einst in seinem Morgengebet zu Gott gesprochen hat:

Du wirst mir aber nicht mehr auferlegen,
als ich tragen kann.
Dietrich Bonhoeffer

Wer das aussprechen kann, besitzt ein tiefes Gottvertrauen. Und solches Gottvertrauen, verändert dich, mich selbst, uns.

So, und damit kommen wir nun zum Ende des Zeitabschnitts, der sich Jahr nennt. Wir befinden uns am Ende des Jahres 2021. Nur noch wenige Stunden und das Jahr ist vorbei. Und wieder sagen wir: „Meine Güte, wie schnell doch dieses Jahr vergangen ist?!“ – Oder wie Hugo von Hofmannsthal gedichtet hat:

In den Gesichtern rieselt sie,
im Spiegel da rieselt sie,
in meinen Schläfen fließt sie.
Und zwischen mir und dir
da fließt sie wieder.
Lautlos, wie eine Sanduhr.
Hugo von Hofmannsthal, Der Rosenkavalier

Ja, wir können es im Spiegel sehen, wie die Zeit an uns nagt. Wir können es im Gesicht der anderen sehen, wir können an unseren Kindern oder Enkelkindern sehen, wie die Zeit vergeht.

Und dennoch fließt sie dahin wie der Sand in einer Sanduhr. Und mit einem Mal ist der obere Teil der Sanduhr leer. Und man hat das Gefühl, dass der letzte Rest in der Sanduhr besonders schnell durchgerieselt ist.

Und so schauen wir zurück, was eigentlich war. Was ist von dem geblieben und aus dem geworden, was wir uns vorgenommen und gehofft haben? – Erinnern wir uns überhaupt noch an unsere Vorhaben?

Ich mache Euch einen Vorschlag:

Am Eingang habt Ihr alle eine Karte bekommen, einen Briefumschlag und einen Bleistift. Während wir jetzt gleich an der Orgel von Jan Pieterszoon Sweelinck die Fantasia Chromatica hören werden, habt Ihr die Möglichkeit, nicht nur in diese Musik einzutauchen, sondern auch Zeit, um das aufzuschreiben, was Ihr Euch für das kommende Jahr vernehmt und was dabei für Euch die größte Herausforderung sein wird, also, was Euch daran am meisten hindern könnte. Und Ihr könnt aufschreiben, was Eure größte Hoffnung für das Jahr 2022 ist. Und wenn Ihr wollt, könnt Ihr dann die Karte in den Briefumschlag stecken und Eure Adresse draufschreiben.

Das Stück wird etwa sieben Minuten dauern. Und dann kann, jeder der möchte, diesen an sich selbst adressierten Briefumschlag auf den Altar legen, also damit symbolisch seine Zeit in Gottes Hände legen. Ich werde dann diese Briefumschläge in den Tresor legen und Euch pünktlich in einem Jahr zuschicken. Und dann könnten wir vielleicht am 31. Dezember 2022 im nächsten Gottesdienst am Altjahresabend schauen, was daraus geworden ist…

So, nun werden sich vielleicht manche und mancher die Frage gestellt haben, was eigentlich aus dem Predigttext geworden ist…

Naja, der Teil kommt jetzt, weil er hier dramaturgisch an der richtigen Stelle ist.

Vom Unkraut unter dem Weizen
24 Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. 25 Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. 26 Als nun die Halme wuchsen und Frucht brachten, da fand sich auch das Unkraut. 27 Da traten die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? 28 Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten? 29 Er sprach: Nein, auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. 30 Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.
Matthäus 13, 24-30

Ich weiß nicht, was Ihr alles auf Eure Karten geschrieben habt, was Ihr Euch vorgenommen habt. Aber Ihr habt heute symbolisch ein Weizenkorn in den Briefumschlag gelegt, und zugleich aber auch einen Unkrautsamen, indem Ihr aufgeschrieben habt, was Euch daran hindern könnte, Euer Vorhaben umzusetzen.

Ich finde dieses Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut sehr hilfreich für unser Leben, auch wenn Jesus dieses Gleichnis natürlich auf das Himmelreich bezieht. Aber vor dem Himmelreich steht die Erde, also das irdische Leben.

Gott hat uns wirklich richtig gut erschaffen. Wir sind eigentlich perfekt – zumindest von der Anlage her. Aber das mit der Anlage sagt ja schon alles. Eine gute Anlage allein reicht aber nicht aus, um gut zu sein. Das ist wie bei einem Klavierschüler, der ein richtig gutes Talent hat, aber einfach zu faul zum Üben ist.

Wir müssen diese gute Anlage immer wieder und immer wieder trainieren, so dass das Gute zum Selbstverständlichen wird. Und natürlich gibt es da – wie im Paradies einst die Schlange – überall in unserem Leben den oder die Versucher und Versucherinnen, die uns vom Guten abhalten wollen. Wäre ja sonst ein langweiliges Leben, oder?

Aber was hat das nun mit unserem Predigttext zu tun? Tja, es ist eine Frage des Timings. Erinnert Euch, als die Knechte feststellen, dass ein böser Feind Unkraut zwischen den Weizen gesät hatte, sind sie versucht, in einen hektischen Aktionismus zu verfallen, doch der Herr bleibt ganz ruhig und sagt:

Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte.

Aktionismus macht nämlich blind und lässt zuweilen das Gute nicht vom Schlechten unterscheiden. Wie weise!

Erst am Ende, wenn die Ernte ansteht, kann man beides gut voneinander trennen und – naja, dann ist das Unkraut eben für das Feuer bestimmt, während das Gute, der Weizen bleibt.

Gott gibt uns für unsere Vorhaben einen guten Rat auf den Weg mit: Lass Dich vom Bösen nicht irritieren und von Deinem Plan abbringen! Nichts wird so glatt durchgehen, wie Du es mal geplant und gedacht hast und dann ist es wichtig, dass Du nicht die Ruhe verlierst und ein Gefühl für die Zeit entwickelst, also das richtige Timing.

Altar in der Johanneskirche am Altjahrsabend 2021 - Meine Zeit in deinen Händen | Bild: Martin Dubberke
Altar in der Johanneskirche am Altjahrsabend 2021 – Meine Zeit in deinen Händen | Bild: Martin Dubberke

Und damit sind wir wieder einmal beim Prediger angekommen:

Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde
Prediger 3,1

Tja, und wenn sich jetzt noch jemand die Frage stellt, wie einem das gelingen soll, der kann mit mir zusammen noch einmal das besagte Psalmwort sprechen:

Meine Zeit steht in deinen Händen.
Psalm 31,16a

So in Gottes Händen aufgehoben, wünsche Euch aus tiefstem Herzen, ein gesegnetes neues Jahr.

Amen.

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am Altjahresabend 2021, 31. Dezember 2021 über Matthäus 13,24-30, Perikopenreihe IV, in der Johanneskirche zu Partenkirchen

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

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