Pfr. Martin Dubberke

Judas

Liebe Geschwister, heute geht es um Judas, den Jünger, der Jesus verraten hat, der Mann, der Jesus verraten und verkauft hat und am Ende mit dieser Last, der Last seiner Sünde nicht leben konnte.

Judas wirft viele Fragen auf. Wir stellen uns immer wieder die Frage nach seiner Motivation. Warum hat er das getan?

Diese Frage haben viele Theologinnen und Theologen, Christenmenschen gestellt. Walter Jens hat es in seinem kleinen Büchlein: „Der Fall Judas“ das Problem wunderbar in drei Aspekten zusammengefasst:

Jesus als Judas Opfer.
Judas als Jesu Opfer.
Judas und Jesus als gemeinsame Opfer des göttlichen Plans.

Immerhin: Am Ende der Geschichte sind beide tot. Der eine wurde gerichtet, der andere hat sich selbst gerichtet. Beide sind untrennbar auf alle Ewigkeit miteinander verbunden. Und Judas ist bis zum heutigen Tag das Synonym für Verrat und Illoyalität und Jesus ist bis zum heutigen Tag das Synonym für Liebe, Frieden, Freiheit und die Erlösung von der Sünde. Größer können die Kontraste nicht sein.

In Walter Jens Büchlein „Der Fall Judas“ beantragt ein Mönch die Heiligsprechung Judas, weil ohne Judas die Heilsgeschichte nicht möglich geworden wäre, Jesus nicht am Kreuz gestorben wäre und damit der Plan Gottes nicht aufgegangen wäre. Judas wäre demnach ein notwendiges Werkzeug Gottes gewesen, dem im Nachhinein großes Unrecht geschehen sei. Eine interessante Perspektive. Aber sie lenkt uns von uns selbst ab. Würde ich diesen Strang weiterverfolgen, würden wir uns von uns selbst entfernen und uns an Judas als einer Art Sündenbock abarbeiten, statt den Blick auf uns selbst zu lenken.

Jesus weiß beim letzten Abendmahl um den Verräter in seiner Runde, nennt ihn aber nicht beim Namen. Und schon beschäftigten sich die Jünger in dieser Runde nur noch mit der Frage, wer es denn sein würde.

Das Abendmahl als Ausdruck und Inbegriff der Gemeinschaft, der Abend, an dem das Abendmahl als Sakrament von Jesus eingesetzt wurde, erlitt schon jetzt seine erste Störung, seine erste Krise.

Und somit ist die Feier des Abendmahls nicht nur mit der Befreiung von der Sünde, dem großartigen und wunderbaren Befreiungserlebnis durch Jesu Tod verbunden, sondern auch mit dem Verrat.

Das bedeutet, dass die größte Gefahr nicht von außen erfolgt, sondern aus dem innersten Inneren heraus. Genau da, wo man am wenigsten damit rechnet, weil man sich doch eigentlich einander vertraut.

Das ist das eine. Das andere aber ist die Frage: Wie gehe ich als Gemeinschaft damit um? Wie gehe ich als Gemeinschaft damit um, einen Judas in der eigenen Mitte zu haben?

Wer sagt uns nicht, dass wir nachher, wenn wir das Abendmahl miteinander feiern, nicht doch einen Verräter unter uns haben? Jemanden, der schon längst die Sache Jesu verraten hat?

Ich nenne nur ein Beispiel, das ich in diesen Tagen immer wieder höre, wenn es um die Flüchtlinge aus der Ukraine geht. Da sind ja Flüchtlinge dabei, die keine Ukrainer sind, aber gerade in der Ukraine gelebt haben, studiert oder gearbeitet haben, die eine andere Hautfarbe als wir haben. Und schon höre ich in Gesprächen wieder und wieder, dass das ja keine wirklichen Flüchtlinge seien, denen müsse man doch nicht helfen. Oder, dass sich jemand die Flüchtlinge aussuchen möchte, die bei ihm Aufnahme finden.

Was hatte Jesus einst gesagt?

Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. […] Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.

Matthäus 25,40-45

Es ist sehr leicht zum Judas zu werden. Jede und jeder von uns – das behaupte ich mal ganz mutig – hat in seinem Leben schon mehrfach Jesus verraten. Auch ich. Dazu stehe ich. Und jede und jeder von uns hat immer einen guten Grund dafür gehabt. Und sei es einfach ein Vorurteil, eine Angst, ein Schatten, über den wir nicht zu springen wagten.

Wir erleben seit vier Wochen, was es bedeutet, wenn jemand aus der Völkergemeinschaft aussteigt und vermeintlich gemeinsame Werte verrät. Wir können es jeden Tag in den Nachrichten sehen, wie zivile Ziele, Wohnhäuser, Krankenhäuser, Einkaufszentren zerbombt werden. Wir haben gerade in dieser Woche erleben dürfen, dass Putins Schergen das Auto einer Journalistin mit einem Tracker versehen haben und dadurch zielgenau mit einer Rakete beschießen konnten. Wir können die Folgen hier bei uns sehen, wo wir wohnen. Hier in Mittenwald, sind diese Woche die ersten Kriegsflüchtlinge im Haus Röhling eingezogen.

Bei uns in Garmisch-Partenkirchen, wo ich lebe und Pfarrer bin, leben aktuell 351 von 622 Flüchtlingen, die bei uns im Landkreis aufgenommen worden sind.

Die ersten von Ihnen kommen bei uns in Partenkirchen zur Tafel. Als vor zwei Wochen die erste ukrainische Mutter mit ihren beiden Töchtern und ihren Papieren bei uns an der Johanneskirche zur Tafel kam, sah ich drei erschöpfte Menschen, verunsichert, abwartend, was nun auf sie zukommen würde. Kein Wort Englisch. Wie dankbar waren wir, dass Irina schon so viele Jahre zum Team der Tafel gehört und gedolmetscht hat. Die Augen, dieser Frau und ihrer Töchter, den Blick werde ich wohl lange nicht vergessen.

Habe ich in dem Moment vielleicht in die Augen Jesu geschaut? …was ihr getan habt einer von diesen meinen geringsten Schwestern…?

Wir können uns nie sicher sein, in welcher Gestalt uns Jesus gegenübertritt. Denken wir nur an St. Martin. Der arme Mann, mit dem sich Martin seinen Mantel geteilt hat, stellte sich am Ende des Tages als Jesus heraus.

Das bedeutet, wir brauchen christliche Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, statt christliche Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, weil schon diese ein Verrat Jesu sind.

Nur, weil Jesus für uns gestorben ist, sind wir nicht per se bessere Menschen. Wir sind nach wie vor für die Sünde, für den Verrat empfänglich. Und das zumeist aus vollkommen egoistischen Gründen, oder, weil wir es uns nicht zutrauen oder es uns zu anstrengend ist. Christ zu sein ist sehr, sehr anstrengend. Das hat nichts mit spiritueller Kirchentagsromantik zu tun.

Unser Problem ist wie schon zu Judas Zeiten immer noch das gleiche. Und hier erinnere ich an das, was Dietrich Bonhoeffer in seinem Buch „Gemeinsames Leben“ im letzten Kapitel unter der Überschrift „Beichte und Abendmahl“ geschrieben hat:

Die fromme Gemeinschaft erlaubt es ja keinem, Sünder zu sein. Darum muss jeder seine Sünde vor sich selbst und vor der Gemeinschaft verbergen. Wir dürfen nicht Sünder sein.

Wisst Ihr eigentlich, wie viele Menschen schon daran zugrunde gegangen sind, weil sie mit ihrer Sünde alleingelassen worden sind? Weil sie nicht über ihre Sünde sprechen konnten, aus der Angst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden und somit immer unter dem seelischen Druck zu leben, dass ihnen jemand auf die Schliche kommt?

Es gibt Menschen, die halten das nicht aus. Sie fliehen dann in irgendwelche Süchte oder nehmen sich das Leben, so wie es Judas tat, der mit seiner Sünde, seinem Verrat allein gelassen wurde.

Lukas, Markus, Johannes und Matthäus gehen mit ihm ziemlich hart ins Gericht und machen aus ihm das Gesicht des Verrats. Doch was wäre, wenn Judas Jesus nicht verraten hätte? Was wäre aus dem Heilsplan Gottes geworden?

Für mich stellt sich eine andere Frage: Ist eine Gemeinschaft, in der man seine Sünde vor sich selbst und vor der Gemeinschaft verbergen soll, nicht der eigentliche Verrat an Jesus? Eine Gemeinschaft, in der man nicht offen miteinander reden kann? Ist das nicht Verrat an dem, was Jesus uns gelehrt hat?

Wer Jesus nicht verraten will, muss am Ende auch den Judas annehmen. Das bedeutet aber nicht vergeben und vergessen, sondern die Konsequenz aus der Sünde, dem Verrat zu ziehen, die Verantwortung zu übernehmen, nicht vor der Verantwortung zu fliehen, sondern sich der Verantwortung zu stellen.

Dieser Krieg stellt die Frage nach den gemeinsamen Werten und dem glaubhaften Eintreten für diese Werte.  Putin unterstreicht gerne seine Nähe zur orthodoxen Kirche und hat in seiner Sportpalastrede den Krieg gegen die Ukraine kürzlich mit einem Bibelvers legitimiert. Ist er ein Christ? Wenn ja, ist er dann ein moderner Judas? Gilt dann für ihn das, was Jesus bei Lukas gesagt hat:

…doch weh dem Menschen, durch den er verraten wird!

Diese Frage des Umgangs mit dem Sünder Putin und auch anderen Sündern wird sich stellen, wenn der Krieg in der Ukraine vorbei sein wird. Was wird aus Putin nach diesem Krieg werden? Wie wird die Völkergemeinschaft nach diesem Krieg mit Putin umgehen? Wie wird er mit der Verantwortung umgehen, in die ihn die Weltgemeinschaft oder der internationale Gerichtshof fordern wird? Es kann und darf kein stillschweigendes Weiter so geben, kein Übergang zur Tagesordnung, wie es kürzlich im Bundestag nach der Rede des ukrainischen Präsidenten geschehen ist.

Und damit komme ich nun wieder zurück zur Abendmahlsgemeinschaft, die wir heute sein werden. Gemeinschaft, vertrauensvolle Gemeinschaft wird erst dann möglich, wenn es uns gelingt, eine und einer dem anderen die eigenen Sünden zu bekennen, und das Leben neu auszurichten, damit Gemeinschaft möglich bleibt und wird. Jesus hat beim letzten Abendmahl deutlich gemacht, dass er den Verräter kennt und, dass der Verrat eine Konsequenz für den Verräter zur Folge haben wird.

Und sollte jetzt jemand die verwegene Frage stellen, warum Jesus sein Wissen um den Verrat nicht genutzt hat, um sich der drohenden Verhaftung und damit seinem Tod zu entziehen, dem antworte ich, dass Jesus sich voll und ganz in die Hand seines Vaters begeben hat. Nach dem Abendmahl ging er noch einmal in den Garten Gethsemane und betete:

„Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“

Lukas 22,42

Hätte Jesus das nicht getan, so hätte ich mir heute keine Gedanken über Judas gemacht und wäre wohl auch nicht Pfarrer, weil es dann auch wohl kein Christentum und somit keine Kirche gäbe.

Jesus wusste, dass es irgendwann einmal soweit sein würde, dass er sein Leben geben würde. Judas konfrontierte Jesus durch seinen Verrat unausweichlich mit dem Zeitpunkt des Beginns seines Leidens, der in der bedingungslosen Annahme des Willens Gottes mündet.

Mit der Erfahrung des Verrats fordert Jesus seine Jünger am Ölberg auf:

Betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt.

Lukas 22, 40b

Denn die Anfechtung gefährdet alles. Sie gefährdet die Gemeinschaft, sie gefährdet den Frieden, die Freiheit und alles, was uns Gott anvertraut und geschenkt hat. Mit der Bitte, dass Gottes Wille geschehe, bringen wir unsere Hoffnung auf eine Welt in Frieden und Freiheit zum Ausdruck, in der die Liebe und nicht der Verrat regiert.

Amen.

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt über Judas im Rahmen der Predigtreihe „Gestalten der Passion“, in der Dreifaltigkeitskirche zu Mittenwald am Sonntag Lätare, 27. März 2022

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

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