Liebe Geschwister, auch in dieser Woche werde ich wieder einen Menschen zu Grabe tragen. Seitdem ich hier in Garmisch-Partenkirchen bin, sind es rund fünfzig Menschen, mit mal mehr mal weniger Hinterbliebenen gewesen, die ich auf diesem Gang begleitet habe. Der jüngste Mensch, den ich in diesem Jahr zu Grabe getragen habe, war 28 Jahre jung und die Älteste 97 Jahre. In den vergangenen beiden Jahren, in den denen ich mehrfach im Monat auf einem unserer Friedhöfe bin, hat sich mein eigenes Verhältnis zum Tod verändert, so wie auch der Tod meines Vaters mein Verhältnis zum Tod verändert hat.
Ich spüre eine deutlich größere Gelassenheit. Manches Mal, wenn ich nach einer Beerdigung in der kleinen Sakristei einer unserer Trauerhallen, meinen Talar ausziehe, zusammenlege und in die Tasche packe, frage ich mich, wie viele Jahre mir noch gegeben sind. Wenn ich als Vergleichsgröße meinen Vater nehme, der mit 85 Jahren gestorben ist, wären es noch 28 Jahre. Das ist nicht mehr so viel, wenn ich bedenke, wie schnell die vergangenen anderthalb Jahrzehnte vergangen sind. Eben waren meine beiden Söhne noch kleine Würmchen und jetzt sind sie schon fast so groß wie ich. – Steh mal bitte auf, Johannes. An meinen Söhnen sehe ich, wie die Zeit rennt. An mir selbst nicht so sehr.
Den Zenit habe ich aber schon überschritten. Und wenn ich dann wieder an einer Gruft stehe, die Urne in die Erde eingesenkt ist und ich die Worte spreche: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube, muss ich daran denken, dass irgendwann ein Kollege auch an meiner Urne diese Worte sprechen wird.
Das erfüllt mich schon seit einer Weile nicht mehr mit Nervosität. Es gab eine Zeit, als ich mit fünfzig nach einer Routine-OP fast den berühmten Löffel abgegeben hätte, aber der liebe Gott ein sehr deutliches Zeichen gesetzt hat, dass es noch nicht soweit ist, und ich spürte, dass das Leben endlich sei und die Selbstverständlichkeit vorüber war. Es lies mir mein Leben bewusster werden und ich spürte, dass mich diese Erfahrung deutlich stärker werden ließ. Ich spürte die Gegenwart Gottes in meinem Leben deutlicher denn je. Und ich war dankbar, dass ich in meiner Kindheit und Jugend Gott kennengelernt hatte und er so früh ein Teil meines Lebens geworden war, ein Teil der mich mit jedem Jahr meines Lebens mehr prägte und noch immer prägt, eine Beziehung, die mit den Jahren immer intensiver wird.
Ich weiß nicht, ob das etwas damit zu tun hat, dass ich älter werde und damit dem Ende des irdischen Lebens immer näher komme oder, ob ich Gott einfach nur immer besser verstehe. Ich weiß es nicht. Aber ich spüre und weiß, dass mein Leben ohne Gott ganz anders verlaufen wäre. Ich kann mir ein Leben ohne Gott nicht vorstellen. Und er hat mich echt einige Male in meinem Leben ganz schön auf die Probe gestellt oder stellen lassen.
Tja, dann lese ich doch noch einmal den Predigttext für heute vor:
Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; 2 ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, – 3 zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, 4 wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird und sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; 5 wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – 6 ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. 7 Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.
Prediger 12, 1-7
… und wieder komme ich beim Staub an, der wieder zur Erde kommen wird, so wie wir eben aus Erde geworden ist. Als junger Mensch habe ich einmal ein kleines Gedicht geschrieben. Ich kann es noch immer auswendig:
Ich sterbe,
verfärbe
und werde
zu Erde.
Das beschreibt nur das Vergehen meiner Hülle, so wie es auch der Prediger beschreibt. Doch das, was am Ende wirklich geschieht, habe ich damals noch nicht erfasst:
…und der Geist [kommt] wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.
Der Geist ist das, was wieder zu Gott gehen wird und dort leben wird. Dieses Verstehen und wesentlich auch Akzeptieren, dass mein irdisches Leben nur das Vorspiel ist, verändert mein Verhältnis zum irdischen Leben.
Ich finde an dieser Stelle Johann Sebastian Bachs Kantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ sehr hilfreich. Der Kreuzstab steht als Symbol dafür, in der Nachfolge Christi zu leben. Und hier lege ich großen Wert auf zwei Aspekte.
Der eine wird deutlich durch das kleine Wort „gerne“ – Ich will gerne den Kreuzstab tragen. Das geschieht aus einer inneren Motivation heraus ohne jeden Zwang. Es ist mir also ein innerstes Bedürfnis Jesu nachzufolgen, ohne jedes Wenn und Aber.
Und dann kommt noch ein weiteres hinzu. Und das ist, was man nur hören kann. Johann Sebastian hat etwas mit dem Wort „tragen“ angestellt. Er hat nicht einfach die zwei Silben des Wortes zu zwei Tönen gemacht, sondern zu einem Lauf von 38 auf und abgehenden Noten. Das Wort „tragen“ wird damit zum Symbol des Aufs und Ab des Lebens, den Hoch- und den Tiefpunkten. Die Musik hält manchmal wunderbare Botschaften bereit.
Jesus kann man nur nachfolgen, wenn man zu einer Berg- und Talfahrt bereit ist. Der Prediger beschreibt das mit den Worten: wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege. Den Kreuzstab kann man eben nicht allein in der Ebene tragen. Das Leben in der Nachfolge Christi wird erst dann spannend, wenn man auch das Anstrengende, Herausfordernde annimmt.
Und wenn ich schon einen kleinen Einblick in mein poetisches Werk gebe, möchte ich vor diesem Hintergrund noch ein weiteres kleines Gedicht von mir einbringen, das ich just nach dem Verlust der Selbstverständlichkeit in geschrieben habe:
Wohin geht mein Weg?
Der Aufbruch ist getan.
Die Richtung weist Dein Wort:
Ein jedes Ding hat seine Zeit.Du führst mich sicher
auf dem Weg zu meinem nächsten Ziel.
Ich traue Deinem Wort
egal an welchem Ort.
Ich stelle mir die Frage, was für ein Lebensbild, Lebensentwurf hinter der Kreuzstabkantate von Bach steht. Ich lese den Prediger, ich höre die Kantate und habe den Eindruck, dass alles Leben nur ein einziges Leiden ist, das einzig und allein durch den Tod ein Ende findet, weil dann das Leben bei Gott beginnt, das eigentliche Leben.
Es gibt die Jugend, die an ihren Schöpfer denken soll. Was für ein starker Satz aus der Perspektive eines Mannes, in diesem Fall der König Salomo, der schon das Alter spürt, dem jeder Gang schwerfällt, der nicht mehr so leicht die Berge erklimmt, der genau aus dieser Kraft und Zuversicht heraus lebt, die ihm sein Glaube an den Schöpfer schenkt, denn nur mit dieser Zuversicht kann er leben und die Erschwernisse, die Reduzierungen durch das Alter tragen. Wie sagte einst mein Vater zu mir: „Weißt Du, Martin, bis achtzig war das alles ganz ok, doch dann wurde das Leben anstrengend und mühsam.“ Er starb – wie schon gesagt – mit 85 Jahren.
Man braucht jemanden, wenn das Lebenswetter stürmt, man sich krümmt.
Ich habe meine Probleme mit dem Text und der Kantate, weil eine so große Todessehnsucht aus allem spricht. Und dennoch, bildet die Musik, die Johann Sebastian dazu komponiert wie ein wild entschlossener Kontrast, der ausgelassenen Fröhlichkeit, der Lebenskraft.
- Arie
Ich will den Kreuzstab gerne tragen,
er kömmt von Gottes lieber Hand.
Der führet mich nach meinen Plagen
zu Gott in das gelobte Land.
Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab,
da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir uns nun nach dem Erntedank in eine neue Zeit unseres Kirchenjahres begeben. Es beginnt jetzt die Zeit des Endes, des Endes des Kirchenjahres, das mit dem Ewigkeitssonntag – im Volksmund Totensonntag genannt – zu Ende geht. Es beginnt nun der Lebensdank, die Erinnerung an das Leben und den damit verbundenen Dank, die Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit und die Vergänglichkeit meiner Nächsten und Liebsten.
Und in der Tat ist es so, dass – wenn wir uns darauf einlassen – Gott an die Hand nimmt und uns durch unser Leben führt, weil das irdische Leben eben so anders ist als das himmlische Leben, also das Leben im gelobten Land. Auf Erden bereiten die Menschen einander Plagen. Das Leben im gelobten Land kennt keine Plagen. Das ist der große Unterschied.
- Rezitativ
Mein Wandel auf der Welt
ist einer Schifffahrt gleich:
Betrübnis, Kreuz und Not
sind Wellen, welche mich bedecken
und auf den Tod
mich täglich schrecken;
mein Anker aber, der mich hält,
ist die Barmherzigkeit,
womit mein Gott mich oft erfreut.
In dieser Kantate spielt das Schifffahrtsbild eine große Rolle. Das Leben wird mit einer Schiffsreis verglichen. Und Bach lässt uns das im Rezitativ hören, wenn er mit dem Cello die Wellenbewegung imitiert. Auf einer solchen Reise ist man den Gewalten der Natur ausgesetzt. Es kann so wunderbare ruhige, glatte See sein, aber auch ein Sturm – wie in der Jesus-Geschichte von der Sturmstillung – , in dem die Wellen über einem hereinbrechen und man nicht mehr weiß, ob es noch ein Morgen geben wird. Aber wird ein Morgen geben, der Tod schreckt in dieser Kantate niemanden mehr. Denn: Solange Gott der Anker in meinem Leben ist, kann mir nichts geschehen. Dieser Anker ist das Bild für die Barmherzigkeit Gottes. Und wir können hören, dass der Mensch in dieser Kantate sich schon oft an dieser Barmherzigkeit erfreuen durfte. Und genau das steht für die Verbindlichkeit, die Zuverlässigkeit Gottes, die keine Zufälligkeit ist. Genau das macht den Menschen stark und zuversichtlich. Aus dieser verlässlichen Beziehung dürfen auch wir all unsere Lebenskraft und unseren Lebensmut ziehen.
Meine absolute Lieblingsstelle in der Kreuzstabkantate ist aber das zweite Rezitativ:
Ich stehe fertig und bereit,
das Erbe meiner Seligkeit
mit Sehnen und Verlangen
von Jesus Händen zu empfangen.
Wie wohl wird mir geschehn,
wenn ich den Port der Ruhe werde sehn:
Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab,
da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.
Die Wildheit und die nahezu trotzige Entschlossenheit, mit der Bach den Sänger singen lässt:
Ich stehe fertig und bereit,
Das Erbe meiner Seligkeit
Mit Sehnen und Verlangen
Von Jesus Händen zu empfangen.
Beeindruckt mich, hier steht der Mensch, der Sänger noch mitten im Diesseits. Aber kaum, dass er das „Von Jesus Händen zu empfangen“ gesungen hat, scheint es eine Generalpause zu geben und mit einem Male klingt die Jenseitigkeit an.
Wie wohl wird mir geschehn,
wenn ich den Port der Ruhe werde sehn:
Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab,
da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.
Man hört geradezu das Fließen der Tränen und das Seufzen.
Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab,
da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.
Beim ersten Mal fließen die Tränen gewissermaßen noch ins Grab, in der Wiederholung dieser beiden Zeilen aber geht es musikalisch aufwärts, so hoch, dass er schon im Himmel ist. Körper und Seele haben sich von einander getrennt. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat. Die Musik kommt ganz zur Ruhe und es klingt, als wenn jemand wirklich seinen letzten Atem aushaucht. Die Musik scheint so aufzuhören, wie das irdische Leben zum Ende kommt.
Doch dann setzt der letzte Choral ein
Komm, o Tod, du Schlafes Bruder,
Komm und führe mich nur fort;
– ganz ohne Orchester, nur noch die Stimmen der Menschen, der Solist singt nicht mehr allein, er ist Teil eines Chores. Seine Stimme geht gleichermaßen in den Stimmen der Himmlischen Heerscharen auf. Die Instrumente, die gerade noch die Plagen, das Seufzen, das Auf und Ab geschildert haben, sind im Diesseits geblieben, weil das Leben in der Nachfolge Jesu aus den Plagen heraus zu Gott in das gelobte Land führt.
Der Tod, der des Schlafes Bruder ist, ist nun wie der Fährmann, der den Menschen im Diesseits abholt und an sein Ziel bringt, den sicheren Port, den sicheren Hafen, dem Ziel unseres Lebens, das gelobte Land, da, wo das schönste Jesulein ist. Man beachte bitte, dass der Dichter hier nicht Jesus, sondern Jesulein geschrieben hat. Es ist die Erinnerung an das Jesus-Kind, das Kind, das sein Leben in einer Krippe in einem Stall zu Bethlehem begonnen hat. Der Moment, in dem das Heil für die Welt verkündet wurde. Johann Franck lässt uns hier gleichsam an die Krippe im Stall herantreten, den Moment, an dem durch Jesus das Heil in die Welt gekommen ist.
Und genau dies ist die Botschaft, die Johann Franck der Dichter dieser Liedstrophe mit dem Wort Jesulein an uns hat:
Breitet die Botschaft vom Heiland aus und folgt Jesus in eurem Leben nach.
Amen.
Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis über Prediger 12, 1-7 Perikopenreihe III und Johann Sebastian Bachs „Kreuzstabkantate“ BWV 56 in der Erlöserkirche zu Grainau und der Johanneskirche zu Partenkirchen