Liebe Geschwister, was sind das für Zeiten? Gemeindeleben in den Zeiten des Coronavirus. In meinem Studium habe ich in der Homiletik – so heißt das Fach, in dem man das Predigen lernen soll – habe ich gelernt, dass man sich nicht nur vorher genau anschauen soll, wer vor einem sitzt – also eine Zielgruppenanalyse – sondern auch, in welche Situation hinein man predigen wird.
Also, schauen wir uns zuerst die Gemeinde an. Wer heute hier ist, kommt, weil er das Wort Gottes hören will. Vielleicht, weil er jeden Sonntag kommt und das zu seinem Leben zu seinem Sonntag einfach dazu gehört oder, weil er genau heute kommt, um für die Zeit, in der wir uns befinden und die vor uns liegt das Wort Gottes braucht, aus ihm Kraft, Anregung und Hoffnung schöpfen möchte. Jede und jeder, der heute hierher gekommen ist, ist bereit für das Wort Gottes ein gesundheitliches Risiko auf sich zu nehmen.
Und damit befinde ich mich auch schon in der sogenannten homiletischen Situation, also der Situation, in die hinein die Predigt stattfinden soll.
Und wie sieht die nun aus? Lasst mich einfach mal mit dem vergangenen Sonntag anfangen. Nachdem Italien sechzehn Regionen zu Sperrgebieten erklärt hat, entscheide ich, dass die Jugendfreizeit in die Toskana nicht stattfinden wird. Noch am gleichen Abend sitzen wir im Lipfferthaus zusammen und besprechen alles, was jetzt notwendig ist. Gleich im Anschluss an die Besprechung werden die Eltern informiert.
Am Montag bietet Aldi Desinfektionsmittel an. Wie ihr ja alle wisst, macht Aldi immer um acht Uhr auf. Als, ich um acht Uhr zehn an der Kasse stehe und meinen Einkauf bezahle, fragt hinter mir eine Kundin den Kassierer, wo sie denn die Desinfektionsmittel finden würde, die sie heute in der Aktion hätten. Antwortet er: „Die sind seit 8:05 ausverkauft.“
Am Mittwoch meldet sich die Bundeskanzlerin zum ersten Mal zu Wort und sagt: „Aber wie in allen solchen Krisensituationen sind Besonnenheit und Entschlossenheit, das Notwendige zu tun, denke ich, wichtig.“ (Merkel, www.bundeskanzlerin.de, 2020)
Am gleichen Tag wird entschieden, dass die Tafelausgabe in Garmisch-Partenkirchen vorerst für zwei Wochen ausgesetzt wird.
Am Donnerstag sagt die Kanzlerin: „Wir haben es – das zeigen die neuesten Zahlen – mit einem sogenannten dynamischen Ausbruchsgeschehen zu tun, das heißt, die Zahl der infizierten Personen steigt sehr stark an. Deshalb ist heute noch einmal in schärferer Form, als das in den vergangenen Tagen notwendig war, gesagt worden, dass, wo immer es möglich ist, auf Sozialkontakte verzichtet werden soll.“ (Merkel, www.bundeskanzlerin.de, 2020)
Die Kanzlerin fordert zur Solidarität auf. Dieses Mal kein „Wir schaffen das“, sondern der klare Appell an die Verantwortung eines jeden einzelnen.
Am gleichen Tag wird der Dekanatstag mit dem neuen Regionalbischof Michael Kopp wird abgesagt.
Und am Freitag überschlagen sich die Ereignisse. Um 7:40 geht die Nachricht über die Ticker, dass Bayern ab Montag die Schulen schließen wird und der Unterricht via Mebis – ein Internetportal – stattfinden wird.
Gegen neun Uhr ruft mich mein Kollege von den Baptisten an und fragt mich, wie wir mit der Sache umgehen. Mit dem Katholischen Kollegen läuft der Austausch via WhatsApp.
Der Leiter unserer Gemeindebücherei und ich sprechen das weitere Vorgehen für die Bücherei ab. Es gibt eine Rundmail an die Nutzer der Bücherei.
Um 12:12 sagt der Kirchenmusiker alle Proben im Bereich der Kirchenmusik ab.
Um 12:16 informiert die Kirchenleitung über das weitere Vorgehen. Es wird u.a. empfohlen, von Hausbesuchen Abstand zu nehmen.
Um 12:40 sagt die Kollegin den KiGo on Tour ab.
Ich mache mit der Matrix des Landratsamts die Risikoanalyse für unsere Gottesdienste und Veranstaltungen. Alle Veranstaltungen der Gemeinde gehören in die Risikokategorie 2 von 3. Wir müssen also Entscheidungen treffen.
13:52 – Die Kanzelabkündigung des Landesbischofs trifft per Mail ein.
Um 15:01 bekomme ich von meinem katholischen Kollegen die WhatsApp, dass im Erzbistum alle öffentlichen Gottesdienste bis zum 3. April abgesagt werden.
16:27 Absage der Ökumenischen Dienstbesprechung.
19:17 Absage der Regionalkonferenz Süd.
19:39 kommen die Empfehlungen und Regelungen des Krisenteams des Dekanats. Nun steht es fest, dass alle Gemeindeveranstaltungen bis zum 19. April erst einmal ausfallen.
Am Samstagmorgen beschließen der Leiter der Bücherei und ich, die Bücherei analog zu schließen und auch mit sofortiger Wirkung alle Veranstaltungen abzusagen.
Kurze Zeit später gibt es von Kolleginnen und Kollegen aus der Region den Vorschlag für die Aktion „Das offene Ohr“ – In den kommenden fünf Wochen übernimmt jeweils ein Kollege oder eine Kollegin einen kompletten Tag, um zwischen acht Uhr morgens und zwanzig Uhr abends für die Menschen verlässlich erreichbar zu sein und so er Vereinsamung in Zeiten des Coronavirus entgegenzuwirken. Ich bin immer am Montag zu erreichen.
Am Samstag erfahre ich um 16:33, dass für diesen Sonntag die Landeskirche noch bei der offiziellen Linie bleibt, dass keine generelle Absage der Gottesdienste empfohlen wird, am Sonntag aber eine Konferenz der Kirchenleitung anberaumt wurde…
So, und all dies vor Augen, im Kopf und im Herzen, sitze nun ich armer Pfarrer vor dem Predigttext, in dem es um die Nachfolge geht. Ich lese ihn einfach mal vor:
Vom Ernst der Nachfolge
57 Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. 58 Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
59 Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. 60 Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!
61 Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. 62 Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Lukas 9, 57-62
Drei Kandidaten, drei Antworten, dreimal gescheitert – Keiner von den Dreien ist für die Nachfolge Jesu wirklich bereit oder geeignet. Was heißt das für uns hier und jetzt und heute?
Schauen wir uns die drei Kandidaten einmal kurz an:
Der erste möchte den Komfort seines Zuhauses nicht wirklich aufgeben. Der Zweite war an seinen toten Vater gebunden. Und der Dritte wollte wenigstens noch Abschied nehmen von seinen Lieben.
Alle drei waren mit dem Leben in der Nachfolge Jesu überfordert. Vielleicht weil es so herausfordernd ist? Das Leben in der Nachfolge ist mehr, als nur am Sonntag zur Kirche zu gehen. Das Leben in der Nachfolge Jesu verändert mein Leben grundsätzlich. Es stellt nicht mehr mich mit meinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt, sondern das Ganze, das Umwälzende, das alles, was bisher war, in Frage stellt, es hinterfragt wird.
Nachfolge in Zeiten des Corona-Virus lässt uns lernen, dass es nicht um den einzelnen geht, sondern, dass jede und jeder eine Verantwortung für das Ganze trägt. Es geht nicht um meine eigene Komfortzone. Und wer mich kennt, weiß, dass ich gerne an dieser Stelle Dietrich Bonhoeffer zitiere:
„Ein schwerer, verhängnisvoller Irrtum ist es, wenn man Re-ligion mit Gefühlsduselei verwechselt. Religion ist Arbeit. Und vielleicht die schwerste und gewiß die heiligste Arbeit, die ein Mensch tun kann.“ (Bonhoeffer, Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, DBW Band 10, 2. durchgesehene und aktualisierte Auflage 2005)
Damit fasst er wunderbar zusammen, was Jesus den drei Kandidaten, die ihm nachfolgen wollen, auf den Weg gibt. Ihm nachzufolgen hat Konsequenzen für mein eigenes Leben und das Leben der Anderen. Und genau das können wir jetzt in diesen Zeiten besonders gut lernen. Unsere Komfortzone ist in Frage gestellt. Wahrscheinlich werden wir in diesen Tagen auch unsere Toten nicht begraben können, zumindest nicht so, wie wir es gewohnt sind. Und zurückschauen geht auch nicht, weil alles anders werden wird, weil wir auch nicht wissen, was wird und wie lange uns dieser Virus beschäftigen wird, weil wir unsere ganze Kraft für die Gestaltung einer lebendigen Zukunft brauchen. In der Nachfolge zu leben – das macht Jesus mit dem Bild vom Pflug sehr deutlich – bedeutet, in die Zukunft zu schauen, sich auf die Zukunft zu konzentrieren und mit dem, was wir heute tun, Zukunft zu ermöglichen. Beim Pfügen nach vorne zu schauen, bedeutet, eine konsequente Linie zu gehen und nicht einen Zickzackkurs. Zukunft bedeutet Hoffnung und davon hat uns Jesus mehr als einen Sack voll geschenkt.
In diesem Sinne sage ich Amen.
Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am Sonntag Okuli 2020 über Lukas 9, 57-62, Perikopenreihe II am 1. März 2020 in der Markuskirche Farchant und der Johanneskirche Partenkirchen