Pfr. Martin Dubberke

Die Herrlichkeit Gottes sehen

Es ist heute irgendwie etwas Anderes als sonst, auf dieser Kanzel zu stehen. Ich denke, es hat etwas damit zu tun, dass es heute in diesem Gottesdienst nicht nur um den lieben Gott geht, sondern – in aller Bescheidenheit – auch ein wenig um mich. Michael Raddatz hat gerade erlaubterweise verraten, dass mich in meinem Leben, meinem Glauben, meiner Frömmigkeit zwei Dinge geprägt haben und bis heute prägen: Eine Bibelstelle und ein Lied. Die Bibelstelle stammt aus dem Buch Qohelet:

„Ein jedes Ding hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“

Solange ich theologisch denken kann, spielt dieser Satz eine wichtige und mein Leben prägende Rolle. Er bedeutet, dass ich in meinem Leben nichts übers Knie brechen kann. Es gibt nichts, was ich auf Teufel komm raus, haben kann. Er bedeutet, dass ich ein Gespür entwickeln muss, wann etwas soweit ist, wann es reif ist, wann es dran ist. Und es bedeutet für mich, sich auf Gott einzulassen und darauf zu vertrauen, dass er mich diesen Moment erkennen lässt. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass es zum einen um meine Vorhaben geht und zum anderen um Gottes Vorhaben, das, was Gott mit mir vorhat. Und zuweilen sind meine Vorhaben nicht so ganz synchron mit seinen Vorhaben. Aber ich habe mich in meinem ganzen Leben immer darauf verlassen können, dass Gott etwas mit mir vorhat und es mich beizeiten erkennen oder wissen lässt. Und wenn es dann soweit war oder ist, also die Stunde gekommen war, gingen Dinge plötzlich ganz schnell. Wie zum Beispiel bei meiner Frau und mir.

Das Zweite, das mich in meinem Glauben, meiner Spiritualität geprägt hat – und zwar schon seit meiner Konfirmation – ist das Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten.“ Deshalb haben wir es vorhin auch gesungen und wenn ich jetzt daraus die dritte Strophe zitiere, werden Sie sehen, wie der Vers aus Qohelet und das Lied zusammenpassen:

Man halte nur ein wenig stille
und sei doch in sich selbst vergnügt,
wie unsers Gottes Gnadenwille,
wie sein Allwissenheit es fügt;
Gott, der uns sich hat auserwählt,
der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.

Beides zusammen hat mir in meinem Leben immer Zuversicht und Vertrauen auf Gottes Plan und sein Gnadenwirken gegeben. Ich habe mich immer darauf verlassen können, dass es irgendwann, wenn es sein Wille ist, sein wird. Und das gab mir die Möglichkeit, die Freiheit, jede Zeit in meinem Leben als die Zeit zu leben, anzunehmen, zu genießen und als die, die sie gerade war, zu nutzen. Es gibt deshalb in meinem Leben keine verlorene Zeit.

Und das möchte ich an dieser Stelle mit einer wahren Anekdote aus der Geschichte dieser Gemeinde verdeutlichen. Ich bin ja schon eine ganze Weile hier. Also, genau genommen sind es jetzt schon vierundzwanzig Jahre. Mein Vikariat in Silas mündete in einer Pfarrvakanz, nachdem mein Mentor Heiner Früh pensioniert worden war. In diese Zeit vor gut zwanzig Jahren fiel die Sprengelbildung zwischen Silas und Königin Luise – also die Vorstufe zu einer Fusion. Man könnte es auch eine Art Verlobung nennen. Aus diesem Anlass gab es eine Gemeindeversammlung in Silas. Da saßen dann vorne die beiden Pfarrer von Königin Luise, der Superintendent und noch irgendjemand aus dem Konsistorium. Und in dieser Gemeindeversammlung stand ein älterer Herr auf, der ziemlich erregt war und forderte, dass ein gewisser Vikar Dubberke der neue Gemeindepfarrer werden solle. Dieser Forderung schlossen sich andere Silasianer ebenfalls an. Wir wissen die Geschichte verlief anders. Und Sie werden jetzt vielleicht ahnen, zu welchem Schluss ich komme. Genau!

Alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

Man halte nur ein wenig stille.

Gottes Plan mit mir war ein anderer. Er hatte mit mir erst etwas Anderes vor. Ich musste noch andere Dinge in meinem Leben lernen und allem Anschein brauchte mich Gott mit meinen Gaben an anderen Stellen, als ich es gedacht und geplant hatte. Aber, am Ende hat er die Forderung, den Wunsch des alten Mannes erfüllt. Sie gehörte allem Anschein zu seinem Vorhaben – nur nicht vor zwanzig Jahren. Heute bin ich nun ganz offiziell Euer Pfarrer – Eurer Pfarrer im Ehrenamt.

So, und ich glaube, an dieser Stelle ist es ganz gut, mal endlich den Predigttext vorzulesen:

Der steht im 2. Mose 33,17b-23:

17 Der Herr sprach zu Mose: Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun; denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen.

18 Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! 19 Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20 Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. 21 Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. 22 Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23 Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen. 

Mose, der ja nun in einem besonderen Kontakt zu Gott stand, äußert einen großen Wunsch: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“

Er will Gottes Angesicht sehen. Ich denke, viele von uns haben sich schon mal die Frage gestellt, wie Gott aussieht. Wäre es nicht toll, wenn man mal Gott von Angesicht zu Angesicht sehen könnte? Vielleicht ist er ja dieser alte, weise Mann mit einem weißen Bart? So, wie ihn viele Künstler und zuweilen auch Karikaturisten dargestellt haben. Vielleicht ist er aber auch dieser Gott, der wie eine Mutter ist? Vielleicht ist er ja eine Frau? Aber, mal Hand auf’s Herz? Was ändert es, wenn ich Gott mal von Angesicht zu Angesicht gesehen habe?

Es wird Sie vielleicht nicht überraschen, wenn ich sage, dass mich das nie interessiert hat. Gut, als Kind habe ich natürlich diese Vorstellung von einem Gott gehabt, der da oben in den Himmeln zwischen den Wolken auf einem Thron sitzt, einen weißen Bart hat und genau aufpasst, was ich tue. Aber das ist schon sehr lange her und liegt lange, vor meinem Theologiestudium.

Als ich sah, dass für heute dieser Predigttext auf dem Plan steht, habe ich mir natürlich die Frage gestellt: Warum ausgerechnet der? Und dann habe ich mir einfach gesagt: Es ist ein schöner Text. Lass Dich überraschen, was er Dir erzählen wird. Und dann habe ich ihn, so wie ich das immer tue, drei- viermal hintereinander gelesen und die Bibel wieder zugeschlagen und ihn auf mich wirken lassen.

Und dann habe ich mir die Frage gestellt: Warum, Dubberke, geht es Dir nicht so wie Mose? Warum sagst Du nicht einfach zu Gott: Lass mich deine Herrlichkeit sehen!?

Gut, die Antwort kenne ich ja aus der Bibel. Also, bleibt die Frage, warum habe ich nicht den Wunsch, seine Herrlichkeit zu sehen? Als Christ und Theologe müsste ich doch eigentlich das unstillbare Bedürfnis haben, ihn zu sehen.

Also, schlage ich noch einmal die Bibel auf. Lese den Text und bleibe an zwei Stellen hängen:

Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. … Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23 Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen. 

Das ist doch spannend. Ich kann sein Angesicht nicht sehen, weil ich es nicht überleben würde. Das löst Fantasien über sein Angesicht aus. Aber ich darf hinter ihm hersehen und sehe dann seine Herrlichkeit. Oder anders gesprochen: Ich kann die Herrlichkeit Gottes erst sehen, wenn er an mir vorübergezogen ist.

Und was hat Gott noch mal zu Mose gesagt?

Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.

Das ist der Schlüssel. Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen, warum ich noch nie auf die Idee gekommen bin, Moses Satz zu sagen: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ – Weil ich in meinem Leben schon das eine oder andere Mal Gottes Herrlichkeit sehen und erfahren durfte. Und wenn Sie ehrlich sind, wird es Ihnen nicht anders in Ihrem Leben ergangen sein.

Ich sehe die Fragezeichen in Ihren Gesichtern. Sie glauben mir noch nicht. Also, noch einmal: Mose konnte und durfte die Herrlichkeit Gottes nur von hinten sehen, nachdem Gottes Güte, Gnade und sein Erbarmen vor seinem Angesicht vorübergezogen waren.

So ist es auch noch heute. Wir erfassen Gottes Herrlichkeit und sein Wirken erst, wenn es schon an uns geschehen ist. Die Erfahrung seiner Güte, seiner Gnade und seines Erbarmens lässt uns rückschauend seine Herrlichkeit sehen. Und genau das löst Dankbarkeit aus.

Und damit macht Gott deutlich, dass es nicht darauf ankommt, sein Gesicht zu sehen, sondern sein Wirken zu erfahren, in dem ich seine Herrlichkeit sehen kann.

Das Gesicht Gottes ist eine Äußerlichkeit, die mich vom Wesentlichen ablenken würde. Menschen, die sich an Äußerlichkeiten orientieren, nehmen in aller Regel nicht das Eigentliche war. Und genau das kann tödlich enden.

Wenn Gott im Vorübergehen über Mose seine Hand hält, geht es um Bewahren und Vertrauen. Wenn ich einem anderen die Augen zuhalte, dann stelle ich ihm damit auch die Frage, ob er mir vertraut. Es ist etwas, auf das ich mich einlassen muss. Und sich auf Gott einzulassen, heißt, Gott zu vertrauen.

Und damit bin ich wieder am Anfang meiner Predigt angekommen. Sie erinnern sich?

Ein jedes Ding hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten…

Und genau darum geht es: Gott vertrauen, sich in seine Hand zu begeben, auf seine Güte, Gnade und sein Erbarmen zu hoffen und die Zeit, in die mich Gott stellt, als meine von ihm gegebene Zeit zu erfassen und mich der Aufgabe zu stellen, die mir Gott aufgetragen hat. Und wenn diese Zeit vorbeigegangen ist, werde ich auch seine Herrlichkeit sehen. Und dieser Erfahrung wird mich durch die nächste Zeit und das nächste Vorhaben Gottes mit mir tragen.

Amen.

 

Predigt am 2. Sonntag nach Epiphanias 2017 anlässlich meiner Amtseinführung als Pfarrer an der Königin-Luise-Silas-Gedächtniskirche.