Mein Vater, der heute 87 Jahre alt geworden wäre, war mir gegenüber immer sehr geduldig und in der Regel auch von großer Güte, was im Wesentlichen damit zu tun hatte, dass er eine Vision von meinem Leben hatte und da kamen dann Hoffnung und Geduld zusammen. Und er musste zuweilen ganz schön geduldig mit mir sein. Er war mir gegenüber auch die meiste Zeit barmherzig und sogar gnädig. Er hat mir manches durchgehen lassen, wo ich seinen Zorn fürchtete und ich werde nie vergessen, mit welcher Geduld und Empathie er mir bei meinem ersten Scheitern – eher Versagen – im Leben begegnet ist und mir Mut gemacht hat.
Nein, mein Vater war nicht Gott und er war auch nicht wie Gott. Er hat nicht einmal an Gott geglaubt. Aber ich habe eine spürbare Ahnung, was mein Vater so alles mit uns ausgehalten hat, seitdem ich selbst Vater bin. Das hat meine Perspektive auf mich und auf meinen Vater und meine Mutter nachhaltig geändert. Ja, natürlich, wir haben auch einiges mit unseren Eltern ausgehalten. Sie waren halt nicht Gott, auch wenn wir sie in unserer Liebe zuweilen vergöttert haben.
Warum erzähle ich das? Weil ich zum ersten Mal in meinem Leben beim Lesen dieses mir so bekannten Verses nicht dankbar dachte: Ach ja, es ist gut zu wissen, dass Gott geduldig, gnädig und barmherzig mit mir ist, sondern ich einen empathischen Gedanken hatte: „Mein Gott, was musst Du mit uns Menschenkindern alles aushalten? Denkst Du nicht vielleicht auch mal, dass es ohne Deine Kinder einfacher wäre? Fragst Du nicht auch manchmal, ob Du nicht eine viel zu romantische Vorstellung davon hattest, Menschenkinder zu haben?
Naja, Du warst schon immer – nicht geschaffen, nicht geworden – nicht so, wie wir Menschen, die wir alle unsere Erfahrungen als Söhne und Töchter gemacht haben, bevor wir Mutter oder Vater wurden.
Weißt Du, himmlischer Vater, seit ich selbst Vater und nicht mehr nur Sohn bin, ahne ich, wieviel Kraft Dich Deine Liebe kosten muss. Mit umso größerer Dankbarkeit weiß ich Deine Geduld mit uns Menschen, wo ich am liebsten dazwischen hauen würde, zu schätzen.
Und ich danke Dir, dass Du mit uns als Deiner Schöpfung zufrieden warst, dass Du uns am sechsten Tag Deines Schöpfungswerks als gut und nicht als perfekt geschaffen empfunden hast.
Stell Dir nur vor, Du hättest uns perfekt geschaffen. Wären wir perfekt, wäre keine Liebe möglich, wäre keine Gnade möglich, keine Barmherzigkeit, keine große Güte.“
Das Unperfekte an mir fordert meine Liebe zu mir selbst heraus, mit mir selbst gnädig zu sein, Geduld zu haben und barmherzig zu sein, mich selbst anzunehmen. Das Unperfekte am anderen fordert meine Liebe heraus und mit ihm gnädig zu sein, Geduld zu haben und barmherzig zu sein und ihn anzunehmen.
Und diese große Herausforderung dürfen wir annehmen, weil Gott es uns an und mit uns vormacht, der uns angenommen hat wie ein liebender Vater.
Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.
Psalm 103,8
Amen.
Wochenandacht am 12. Januar 2017 im LAFIM über die Tageslosung aus Psalm 103, 8