Pfr. Martin Dubberke

Der Zachäus-Moment

Was bewegt mich in diesen Tagen? Es sind zwei Dinge: Moria und Corona. Es sind zwei Dinge, die gerade irgendwie zusammenhängen, etwas in diesen Tagen gemeinsam haben. Sie verbinden uns und halten uns vor Augen, dass wir alle miteinander gleich sind, es keine Unterschiede zwischen uns in Deutschland, uns in Garmisch-Partenkirchen und den Menschen in Moria gibt. Corona erinnert uns daran, dass Gott uns Menschen ohne Unterschiede geschaffen hat. Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes. So wie die Liebe Gottes niemanden ausgrenzt, grenzt auch Corona niemanden aus. Ich weiß, das klingt gewagt. Und so, wie die Liebe Gottes uns auch an unsere Grenzen fordert – Jesus hat uns das vorgelebt – so fordert uns auch Corona an den Grenzen unserer Nächsten- und Eigenliebe und unseres Egoismus.

Und damit komme ich zum Predigttext aus dem Lukas-Evangelium, Kapitel 19, die Verse 1 bis 10:

19.1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. 6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. 7 Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8 Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Ich habe lange über diesem Predigttext gesessen und überlegt, wie ich über ihn predigen soll. Die Geschichte vom Zöllner Zachäus ist ja eine Geschichte, die die meisten von uns seit Kindergottesdienstzeiten begleitet und neben der Geschichte vom Barmherzigen Samariter wohl zu den populärsten Geschichten aus dem Neuen Testament gehört. Jede und jeder von uns kennt diese Geschichten und hat schon etliche Auslegungen und Predigten darüber gehört oder wie ich gehalten. Und ganz ehrlich: Bis Samstagmorgen hatte ich keinen blassen Schimmer, was mir heuer diese Geschichte erzählen könnte. Zu sehr war ich abgelenkt von dem Nachdenken über die Geschichte mit den Steuern, das ganze Ausbeuten und Raffen, dass ich nicht zum Eigentlichen der Geschichte durchdrang: Der Liebe Jesu, die keine Unterschiede macht.

Und mit einem Male sah ich die ganzen Zusammenhänge und, was mir die Geschichte von Zachäus heute am 13. September 2020 erzählt.

Zachäus ist nämlich der einzige in der Geschichte, der verstanden hat, worum es Jesus geht. Er ist damit den Jüngern und den anderen, die um Jesus herum sind, weit voraus, all denen, die da murrten sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.

Und genau damit hält er uns allen nämlich den Spiegel vor: Wir haltet Ihr es, wie hältst Du es mit der Nachfolge Jesu Christi? Wie hältst Du es mit Deinem Egoismus, Deinem Wunsch nach immer mehr, nach immer mehr Wohlstand? Wie hältst Du es mit dem Raffen von Ressourcen ohne Rücksicht auf Verluste? Wie hältst Du es mit Deinem Egoismus, Deiner Egozentriertheit? Wie hältst Du es mit Deinem „Ich zuerst!“?

Moria und Corona stellen uns allen und nicht nur den Politikerinnen und Politikern diese Fragen. Denn Politiker entscheiden auch nicht immer der Vernunft oder gegebenenfalls christlichen Logik folgend, sondern auch aus der Angst vor uns Wählern, weil sie doch wiedergewählt werden wollen, weil sie unsere Stimmen raffen wollen. Und so entstehen dann solche furchtbaren Geschichten wie Moria, wo die Polizei gestern nicht einmal mehr die NGOs durchgelassen haben, die an die Menschen dort Lebensmittel verteilen wollten.

Es liegt also auch und wesentlich an uns selbst, dass es solche Orte wie Moria gibt. Und uns, das sind nicht nur wir in Deutschland, sondern – wenn ich mich mal nur auf einen Teil der Welt beschränke – wir alle im Europa der EU. Uns allen hält dieser kleine Zöllner Zachäus den Spiegel vor. So ein Mann wie Zachäus wurde von allen als Missstand, als Ausbund der Sünde bezeichnet. Dieser kleine Mann, der auf einen Maulbeerfeigenbaum klettern musste, um Jesus zu sehen. Was für ein schönes Bild.

Ich behaupte, dass in jeder und jedem von uns so ein kleiner Zachäus steckt, so eine Seite an uns, die wir gar nicht so gerne sehen wollen, sie uns aber doch wie die Menge um Jesus herum, daran hindert, das Eigentliche zu sehen und zu erkennen und damit unser Handeln, Denken, Entscheiden manchmal in kurzsichtiger Weise mehr bestimmt als die Weitsicht der Liebe Jesu Christi.

Zachäus hatte seinen Wohlstand zu Lasten anderer aufgebaut, indem er von Ihnen genommen hat, was er nur nehmen konnte und hat sie dann mehr und mehr wie eine Zitrone ausgequetscht, dass ihnen kaum das Nötige zum Leben blieb.

Nebenbei gesagt: Stellt Euch einfach mal die Frage, wer wieviel an der Tasse Kaffee verdient, die wir morgens trinken.

Also, Zachäus hatte in seinem Leben mehr Wohlstand angehäuft, als er je zum Leben gebraucht hätte. Wir wissen nicht, warum er das getan hat. Vielleicht, weil er anfangs eine Existenzangst hatte? Wenn dem so wäre, hätte er mit seiner Existenzangst die Existenz vieler anderer Menschen aufs Spiel gesetzt, was er ja der facto auch gemacht hat.

Und auch wir neigen dazu durch unser Verhalten, die Existenz anderer Menschen aufs Spiel zu setzen, weil wir allein mit unserem Einkaufsverhalten Menschen, die zigtausende Kilometer von uns entfernt leben und arbeiten, von ihrer Arbeit kaum leben lassen. Und wir haben ganz Vieles von unserem täglichen Bedarf ausgelagert, weil wir nicht so viel dafür bezahlen wollen oder noch mehr daran verdienen wollen. Wer näht denn unsere Kleidung, die wir tragen? Wer macht denn die Schuhe, die wir an unseren Füßen tragen? Das hat auch Menschen in unserem Land ihre Arbeit gekostet.

Ja, auch wir müssen in unserem Leben wie Zachäus sinnbildlich auf einen Baum steigen, um Jesus zu sehen, um unser Leben und unsere Welt aus einer neuen Perspektive wahrzunehmen, um gewissermaßen mal von oben aus einen Draufblick auf alles zu haben. Und noch etwas braucht’s: Den Drang, wie Zachäus auf diesen Maulbeerfeigenbaum zu klettern, um eine neue Perspektive zu gewinnen und wieder Jesus zu sehen. Und dann passiert ja auch das Überraschende, dass Jesus auf einen zukommt und sich zum Essen bei Dir einlädt und sich Dein Leben verändert, man umkehrt, und weil man sein Leben zum Guten verändert, auch das Leben von derer wieder gut wird.

Moria ist so ein Maulbeerfeigenbaum, an dem wir erkennen können, was wir falsch gemacht haben und noch immer falsch machen.

Und wenn ich mir anschaue, dass hier in Garmisch-Partenkirchen am Freitag nur ein einziger Mensch 23 von 33 Neuinfizierten angesteckt hat – und vielleicht sogar noch mehr – weiß ich, wie fragil alles ist.

Zachäus hatte durch Jesus erkannt, dass er sein Leben auf einem falschen Fundament aufgebaut hatte und er dadurch eine enorme Schuld auf sich geladen hatte, eine Schuld, die ihn am Ende einsam gemacht hat. Er hat die Verantwortung für sein Handeln übernommen und hat sein Leben neu, gerecht und fair ausgerichtet. Er hat seinen zu Unrecht erworbenen Reichtum mit mehr als nur Zins und Zinseszins zurückgegeben. Keine Alibi-Aktion, kein Greenwashing, wie man das heute bei Unternehmen nennt, sondern echte Reue und Umkehr. Zachäus hat uns auf beeindruckende Weise vorgemacht, dass echte Umkehr möglich ist.

Und wie hat Jesus darauf reagiert? Er sprach zu Zachäus:

„9 Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

„Heute ist diesem Hause Heil widerfahren.“ Das ist die zentrale Botschaft an uns. Genau das passiert, wenn man so konsequent wie Zachäus umkehrt. Nur in der Umkehr wird das Heil möglich. Und Moria und auch Corona machen uns die Dringlichkeit der Umkehr spürbar deutlich.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfr. Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt über Lukas 19, 1-10, Predigtreihe II am 14. Sonntag nach Trinitatis, 13. September 2020 in der Johanneskirche Partenkirchen