Pfr. Martin Dubberke

Der Prophet in der S-Bahn

Ich kenne da einen alten Mann. Sein Name: Salzmann. Vielleicht haben Sie ihn auch schon mal gesehen, wenn Sie in Berlin mit der S-Bahn unterwegs sind. Er ist groß, hager, weißhaarig und trägt einen Bart. Seine Augen haben ein inneres Leuchten. Ich kenne ihn schon seit mehr als zwanzig Jahren. Früher lief er mit einem Transparent am Bahnhof Zoo und den Kurfürstendamm entlang. Auf seinem Transparent stand immer ein Bibelspruch. Ich weiß gar nicht mehr welcher. Mittlerweile hat er einen kleinen Metallkoffer dabei. Auf der einen Seite steht, wenn ich mich recht erinnere: Jesus liebt dich! Und auf der anderen Seite: Frage mich!

Der alte Mann – er ist mittlerweile fast achtzig – ist immer noch unterwegs. Nicht mehr so lange wie früher, sondern immer ein paar Stunden. Er geht mit seinem Köfferchen durch die S-Bahn und stellt sich dann immer an einem Abteilende auf, hält den kleinen Koffer mit der Botschaft vor sich, lächelt in die Runde, drängt sich nicht auf und hat einen Blick dafür, wenn jemand Gesprächsbereitschaft signalisiert. So sind auch wir vor vielen Jahren miteinander ins Gespräch gekommen und seitdem freuen wir uns immer, wenn wir einander sehen und unterhalten uns zwei oder drei Stationen, dann zieht es ihn wieder weiter mit seiner Mission.

Der Mann ist unaufdringlich und darin liegt seine eigentliche Faszination. Herr Salzmann ist nicht einer dieser aufdringlichen Missionare, die mit der Bibel in der Hand durchs Land ziehen, sondern ein Einladender, der von seiner Geschichte mit Gott erzählt: Wie lange es gedauert hat, bis aus ihm ein Christ geworden ist. Irgendwann einmal in seinem Leben ist er Anarchist gewesen, weil ihm das die absolute Freiheit schien, dann entdeckte er den Buddhismus für sich, versuchte sich an harten Drogen und wurde dann Christ, was ihm das Leben gerettet hat. Ich weiß gar nicht mehr, wie es dazu kam.

Er kann eine lange Geschichte über sein Leben mit Gott erzählen und wirkt dabei überhaupt nicht wie ein religiöser Spinner, auch wenn man ihn mit seinem Köfferchen leicht für einen solchen halten könnte. Er hat die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, wenn Gott einen rettet. Und er hat die Erfahrung gemacht, wie es ist, wenn man sein Leben nicht nach Gott ausrichtet.

Herr Salzmann hat für mich nicht nur seine anbietende missionarische Seite, sondern er hat für mich auch etwas von einem Propheten. Ich frage mal: Wo begegnen uns heute noch Propheten?

Ja, es gibt Wissenschaftler, Politiker, Analysten, Fernsehkommentatoren, die einem erzählen, was passieren wird, wenn man dieses oder jenes tut oder lässt, die einen – wie jetzt in den Tages des Vorwahlkampfes – versuchen für die eigenen Sache zu gewinnen und nicht mit der Auflistung ihrer Erfolge und Wahlkampfgeschenke geizen, wo eine Partei über die andere erzählt, dass mit ihr der Untergang des Landes eingeleitet wird, und so weiter und so fort. Sie nehmen – wie so viele in den Medien – eine prophetische Attitüde an, sind aber keine, weil die Perspektiven, die sie aufweisen, in keinem Zusammenhang mit dem göttlichen Wirken stehen.

Das ist mit meinem stillen Herrn Salzmann anders. Er ordnet sein Leben in der Verantwortung vor Gott ein.

Für Ihn gilt, was heute als Votum über diesem Gottesdienst steht:

So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! (Jesaja 43, 1)

Nebenbei gesagt: Aus Jesaja 43, 1-7 stammt auch der Predigttext für diesen Gottesdienst.

So, und nun stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen in der S-Bahn, sind auf dem Weg zum Arzt, sind in Gedanken versunken, weil es ihnen im Moment vielleicht nicht so gut geht, sie ein wenig Angst vor dem Arztbesuch haben, und dann geht unser unscheinbarer Prophet den Gang entlang, stellt sich hin, hält sein Köfferchen vor sich, auf dem genau dieser Vers steht: So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! (Jesaja 43, 1)

Sie heben Ihren Blick auf und lesen den Vers. Und irgendetwas tut sich in ihrem Blick, das dazu führt, dass sich unser Prophet zu Ihnen setzt und Ihnen die Frage stellt: „Glauben Sie an Gott?“ Und sie denken zuerst: Warum setzt sich jetzt dieser fromme Spinner zu mir? Hätte der nicht einfach weitergehen können? Muss der mich jetzt ansprechen?“

Das ist ja das schöne an Propheten, sie kommen einfach zu Ihnen, weil sie ja geschickt worden sind. Sie haben ja einen Auftraggeber, der sagt: „Pass mal auf, mein Junge, du musst da mal ein paar ernste Worte mit meinem Volk sprechen, und sie wieder auf Linie bringen!“ Und dann ziehen sie los, die Jesajas, Jeremias und Jonas dieser Welt, um ihren Auftrag auszuführen, auf taube Ohren zu stoßen und gegebenenfalls auch selbst verprügelt zu werden.

Nebenbei gesagt: Ist Ihnen eigentlich mal aufgefallen, dass Gott – nachdem er seinen Sohn in die Welt geschickt hat – keine Volkspropheten mehr geschickt hat? Wissen Sie auch warum?

Er hat seine Strategie geändert. Das können wir heute ganz gut mit der Epistel aus Römer 6 und dem Evangelium Matthäus 28 nachvollziehen. Unser alter Mensch ist mit Jesus gekreuzigt worden. Damit hat etwas Neues begonnen. Gott hat auf diese Weise noch einmal gesagt: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!

Und dann erhalten wir, die wir an Gott glauben von seinem auferstandenen Sohn auch noch den Auftrag: Nicht nur selbst Jünger zu sein, sondern auch andere zu Jüngern zu machen, indem wir sie taufen und lehren, alles zu halten, was Jesus uns befohlen hat.

Damit wird jeder, der getauft ist und glaubt zu einem kleinen Propheten.

Und genau so einer ist auch der Herr Salzmann, der sich gerade neben Sie gesetzt hat. Und glauben Sie nicht, dass es sich hier um einen Zufall handelt. Der ist nämlich an diesem Tage zu Ihnen geschickt worden.

Naja, und Propheten stoßen ja immer auf so eine Abwehrhaltung. Keiner will mit denen was zu tun haben, weil das ja immer auch mit Veränderungen in einem Leben verbunden ist, in das man sich so schön und bequem eingefunden hat. Und heute ist eher so, dass man nicht mit einem religiösen Spinner in Verbindung gebracht werden möchte.

Aber da hat Sie der milde Herr Salzmann mit seinem Lächeln auch schon gewonnen und den ersten Schlüsseldreh zu Ihrem Herzen geschafft, während er Ihnen die Frage stellt: „Glauben Sie an Gott?“

Es gibt da in Ihnen noch so einen inneren Widerstand, weil Sie ahnen, dass Sie bei einem „Ja“ in ein Gespräch verwickelt werden. Und „Nein“ können Sie auch nicht sagen, weil das ja nun gelogen wäre. Sie können ja nicht einfach Ihren Glauben verleugnen.

Also, nicken Sie dezent in der Hoffnung, dass es das nun war.

Jetzt könnte von unserem Propheten die Frage kommen: „Und warum lächeln Sie dann nicht?“

Von dieser Direktheit müssen Sie einen Moment schlucken und es beginnt ein Gespräch. Sie erzählen, dass es Ihnen nicht gut geht und nicht wissen, wie sie mit der Situation, in der Sie sich gerade befinden zurecht kommen.

Fragt der Prophet: „War das schon immer so, dass Sie sich dann von Gott alleingelassen gefühlt haben?“

Sie überlegen und während Sie überlegen, liest Ihnen der Prophet eine Bibelstelle vor. Jesaja 43, 1-7:

Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner statt, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“

Und während er Ihnen diese Verse vorliest fällt Ihnen Wort für Wort, Satz für Satz wieder ein, dass Sie immer wieder in ihrem Leben das Gefühl hatten, allein gewesen zu sein, es sich dann aber doch gerichtet hat, weil ihnen der Mensch oder der Mensch begegnet ist. Und mit einem Male wird Ihnen bewusst, an wie vielen Stellen Ihnen in Ihrem Leben Gott begegnet ist, ohne, dass Sie es auf den ersten Blick gemerkt haben und ein Lächeln schleicht sich in Ihr Gesicht. Der Prophet sieht es, lächelt Sie an und sagt: „Gott segne Sie!“ Damit steht er auf und bevor er im Gedränge der S-Bahn verschwindet, fällt Ihr Blick noch einmal auf seinen Koffer: So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! (Jesaja 43, 1)

Und Sie denken: „Ja, das stimmt!“

Amen.