Pfr. Martin Dubberke
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Von Schafen und Hirten

Tja, liebe Schwestern und Brüder, wie soll ich Sie nach diesem Predigttext ansprechen, vielleicht:

Liebe Schafe? Oder doch eher: Liebe Hirten?

Ich lese diesen Predigttext mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite fühle ich mich wie eines dieser Schafe in einer großen Herde, das von Weidegrund zu Weidegrund zieht und seiner Tage geht, so wie ich Tag für Tag ins Büro fahre und dort meiner Arbeit nachgehe. Also gewissermaßen ein Schaf in der Herde der arbeitenden Bevölkerung, das sich entweder über seinen Chef – Pardon  – Hirten ärgert oder sich über ihn freut.

So, und dann bin ich aber mit meiner kleinen Herde noch Teil einer Riesenherde – der Einfachheit nenne ich diese Herde mal Deutschland. Und da gibt es auch Hirten, kleine Regionalhirten und dann noch Bundeshirten und hier muss man noch unterscheiden zwischen solchen Hirten, die Hirten sind und solchen, die es gerne wären. Die nenne ich jetzt mal die Oppositionshirten. Es gibt sogar Koalitionshirten.

Gut, das ist die eine Seite, meine Seite als Schaf. Dann habe ich aber noch die andere Seite, nämlich die als Hirte. Da bin ich einmal Hirte hier in der Gemeinde, aber zuerst einmal bin ich Hirte in meiner Familie, und weil ich auch noch im Büro eine leitende Aufgabe habe, bin ich auch dort einer von den Hirten.

Ich fühle mich also in zweifacher Weise von Hesekiel angesprochen: Als Schaf und als Hirt.

Meine Rolle als Schaf ist schnell geklärt. Als Schaf muss ich Wolle liefern. Die Wolle ist mein Beitrag zur Gesellschaft, ihr das zu geben, was sie braucht, um als Gemeinschaft leben zu können. Als Schaf muss ich mich auch in die Disziplin der Herde einordnen, sonst ist es schlecht um meine Freiheit bestellt. Als Schaf darf ich mich auch über meine Hirten beschweren. Das gehört zur Psychohygiene.

Wenn ich mich nicht beschweren kann, dann ist es wiederum um meine Freiheit schlecht bestellt. Als Schaf bin ich vor allem auf mich selbst und meine Kreise, in denen ich mich bewege, konzentriert. Meine Welt ist schon gestört, wenn es nicht genug Weideplatz gibt, wenn ich nicht genug bekomme, um fröhlich meine Wolle herzugeben. Ich bin vor allem darauf konzentriert, dass alles so gut läuft, dass ich in meiner bescheidenen Annehmlichkeit nicht gestört werde.

Als Hirt sieht meine Rolle schon wieder ganz anders aus. Ich trage eine andere Verantwortung. Mein Blick muss mehr auf das große Ganze konzentriert sein. In meiner Rolle als Hirt geht es nicht mehr um mich selbst, sondern um die anderen, weil ich Verantwortung für andere trage. Und dieser Verantwortung kann ich nur gerecht werden, wenn ich verstehe, wie die Dinge zusammenhängen und einander bedingen, wenn ich verstehe, was aufeinander und aneinander gewiesen bedeutet.

Als Hirt, muss ich natürlich auch dafür sorgen, dass es meiner Herde gut geht. Doch das darf nicht zu Lasten anderer Herden geschehen, weil es sonst einmal zu meinen Lasten gehen wird.

Als guter Hirt führe ich meine Herde zu grünen Weiden und sicher durch dunkle Täler. Als schlechter Hirt lebe ich auf Kosten meiner Herde, unterdrücke sie, beute sie aus oder führe sie aus purem Egoismus in die Irre.

Als guter Hirte darf ich ruhig Angst davor haben, meiner Aufgabe nicht gerecht zu werden. Aber meine Angst darf mir nicht zur Grenze werden, sondern zur Einladung, mich ihr zu stellen, sie als besondere Sensibilität zu verstehen.

Als guter Hirte mache ich mit meiner Angst nicht meine Herde kirre. Als guter Hirte schüre ich aber auch nicht die Angst meiner Herde, um meinen eigenen Nutzen daraus zu ziehen und gegebenenfalls eigene Schwäche zu kaschieren.

Als guter Hirte, lasse ich mich vom Wort Gottes leiten.

Ok, soweit so gut. Soviel, was mir erst einmal einfach nur so durch den Kopf gegangen ist, nachdem ich diesen Text gelesen habe.

Schauen wir uns den Predigttext ein wenig genauer an. Er fängt damit an, dass die Legitimität Hesekiels geklärt wird. Er ist von Gott direkt beauftragt, den Hirten Israels eine deutliche Verwarnung auszusprechen, eine Art Abmahnung, die im nächsten Schritt eine Kündigung zur Folge haben wird.

Es wird auch der Grund der Verwarnung genannt:

Wehe den Hirten, die sich selbst weiden.

Dem Grund folgt die Benennung der eigentlichen Aufgabe:

Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?

Da ist gewaltig etwas in die Schieflage geraten. In den nächsten Versen wird aufgezählt, was die Hirten Israels so alles tun oder eher nicht tun. Es ist eine lange Liste der Versäumnisse, der Arbeitsverweigerung, Verantwortungslosigkeit und Selbstbereicherung.

Ich sage es mal so: Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie wären der Besitzer eines Unternehmens und der von Ihnen eingesetzte Geschäftsführer fährt das Unternehmen an die Wand, weil er seinen Job nicht macht und nur das Geld aus dem Unternehmen zieht, wobei er den Laden an den Rand einer Insolvenz führt.

Richtig, da würde Ihnen der Kragen platzen und Sie würden diesen Geschäftsführer achtkantig rausschmeißen, um im letzten Moment das Unternehmen zu retten, das Sie einmal gegründet und aufgebaut haben. Sie würden auch erst einmal keinen neuen Geschäftsführer einsetzen, weil Sie gerade niemandem mehr vertrauen können, da Ihr Vertrauen fundamental erschüttert ist. Sie selbst würden wieder die Leitung des Unternehmens in ihre Hände nehmen.

Und genau das hat Gott an dieser Stelle auch gemacht, als er über seinen Unternehmenssprecher – pardon – Propheten Hesekiel sagen lässt:

Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.

Und dann stellt er seinen Maßnahmenplan zur Rettung des Unternehmens oder treffender seiner Herde vor, den er in einem programmatischen Satz zusammenfasst:

Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.

Jetzt könnte man sagen, dass das schon mancher Aufsichtsratsvorsitzender, Vorstandsvorsitzender, Politiker oder Politikerin gesagt hat. Wir nennen das in unserer Sprache auch gerne Wahlversprechen. Tja, aber auch Aufsichtsratsvorsitzende, Vorstandsvorsitzende und Politiker sind nur Menschen und damit fehlbar oder, wenn es um den Erhalt ihrer Macht geht, recht flexibel mit ihren ethischen Grundsätzen, wenn es darum geht, ob ihnen das Hemd oder die Jacke näher ist.

Und deshalb schließt der Predigttext auch mit der Zusage Gottes:

Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Was das in der letzten Konsequenz bedeutet, sehen wir im Evangelium dieses Sonntags:

Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.

So, wie wir uns als Eltern schützend vor unsere eigenen Kinder stellen und eher umbringen ließen, als dass unseren Kindern etwas angetan würde, so ist auch der gute Hirte.

Gott hat – und das macht der Predigttext aus dem Hesekiel deutlich – hat die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass er nur dann eine Chance mit seinem Laden, mit seiner Schöpfung, mit uns Menschen hat, wenn er deutlich macht, dass er selbst der Hirte ist. Sein Vertrauen in uns Menschen war lange Zeit enttäuscht. Aber dann hat er einen neuen Anfang mit uns gewagt und ein ungeheures Vertrauen in uns gesetzt, dem wir bis zum heutigen Tagen nicht vollumfänglich gerecht geworden sind.

Nun stellt sich die Frage, warum Gott nicht schon längst mal wieder – wie bei Hesekiel – mit der Faust auf den Tisch geschlagen hat. Ich weiß es nicht. Vielleicht – aber das ist nur meine Vermutung – hat Gott einen realistischeren Blick auf unsere Möglichkeiten bekommen.

Wir haben es heute in der Epistel gehört. Da heißt es im ersten Brief des Petrus:

Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen. 1.  Petrus 22, 21

Ich finde es beruhigend, dass Petrus nicht schreibt, dass wir wie Jesus sein sollen, sondern dass wir dazu berufen sind, seinen Fußstapfen nachzufolgen. Die Betonung liegt hier auf nachfolgen, ihnen nachzugehen.

Seinen Spuren zu folgen, bedeutet, sich an ihm, seinem Leben, seinen Worten, seinem Vorbild zu orientieren. Das gelingt dem einen mehr und dem anderen weniger.

Petrus schreibt, dass wir durch die Wunden Jesu heil geworden sind und nicht mehr wie irrende Schafe sind.

Das bedeutet, dass wir uns zuerst an Jesus orientieren und vor diesem Hintergrund einen prüfenden Blick auf unsere Hirten und Möchtegernhirten werfen und vor allem, ob wir selbst noch auf Kurs sind.

In diesem Sinne: Amen.

Predigt am Sonntag Misericordias Domini am 30. April 2017 in der Königin-Luise-Gedächtniskirche über Hesekiel 34,1-2 (3-9) 10-16.31