Liebe Geschwister, dieser Predigttext und dieses Erntedankfest ist eine einzige Ansage wider den Egoismus, wider allem „ich und wir zuerst“. Dieser Predigttext aus dem Propheten Jesaja legt seine Finger auf all die wunden Stellen unseres Daseins, unserer Welt, was auch heute in die falsche Richtung geht, was die zentralen Probleme in unserer Welt und auch unserer Gesellschaft sind. Wir sehen vor allem uns selbst und erst dann den anderen, auch als Länder und Staaten. Heißt es aber nicht „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“?
Es erschreckt mich, dass weltweit dieser Virus des Egoismus, des Ich-Zuerst so grassiert und immer mehr Länder ergreift. Dabei müssten wir dagegen nicht einmal einen Impfstoff erfinden, weil es diesen Impfstoff nämlich schon längst gibt; und er muss nicht einmal gespritzt werden, sondern nur geglaubt werden.
Nichts anderes sagt uns Jesaja heute, wie schon vor rund zweieinhalbtausend Jahren. Und so ist dieser Predigttext ein einziger Aufruf zur Umkehr, zur Buße und damit zur Neuausrichtung unseres Lebens und damit auch unserer Welt. Es ist der Aufruf zum TEILEN, AUFBRECHEN und ERNEUERN.
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Und so wie sich der Text gliedert, so gliedert sich auch die Predigt. Lasst uns mit dem Teilen beginnen.
Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.
Jesaja 58, 7-8
Jesaja nennt hier die drei zentralen Nöte des Menschen:
- Hunger
- Obdachlosigkeit
- Nacktheit
Alle drei Nöte haben Ursachen. Und die zentrale Ursache ist, sich von Gott entfernt zu haben. Hunger entsteht, weil durch ungerechte Verteilung oder durch Krieg Menschen keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben, weil die Felder zerstört werden oder nicht bestellt werden können. Obdachlosigkeit entsteht, weil z.B. Wohnraum zerstört wird oder durch zu hohe Mieten unzugänglich wird. Nacktheit entsteht, wenn alle diese Nöte und Ursachen zusammentreffen. Jesaja sagt, dass diese Nöte nicht hingenommen werden müssen, sondern jeder einzelne Mensch von uns etwas dagegen tun kann, indem er teilt: Brich dem Hungrigen Dein Brot.
Und beim Hungrigen soll nicht unterschieden werden, dass der eine etwas bekommt und der andere etwa nicht. Es ist nicht die Rede vom inländischen oder ausländischen Hungrigen, sondern von „dem“ Hungrigen.
Und genau an dieser Stelle sagt Jesaja, dass man sich nicht seinem Fleisch und Blut entziehen solle. Sich nicht seinem Fleisch und Blut zu entziehen, bedeutet: Sich nicht seiner Verantwortung zu entziehen, die wir vor Gott und unserem Nächsten haben. Und hier geht es nicht um das Blut eines einzelnen Volkes, sondern der ganzen Menschheit, denn nicht nur der Deutsche ist von Gott geschaffen, sondern auch der Ukrainer oder der Russe, der Palästinenser wie auch der Israeli, der Chinese oder der Äthiopier, weil nicht die Völker und Grenzen von Gott geschaffen wurden, sondern der Mensch, der Mensch, den Gott nach seinem Bilde geschaffen hat, der Mensch, zu dem Gott einst gesagt hat, dass er sich die Welt untertan machen solle, er also verstehen solle, wie sie funktioniert, um sie zu erhalten.
Doch wir haben uns auf einen gänzlich anderen Weg begeben, auf dem wir menschengemachtem Hunger begegnen, menschgemachtem Krieg und menschgemachter Not.
Und diese Not sehen wir, weil diese Not in Gestalt von Menschen zu uns kommt. Hinter unserer Johanneskirche können wir diese Not sehen, mit dieser Not sprechen, die Geschichten dieser Nöte hören, und das nicht nur aus vielen verschiedenen Ländern, sondern auch aus unserem eigenen Ort.
Ich bin dankbar für die mehr als hundert Ehrenamtlichen an unserer Tafel, die Woche für Woche in Garmisch-Partenkirchen, Mittenwald, Murnau und Oberammergau sich an unserer Tafelarbeit beteiligen, die Lebensmittel aus den Läden abholen, die Lebensmittel sortieren, die Lebensmittel austeilen und auch zu den Menschen nach Hause fahren, die nicht mehr selbst zur Tafel kommen können. Wir erleben dort Gemeinschaft.
Ich bin dankbar, dass so viele Menschen uns unterstützen, mit uns teilen. Ich denke zum Beispiel an den Mann, der in dieser Woche zu uns ins Pfarramt kam und für die Tafel 500 Euro bar auf den Tresen legte. Ich denke an den Mann, der dieser Tage im Regen an meiner Tür klingelte und mir eine Kiste mit Milchpackungen in die Hand drückte. Und es gäbe noch so viele Menschen mehr zu nennen, die teilen.
Ihnen allen ist eines gemeinsam, nämlich, dass, wenn sie vor einem stehen, ein Licht hervorbricht wie die Morgenräte.
Und wenn ich mich bedanke, höre ich oft Sätze wie z.B.: „Ich bin dankbar, dass es mir gut geht. Und so ist es nur recht, wenn ich etwas von meinem Guten, das der andere nötig braucht, abgebe.“ Dann erlebe ich Gerechtigkeit aus Dankbarkeit.
Und diese Gerechtigkeit bringt uns am Ende einander näher als jede politisch, ideologische Gerechtigkeitsdebatte, der meist der fahle Geschmack des Neides anhaftet.
Wir ernten, was wir säen! Säen wir Weizen, ernten wir Weizen. Säen wir Neid, ernten wir Neid. Säen wir Krieg, ernten wir Krieg. Säen wir Liebe, ernten wir Liebe. Säen wir Liebe, dann wird die Heilung unserer Welt voranschreiten, und unsere Gerechtigkeit vor uns hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn unseren Zug beschließen.
Aufbrechen
Wenden wir uns also dem AUFBRECHEN zu. Jesaja sagt:
9 Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
Jesaja 58,9-10
Ein hartes Wort. Habe ich das gerade wirklich richtig verstanden? Gott ist nur da, wenn wir das so tun, wie er es sagt? Bedeutet das z.B., dass unser extremer Egoismus, dieses „Alles für uns“, Gott von uns fernhält? Ich bin da, wenn… Eine klassische „Wenn-Dann-Situation“.
Es geht also nicht nur um meine Motivation, sondern auch um meine Haltung gegenüber dem Nächsten. Wenn ich mit dem Finger auf ihn zeige, ihn unterjoche, ihm übel nachrede – also in heutiger Sprache gesprochen, mit Fake News, alternativen Fakten, und Shitstorm in den sozialen Medien und überhaupt überziehe, dann habe ich mich von Gott entfernt, dann trage ich zum Hunger, zur Not bei.
Es geht ums Aufbrechen aus diesem Kreislauf. Ich denke dabei nur an das berühmte Reden von „denen da oben“. Tue ich das, nehme ich mich aus meiner Verantwortung raus. Dann mache ich mich in meinem Handeln von der Politik abhängig. Jesaja aber sagt: Orientiere die nicht an denen da droben, sondern an dem einen da oben, nämlich an Gott.
Heute am Erntedank dürfen wir uns vor Augenhalten, dass nichts, aber auch gar nichts selbstverständlich ist.
Es ist nicht selbstverständlich, dass im Supermarkt Lebensmittel in den Regalen stehen. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass wir diese Lebensmittel kaufen können. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass wir ein Dach über dem Kopf haben. Ich erinnere hier nur an die Menschen, die nach Jahrzehnten, z.T. sogar nach einem halben Jahrhundert mit über achtzig Jahren aus ihren Wohnungen hier in unserem Garmisch-Partenkirchen rausgeklagt wurden, um noch mehr Profit mit den Wohnungen machen zu können. Das hat auch Mitglieder unserer Gemeinde erwischt. Einer von Ihnen lebt mittlerweile schon mehr als ein Jahr im Obdachlosenasyl unseres Ortes, den Loisachauen. Ein Zimmer, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, Gemeinschaftsdusche, Gemeinschafts-WC. Nichts ist selbstverständlich, deshalb dürfen wir danken für das, was wir haben, um das, was wir haben, wertzuschätzen.
Kein Kürbis wächst einfach so. Er braucht die Pflege, die Arbeit. Und so ist es auch mit unserem Miteinander. Es bedarf der Pflege, der Beziehungspflege.
Vieles liegt brach und wüst in unserem Land. Und viele Menschen haben ideologisch extreme Lösungsvorschläge dafür. Aber glaubt mir, jede dieser extremen Randlösungen führt in die Wüste.
Überall, wo wir den Egoismus durchbrechen, bringen wir sein Licht zum Leuchten und machen deutlich, dass wir Gott folgen. Es geht darum, dass wir aufbrechen, den Hungrigen unser Herz finden lassen und den Elenden sättigen, damit unser Licht in der Finsternis aufgeht, und unser Dunkel wie der Mittag sein wird. Es geht darum, die Herzenshärtigkeit aufzubrechen und offen füreinander zu sein. Wenn wir das Herz aufmachen, damit der andere seinen Platz bei uns im Herzen finden kann, dann wird von uns ein Leuchten ausgehen und Gott hinter uns gehen und den Rücken stärken. Dann wird unsere Welt heilen.
Erneuern
Und damit komme ich zum Schluss, zum Erneuern. Wenn wir uns in der Liebe erneuern, wird uns Gott immerdar führen und uns in der Dürre sättigen und unser Gebein stärken. Und wir selbst werden wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle sein, der es nie an Wasser fehlen wird. Diese Erneuerung ist auch eine Erneuerung unseres Sinnes. Das macht Jesaja deutlich. Und diese Erneuerung des Sinnes, ist der Beginn der Heilung der Welt.
Dieser Predigttext am Erntedanksonntag macht deutlich, dass nicht nur Weizen geerntet wird, sondern auch Menschen. Die Mühe, die der Bauer in den Weizen steckt, schmecken wir am Ende in Gestalt eines Brotes, das der Bäcker mit seinem Wissen und Können daraus gemacht hat. Und so ist es auch mit der Mühe, die wir in Menschen stecken, in unsere Kinder oder Schüler oder unsere Konfis oder in jedes gute Gespräch, um jemandem von der Liebe Gottes und der heilenden Kraft der Erneuerung, die von dieser Liebe ausgeht, zu erzählen und sie auch zu zeigen.
Vor dem Erntealtar sehen wir die Zeuginnen und Zeugen der Mühen der Landwirte, der Bäcker, Köche aber auch des Wirken Gottes, so wie wir in unserem Miteinander unsere Mühen um die Liebe und deren Wirkung sehen können, weil wir Gottes Liebe in uns und aus uns heraus wirken lassen.
Lasst uns leuchten! Lasst uns diese Welt miteinander zum Leuchten bringen!! Lasst uns miteinander diese Welt gemeinsam in seinem Sinne erneuern und damit heilen!!!
Amen.
Pfr. Martin Dubberke
Predigt am Erntedanksonntag in der Friedenskirche zu Burgrain und der Johanneskirche zu Partenkirchen am 5. Oktober 2025, Perikopenreihe I, Jesaja 58,7-12
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