Pfr. Martin Dubberke

Suche Frieden und jage ihm nach (Psalm 34,15)

Das ist wirklich eine Zeitansage. Ich schreibe meine Gedanken zur Jahreslosung 2019 noch im November 2018. Einhundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, der sich noch heute auf unser Leben auswirkt. Alles, was im November 1918 geschah, hat auch heute noch Einfluss auf unser Leben, wirkt sich noch heute auf politisches Handeln aus.

Ich denke an meinen Großvater. Er war Kanonier an der französischen Front. Er wurde wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Er hatte seine Mutter ohne Urlaubsschein in Berlin besucht und wurde auf dem Weg zurück zur Front verhaftet. Das Kriegsende im November 1918 hat ihn mir zum Großvater werden lassen.

In seinem Nachlass habe ich auch einen Feldpostbrief von einem Kameraden gefunden, der ebenfalls an der Front in Frankreich gekämpft hat. Der Brief muss für meinen Großvater so bedeutsam gewesen sein, dass er ihn bis zu seinem Tode behalten hat, auch als alles im zweiten Weltkrieg zerstört wurde, blieb der Brief bei ihm. Sein Kamerad beschreibt darin, wie sie ein Dorf stürmen und zerstören mussten, und dass doch alles sinnlos war.

Vor mir auf dem Schreibtisch liegt das Buch „Kaisersturz“ von Lothar Machtan, das die letzten Tage der Monarchie und des Ersten Weltkriegs beschreibt. Ein empfehlenswertes Buch, das mich noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive auf Kaiser Wilhelm II. blicken lässt. Es hat mir deutlich gemacht, wie wenig eigentlich dazu gehört hätte, den Krieg damals zu beenden und damit vollkommen andere Optionen zu haben. Es war nicht möglich, weil man der Realität nicht ins Auge blicken wollte, weil man eben nicht den Frieden suchte, sondern aus Eitelkeit und widerlichem Machtgehabe, der Angst um den eigenen Bedeutungsverlust, weil man doch im Grunde genommen nur eine kleine, bescheidene Seele war, noch so viele Menschen sterben mussten.

Ebenso liegt vor mir auf dem Schreibtisch die handgeschriebene Biographie meines Vaters, den es nicht gegeben hätte, wenn nicht durch das Ende des ersten Weltkriegs mein Großvater vor der Hinrichtung bewahrt worden wäre. Es sind knapp 600 Seiten, die er in drei Lebensabschnitte aufgeteilt hat: Vor dem Krieg, Während des Krieges und nach dem Krieg. Sein Leben währte mehr als 85 Jahre, davon waren sechs Jahre Krieg. Ein Krieg, der ihm die Kindheit genommen hat, der ihn, der als einer von zweien aus seiner Klasse überlebt hat, bis zu seinem letzten Atemzug nicht mehr losgelassen hat. Dieser Abschnitt Über die sechs Jahre Krieg ist der umfangreichste.

Ich will auch nicht meine Mutter vergessen. Sie ist in Ostpreußen geboren. Meine Familie hatte dort Land. Ich war vor einigen Jahren dort – in Russland – und es hat mich sehr bewegt. Aus der Memel brachte ich meiner Mutter einen kleinen Stein mit. Als ich ihr diesen nach meiner Rückkehr gab, hatte sie Tränen in den Augen.

Ich denke an meinen Urgroßvater Paul Rothe, einen aufrechten SPD-Mann in der Weimarer Republik, der von der SA zusammengeschlagen worden ist, meine Großtante Charlotte, die im Zweiten Weltkrieg Rotkreuzschwester war und in sowjetische Gefangenschaft geriet. Sie konnte keine Kinder mehr bekommen. Ich denke an meinen anderen Urgroßvater, der auf der Flucht aus Ostpreußen starb. Meine Familie wurde zu Flüchtlingen im eigenen Land, mit all den Erfahrungen, die Flüchtlinge machen, wenn man mit ihnen teilen muss. Ich denke an meinen Großvater Oskar, der in russische Kriegsgefangenschaft kam und irgendwann nach dem Krieg wieder zu seiner Familie durfte.

Jeder von uns kann aus seiner Familie solche Geschichten erzählen, die bis heute die eigene Familie und auch einen selbst prägen. Geschichten, die erzählen, was passiert, wenn man nicht den Frieden sucht und ihm nachjagt.

Ich bin neunzehn Jahre nach dem zweiten Weltkrieg in Berlin geboren, das damals noch frisch geteilt war. Ich wuchs in dem Teil auf, der nur behelfsmäßig deutsch war. Die Erfahrungen meiner Familie haben mich geprägt. Aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern habe ich von der Grausamkeit des Krieges aus erster Hand erfahren und mich selbst immer wieder mit diesem Thema beschäftigt.

Als Jugendlicher war ich natürlich Mitglied der Friedensgruppe meiner Gemeinde und habe – wie viele meiner Generation – an Friedensdemonstrationen teilgenommen und mit Leidenschaft das Lied vom Friedensnetz gesungen.

Tja, und nun ist November 2018. Das Jahr ist fast zu Ende. Das neue Jahr steht vor der Tür und ich mache mir Gedanken über die Jahreslosung für das kommende Jahr. Ich blicke auf das Jahr zurück, in dem so vieles, was einmal sicher schien, in Frage gestellt worden ist, wo es wieder um Eitelkeiten, widerliches Machtgehabe geht. Alles eitle Männer wie einst Wilhelm Zwo. Ich will jetzt gar nicht die ganzen Krisen- und Brandherde nennen, weil wir sie alle aus den täglichen Nachrichten kennen. Überall werden machtpolitische Interessen verfolgt, die einem Frieden entgegenstehen.

Im kommenden Jahr feiern wir – nebenbei gesagt – im November dreißig Jahre Mauerfall.

Und dann schaue ich ein wenig rüber, Richtung neues Jahr und stelle fest, dass die Jahreslosung zu keinem besseren Zeitpunkt hätte kommen können.

Suche Frieden und jage ihm nach.

Es geht darum, Frieden zu suchen. Nicht Streit oder Krieg zu suchen, sondern Frieden zu suchen. Und wenn ich den gefunden habe, ihm nachzujagen, ihn festzuhalten. Frieden zu suchen, heißt dem Willen Gottes zu folgen und nicht dem eigenen und genau das ist die Herausforderung.

Die Jahreslosung ist ja eigentlich „nur“ der zweite Teil des Verses 15. Davor heißt es nämlich:

Lass ab vom Bösen und tue Gutes.

Das Böse als das Böse zu erkennen, ist eine besondere Herausforderung, weil so viel Böses als das Gute getarnt wird. Nebenbei gesagt, das gilt auch alles für unsere privaten Beziehungen. Wir wollen ja bei der Gelegenheit nicht vergessen, wo wir selbst mit anderen Menschen nicht im Frieden leben, sondern unsere kleinen und größeren Kleinkriege haben. Auch hier gilt es nach dem Frieden zu suchen und ihm nachzujagen.

Ich bin kein religiöser Romantiker, aber ich glaube ganz fest daran, wenn es immer mehr Menschen gelingt, auch in den persönlichen, privaten und beruflichen Beziehungen den Frieden zu suchen und ihm nachzujagen, wird es mit der Zeit die Welt verändern, weil, wer den Frieden sucht, wird auch die Welt verändern, denn es wird sich im gleichen Maße seine politischen Sensibilität erhöhen, so dass er das Böse, das Unfrieden schafft, erkennen wird. Und zuweilen meinen ja Menschen in der gelebten Nächstenliebe das Böse zu sehen, eine Bedrohung des inneren Friedens. So beginnen Brandstifter.

Also, es gibt keinen besseren Zeitpunkt als diesen für die Jahreslosung

Suche Frieden und jage ihm nach!

Wir werden damit zur rechten Zeit daran erinnert, was Gott von uns erwartet und worauf es wirklich ankommt.

Also, lasst uns den Frieden suchen und ihm nachjagen!

So sei es! Amen!

Wochenandacht im LAFIM am 22. November 2018 über Psalm 34,15, die Jahreslosung 2019