Liebe Geschwister, ich bin immer wieder begeistert von dieser Szene aus dem Lukas-Evangelium, die in der Luther-Übersetzung mit den Worten überschrieben worden ist „Vom Umgang mit dem Nächsten“. Eigentlich könnte sie auch die Überschrift tragen: „Vom Umgang mit Dir selbst“.
Ich finde, dass sich Jesus an dieser Stelle gewissermaßen als Psychotherapeut zeigt, so wie er an vielen anderen Stellen Menschen von Gebrechen geheilt hat, heilt er uns hier gewissermaßen von einem Gebrechen an der Seele.
Er legt seine Hand auf eine Krankheit, der wir immer und immer wieder erliegen: unsere Unbarmherzigkeit, die Unbarmherzigkeit, die um uns herum zu einer gesellschaftlichen Kälte führt. Eine Unbarmherzigkeit und Selbstgerechtigkeit, die schon epidemisch zu nennen ist.
Ich muss nur manchmal im Café Menschen am Nachbartisch zuhören oder ins Internet gehen, wo man in den Sozialen Medien – manchmal frage ich mich, warum die eigentlich so heißen – an etlichen Stellen ungebremste Unbarmherzigkeit und Selbstgerechtigkeit finden kann oder auch in Leserkommentaren unter manchem Zeitungsartikel.
Und manchmal reicht es auch, wenn man sich den Umgang der Menschen in der Regionalbahn, an der Ladenkasse oder sonstwo anschaut. Es ist erschreckend. Und was so im politischen Leben zugeht, möchte ich jetzt überhaupt nicht vertiefen. Ich glaube, uns allen ist bewusst, wo uns in unserem Leben Unbarmherzigkeit und Selbstgerechtigkeit begegnen und hoffentlich auch, wo wir selbst unbarmherzig und selbstgerecht sind.
Vielleicht ist das jetzt gerade ein guter Moment, um einen Blick auf den Kontext des Predigttextes zu werfen, denn diese Episode ist gewissermaßen schon selbst eine Predigt, stammen die Verse doch aus der sogenannten „Feldrede“ Jesu. Inhaltlich entspricht sie der Bergpredigt aus dem Matthäus-Evangelium, ist aber deutlich kürzer. Jesus sagt, was selig macht, es spricht Weherufe aus, spricht von der Feindesliebe, dem Umgang mit dem Nächsten, dem Baum und seinen Früchten und vom Hausbau.
Kurz gefasst, sagt Jesus in dieser Feldrede, die er vor seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge hält, nichts anderes als:
Lebe radikale Liebe und Barmherzigkeit, so wie Gott sie dir schenkt – und mache sie zum Maßstab deines Handelns gegenüber anderen.
Oder anders formuliert: Liebe ohne Grenzen, übe Barmherzigkeit und richte nicht – so baust du dein Leben auf das feste Fundament des Reiches Gottes.
Mit seiner Feldrede entfaltet Jesus vor den Menschen die grundlegenden Prinzipien für das Leben im Reich Gottes, für das Leben der Menschen unter- und miteinander. Und das Spannende ist, dass es auch ohne die sozialen Medien damals kaum anders unter den Menschen zuging als heute. Die Menschen lebten in einer Gesellschaft, in der Ehre, Scham und gegenseitige Bewertung eine große Rolle spielten. Insbesondere die religiösen Führer waren oft sehr streng im Urteilen über andere. Und genau in diese Atmosphäre hinein spricht Jesus und fordert seine Zuhörer heraus, nicht nach dem üblichen Maßstab von Vergeltung, Urteil und Strafe zu leben, sondern nach Gottes Maßstab der Barmherzigkeit.
Und hier spielt der Abschnitt über den Umgang mit dem Nächsten, also unserem Predigttext, eine besondere Rolle. Er appelliert an die Menschen, endlich barmherzig zu sein:
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
Mit anderen Worten: Achtet mal ein wenig mehr auf Gott den Vater. Orientiert Euch an seiner Barmherzigkeit. Versucht doch einfach mal seine Großzügigkeit und auch seine Vergebung in Eurem Leben zu leben, selbst wenn Euch andere verletzen.
Jesus will uns Mut zur Barmherzigkeit machen. Ja, Barmherzigkeit muss man sich auch trauen können. Barmherzig zu sein, bedeutet auch, mit dem anderen in Beziehung zu gehen und in Beziehung zu bleiben und nicht die Tür vor ihm zuzuschlagen, ihn aus unserem Leben auszusperren, weil das am Ende nichts bringt. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie oft ich solche Geschichten bei Beerdigungsgesprächen höre.
Und genauso warnt uns Jesus davor, andere vorschnell zu beurteilen oder zu verurteilen, denn das Maß, dass wir an andere anlegen, wird letzten Endes auch an uns angelegt. Ich weiß, dass das jetzt ein schwieriges Beispiel ist, aber ich nehme es jetzt mal, weil es gerade in aller Munde ist. Wir alle wissen um das Maskenthema, das Jens Spahn gerade um die Ohren fliegt. Aber all diejenigen, die das jetzt so puschen, waren damals nicht in der Regierungsverantwortung. Sprich: Wir sollten uns manchmal – wie man so schön sagt – die Schuhe des anderen anziehen, bevor wir über ihn urteilen. Jens Spahn sagte mitten in der Corona-Zeit einmal im Bundestag: „Wir werden, wenn das mal vorbei ist, einander viel zu verzeihen haben.“ Und egal, wie man dazu steht, aber im Sinne unseres Predigttextes hat er Recht gehabt.
Und damit komme ich zum Dreischritt des 4. Sonntags nach Trinitatis:
Selbsterkenntnis
Befreiung
Nächstenliebe
Genau um diesen Dreischritt geht es in diesem Abschnitt der Feldrede Jesu. Und den macht er mit einem Gleichnis deutlich:
39 Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
40 Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.
41 Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.
Da ist er, der berühmte Balken, im eigenen Auge. Jesus konfrontiert uns mit unserer größten Schwäche. Und genau das ist der Grund, weshalb ich eingangs gesagt habe, dass dieser Abschnitt der Feldrede auch die Überschrift tragen könnte: „Vom Umgang mit Dir selbst“ und sich Jesus an dieser Stelle gewissermaßen als Psychotherapeut zeigen würde.
Damit wir in der Lage sind, Nächstenliebe zu üben, müssen wir uns erst einmal selbst erkennen. Deshalb ist der erste Schritt, zu dem uns Jesus Christus einlädt, die Selbsterkenntnis. In der Kritik des anderen dürfen wir – wie in einem Spiegel – unsere eigenen Fehler erkennen. Wir lenken mit unserer Selbstgerechtigkeit und auch Unbarmherzigkeit von unseren eigenen Fehlern ab. Wir leugnen sie. Und meistens sind wir selbst durch unsere Biographie, durch unsere Erziehung so geworden, dass wir, weil wir in den Augen anderer nicht genug waren, und immer vergeblich um deren Liebe gerungen haben, selbst so geworden: Selbstgerecht und unbarmherzig. Immer ausgerichtet auf den Splitter im Auge des anderen, damit ja niemand auf die Idee kommen könnte, in unserem Auge den Balken zu finden.
Und genau davon will uns Jesus Christus befreien, weil er um die destruktive Kraft des Ganzen weiß. Wo Unbarmherzigkeit mit sich selbst und anderen, wo Selbstgerechtigkeit walten, kann sich keine Liebe entfalten. Und deshalb ist der nächste wichtige Schritt die Befreiung. Diese Befreiung ist der Moment der Heilung. Diese Befreiung ist der Beginn eines barmherzigen Miteinanders. Den Balken im eigenen Auge zu erkennen, der einen Blind gemacht hat, ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Heilung. Dazu gehört auch die Aufarbeitung, wie dieser Balken da hineingeraten ist und was er mit mir und meinem Leben gemacht hat. Und natürlich ist es dann auch wichtig, demjenigen gegenüber barmherzig zu sein, der mir einst diesen sprichwörtlichen Balken ins Auge geschoben hat, weil auch er einen Balken im Auge hatte, den er nicht erkannt hat, weil er sonst ja nicht den Balken in mein Auge geschoben hätte. Und wenn mir dann diese Befreiung gelungen ist, wenn es mir gelungen ist, meine eigenen Fehler in den Blick zu nehmen und gelernt habe, mit ihnen offen umzugehen, ihre Ursachen erkannt habe, und ich mich selbst angenommen habe, weil ich auch erkannt und erfahren habe, dass Gott mich liebt und angenommen hat, bin ich endlich zum nächsten und entscheidenden Schritt fähig: Der Nächstenliebe und damit dann auch endlich zur Barmherzigkeit, die alles verändern wird, die uns reich machen wird. Wenn wir endlich geben können, wird uns nämlich auch gegeben. Dann wird in unseren Schoß ein volles, gedrücktes, gerückeltes Maß gegeben, und dieses Maß ist die Liebe. Und wenn wir mit diesem Maß messen, werden auch wir mit dem gleichem Maß, der Liebe gemessen.
Wäre das nicht großartig, wenn uns das in dieser Welt mehr und mehr gelingen würde? Lasst uns miteinander auch diesen Dreischritt von Selbsterkenntnis – Befreiung – Nächstenliebe gehen, zu dem uns Jesus Christus so motivierend einlädt.
Amen.
Pfr. Martin Dubberke
Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis in der Johanneskirche zu Partenkirchen am 6. Juli 2025, Perikopenreihe I, Lukas 6,36-42
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