Liebe Geschwister, es ist November. Und wer sich von uns noch an die Sängerin Alexandra erinnern kann, dem klingt in diesen Tagen vielleicht immer wieder mal Ihr Lied „Was ist das Ziel?“ innerlich nach. Das Lied erzählt von der Trauer, der Vergänglichkeit, der Verzweiflung über den Verlust, der Suche nach Trost und vom Hoffen, „das uns die Kraft zum Atmen schenkt“.
Kein Monat konfrontiert uns mehr mit der Vergänglichkeit als der November. Das Jahr geht zu Ende. „Der Regen kriecht durch die Kleider auf die Haut.“ Der Sommer ist vorbei, die Tage werden kalt. Das welke Laub der Bäume bedeckt die Wege, die wir gehen.
Der November beginnt mit Allerheiligen, wo wir auf den Friedhöfen die Gräber segnen, und endet mit dem Totensonntag, der uns mit der Ewigkeit konfrontiert.
„Was ist das Ziel in diesem Spiel?“ – Eine Frage, die sich im Grunde auch Hiob stellt. Wenn ich jetzt gleich den Predigttext vorlesen werde, werden wir eine der dunkelsten und zugleich ehrlichsten Klagen des Alten Testaments hören. Hiob ringt mit der Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens und sucht – mitten in aller Hoffnungslosigkeit – den Kontakt zu Gott. Hiob spricht damit genau die Fragen an, die uns gerade heute am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, einem Tag des Inneren und des Erinnerns an das Ende und das Gericht, besonders nahe gehen:
1 Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, 2 geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. 3 Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. 4 Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer! 5 Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: 6 so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.
13 Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest! 15 Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände.
16 Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde. 17 Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.
Hiob 14,1–6+13+15–17
Lebenszeit: Kostbares Geschenk und Herausforderung
Hiob ist ein Stückchen Weltliteratur. Eindrucksvoll beschreibt er die Kürze und Brüchigkeit des Lebens. Wenn er sagt:
„Der Mensch, vom Weib geboren, lebt kurze Zeit und ist mit Unruhe gesättigt“
fasst er den Lauf unseres Leben nüchtern zusammen. Wir werden von unserer Mutter geboren. Sie schenkt uns dieses Leben und dieses Leben ist vergänglich wie eine Blume, wie ein Schatten, der vergeht. Alles Irdische ist begrenzt. Hiob blickt der harten Realität ins Auge und nimmt nichts davon aus: Die Lebenszeit ist ein Geschenk, dessen Dauer unkalkulierbar bleibt.
Ich habe in dieser Woche meine Mutter zu Grabe getragen. Sie ging am 8. Oktober im wahrsten Sinne des Wortes von uns. Sie wollte aufstehen, zog sich die Schuhe an, als der Boandlkramer zu ihr ans Bett trat, sie sanft auf die Wange küsste und sagte: „Komm mit, Renate! Es ist nun so weit.“
Was für ein wunderbarer Name. Renate, das vom Lateinischen „renatus“ stammt und die Wiedergeborene heißt. Welch ein Name der Hoffnung angesichts der eigenen Endlichkeit?
Meine Mutter starb fast auf den Tag genau vier Wochen vor ihrem 93. Geburtstag. Sie hatte ihre Lebenszeit im Gegensatz zu Hiob, der noch nicht alt und lebenssatt war, als er seine Klage vor Gott brachte, voll ausgekostet.
Angesichts des Todes schaut man zurück und stellt fest, dass man nun nicht mehr das Kind ist, dass man selbst nicht mehr jung ist und die meiste Zeit der eigenen Lebenszeit schon verstrichen ist. Weitere 61 Jahre werde ich mit Sicherheit nicht mehr leben.
Als meine Großeltern vor 46 Jahren anfingen, sich einer nach dem anderen von dieser Welt zu verabschieden, hatte ich noch das ganze Leben vor mir. Nun bin ich selbst Vater von zwei erwachsenen Söhnen, die ihre eigenen Wege gehen und meine Frau und ich werden jetzt auch noch einmal gemeinsam neue Wege gehen.
Wenn jemand so wichtiges im eigenen Leben wie die eigene Mutter stirbt, dann denkt man noch einmal anders über das Leben nach. Wie ist man geworden, was man geworden ist? Was bleibt Dir noch? Wie möchtest Du die Zeit, die Dir Tag für Tag weniger bleibt, noch nutzen? Was ist offengeblieben und wartet darauf von dir geregelt, von dir abgeschlossen zu werden?
Und dann nehme ich die Tasse Kaffee, die vor mir steht, stehe von meinem Schreibtisch auf und trete an mein Fenster, schaue auf die Berge. Demut erfüllt mich angesichts dieser Berge, vor denen ich merke, wie klein ich bin. Ich trinke einen Schluck von diesem starken Kaffee und bin dankbar, dass ich über das Leben nachdenken darf und nicht um mein Leben kämpfen oder fürchten muss, weil keine Raketen oder Drohnen über mir fliegen.
Meine Lebenssituation ist eine andere als die von Hiob, der alles, was ihm im Leben wichtig war, verloren hat und nun auf einem Aschenhaufen sitzt und nicht verstehen kann, was ihm da widerfahren ist, der Gott in die Verantwortung nimmt und dem seine drei Freunde sagen, dass es doch etwas mit ihm zu tun hat. Hiob hat eine ganz andere Unruhe in sich als ich, wenn er sein Leben Revue passieren lässt.
Ich schaue zurück auf das Leben mit dem „Weib“, das mich geboren hat, auf das Leben mit meiner Mutter und das Leben meiner Mutter, die den Krieg, die Flucht aus Ostpreußen, den Verlust der Heimat überlebt hat, die einen unbändigen Willen zum Leben gehabt hat – und darin Hiob nicht unähnlich war – die jeden Tag, der ihr geschenkt war, als Geschenk begriff. Zwei Drittel ihres Lebens hat sie mit mir geteilt.
Solche Momente in unserem Leben lassen uns unsere eigene Lebenszeit neu begreifen und auch die Endlichkeit in unserem Leben wiederentdecken. Das Bewusstwerden der eigenen irdischen Endlichkeit ist der Moment, in dem wir unser Leben als Geschenk verstehen können, als Zeit, die uns gegeben ist, die wir bewusst leben und gestalten können. Hiob war gewissermaßen an der Selbstverständlichkeit gescheitert. Der Tod eines geliebten Menschen konfrontiert uns damit, dass nichts selbstverständlich ist. Und genau darin liegt die Chance unseres Lebens, in den vergänglichen Momenten die Chance zu erkennen, unser Leben bewusster zu leben, andere Entscheidungen zu treffen und Wege zu korrigieren, das zu erkennen, was angesichts unserer eigenen Endlichkeit wirklich wichtig ist und damit neue und auch andere Akzente in unserem Leben zu setzen.
Als ich zu Hause das Familienfotoalbum aufschlage, meine Großeltern, meine jungen Eltern sehe und mich als kleinen Knirps, der in diesem Fotoalbum immer größer wird, dem irgendwann die Haare ausgehen und meine Eltern, die immer älter werden und sich die Familienbilder immer und immer wieder verändern, weil Familienmitglieder von den Fotos verschwinden, weil sie nicht mehr unter uns sind und neue hinzukommen, weil geheiratet wird und Kinder geboren werden, dann weiß man, dass man selbst irgendwann auch nicht mehr auf diesen Familienbildern sein wird. Und man erinnert sich, mit Dankbarkeit für die schönen Dinge und kritischer Dankbarkeit an die weniger schönen Dinge, die einen genauso geformt haben wie die Schönen.
Endlichkeit: Unvermeidliche Realität des Lebens
Mit dem Erkennen der eigenen Endlichkeit darf die Annahme der Begrenzung unserer Lebenszeit verbunden sein. Hiob akzeptiert, dass das Leben Grenzen hat und uns nicht alles in der Hand liegt:
5 Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: 6 so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.
In diesen beiden Versen betont Hiob: Gott hat unsere Tage gezählt, unsere Grenzen sind gesetzt. Alles Tun und Mühen bleibt in dieser Endlichkeit gefangen. Das Erkennen der Endlichkeit kann auch Angst auslösen, kann Panik verursachen. Hiob selbst fühlt sich hier wie ein getriebener Tagelöhner, der sich immer der Beobachtung durch Gott ausgesetzt fühlt und sich doch wie ein Tagelöhner auf den Feierabend freuen möchte.
Angesichts der eigenen Endlichkeit kann aber auch eine innere Gelassenheit eintreten. Man weiß, wie die Dinge laufen. Manchmal klingt in solchen Momenten ein anderes Lied als das von Alexandra in mir auf, ein Lied, das nicht fragt, sondern weiß. Es ist ein Song aus dem Musical „Gigi“. Der schon ältere Honoré Lachaille – im Film von Maurice Chevalier gespielt – singt da:
Ich bin Gott sei Dank nicht mehr jung.
Ich weiß, was ich will,
ich weiß, was ich kann,
ich weiß, was ich darf,
ich weiß, was ich soll.
Robert Gilbert hat das englische Original ins Deutsche übertragen. Gilbert war 1933 aus Deutschland in die Emigration gegangen. Diese Zeilen klagen nicht über die Vergänglichkeit, sondern sehen darin auch eine Chance. Diese Zeilen, die Lebenserfahrung und daraus gewonnene Gelassenheit zum Ausdruck bringen, schwingen in Hiobs Klage über die Vergänglichkeit gleichermaßen mit, weil Hiob sich genau danach sehnt.
Hoffnung: Perspektive jenseits der Vergänglichkeit
Und damit bin ich nun bei der Hoffnung angekommen. Tief in seiner Klage fragt Hiob, ob es doch noch Hoffnung über das Sichtbare hinaus gibt:
13 Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest!
Hier ringt Hiob um einen Gott, der nicht bei Tod und Vergehen, bei Strafe und Endlichkeit stehen bleibt, sondern neues Leben, Vergebung und Hoffnung schenkt – selbst über den Tod hinaus.
15 Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände. 16 Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde. 17 Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.
Hier lässt Hiob seine Hoffnung aufleuchten, dass Gott ihn nicht fallen lässt, sondern ihn dereinst wieder annehmen wird.
Was können wir, die wir hier und heute am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahren auf den harten Kirchenbänken sitzen, mit Hiobs Klage über die Vergänglichkeit anfangen, mit diesem Asbach uralten Text?
Hiobs Klage mag zwar ein Text aus fernen Zeiten sein, aber er spricht noch immer mitten in unser Leben hinein – besonders jetzt, im November, wo die Vergänglichkeit spürbar wird. Vielleicht ringen wir selbst manchmal mit der Endlichkeit und fragen uns nach dem Sinn der Zeit, die uns bleibt. Doch in all dem klingt auch Hiobs Hoffnung – die Hoffnung, dass Gott uns nicht loslässt, dass er uns sieht und begleitet.
Gerade in Momenten der Trauer, der Unsicherheit und des Zweifels dürfen wir einander und Gott neu entdecken: als Quelle für Mut, Kraft und Hoffnung.
Nehmt Euer Leben als Geschenk an – mit allem, was es mit sich bringt: Freude und Schmerz, Licht und Schatten, Anfang und Ende. Unsere Lebenszeit ist begrenzt, aber sie ist voller Möglichkeiten. Es kommt darauf an, nicht im Blick auf das Ende zu verstummen, sondern im Vertrauen auf Gottes Nähe zu leben, zu handeln und anderen Hoffnung zu schenken.
Gott ruft Euch wie Hiob, jeden Tag neu. Mit ihm an unserer Seite dürfen wir immer wieder aufbrechen:
Habt den Mut, Altes loszulassen.
Sucht Versöhnung und Frieden.
Umgebt Euch mit Menschen, die Euch stärken, und seid selbst jemand, der anderen Hoffnung macht.
Gestaltet Euer Leben bewusst, liebevoll, gerecht.
Die Klage und Hoffnung Hiobs dürfen auch unser Leben prägen: Es bleibt nicht bei der Vergänglichkeit stehen; Hoffnung wächst.
Euer Leben zählt – und mit Gottes Segen könnt Ihr heute und an jedem Tag neue Wege gehen.
So geht hinaus getröstet und gestärkt – und gestaltet Eure Zeit mit Gott, in Vertrauen, Liebe und Zuversicht.
Amen.
Pfr. Martin Dubberke
Predigt am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres 2025 am 16. November 2025 in der Markuskirche zu Farchant und der Johanneskirche zu Partenkirchen, Perikopenreihe I mit einer Predigt über Hiob 14,1–6(7–12)13(14)15–17.
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