Liebe Geschwister, was ist es, das Euch heute Abend in Scharen in die Kirche, in den Gottesdienst treibt? Ist es die pure Romantik? Das „Stille Nacht, heilige Nacht“-Gefühl nicht nur im Fernsehen oder Kino, sondern so richtig live hier in einer Kirche zu erleben? Oder, weil sonst Weihnachten kein Weihnachten wäre, wenn man nicht in die Kirche geht und am Ende gemeinsam „O du fröhliche“ singt?
Ich sag’s Euch: Es ist Eure Sehnsucht nach einer heilen Welt. Jeder von uns trägt diese Sehnsucht nach einer heilen Welt in sich, weil uns Gott diese heile Welt einmal versprochen hat. Und an keinem anderen Tag im Jahr fühlen wir uns diesem Versprechen näher als an diesem einen besonderen Tag im Jahr, wenn zu Hause der Christbaum geschmückt ist, aus der Küche der Duft von Wienerwürstchen und Kartoffelsalat strömt – oder doch schon von der Weihnachtsgans mit Blaukraut oder Grünkohl, wenn alles glänzt und die Liebe so dermaßen heftig in einem bullert wie ein schöner Kachelofen.
An keinem anderen Tag im Jahr ist die Sehnsucht nach dieser Liebe größer als an diesem einen Tag, als in dieser einen Nacht, also heute. Und deshalb weiß ich, was Ihr alle heute hier bei mir in der Johanneskirche sucht: Kirchenasyl. Ihr sucht alle Asyl vor der Welt da draußen, die uns seit einer ganzen Weile ganz schön an die Nieren geht, die uns mit ihren Kriegen, mit ihren Spaltungen, ihren Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten den letzten Nerv raubt. Eine Welt, die uns anstrengt, die uns belastet. Und das manchmal mehr, als wir es im ersten Moment merken. Die Menschen sind dünnhäutiger geworden. Die Welt ist kälter geworden. Die Welt ist unfriedlicher geworden.
Und heute sucht Ihr hier in dieser Kirche Asyl, weil Ihr Sehnsucht nach Liebe, Frieden und einer heilen Welt habt. Ihr erinnert Euch daran, dass Weihnachten Gott Mensch geworden ist, dass da ein kleines Kind in Bethlehem geboren wurde, der der Sohn Gottes ist, der der Heiland und Friedefürst sein soll. Jemand, mit dem alles heil und friedlich werden soll. Wir kommen hier alle zusammen, weil wir uns an dieses Versprechen Gottes erinnern und hoffen, dass dieses Versprechen endlich eingelöst wird.
Aber mal ganz ehrlich. Zu einem Versprechen gehören immer zwei. Und da stellt sich doch die Frage, wer gegebenenfalls sein Versprechen nicht gehalten hat? – Und eines kann ich Euch schon jetzt verraten: Gott hat dieses Versprechen nicht gebrochen. – Damit kommt mit einem Male eine ganz neue Perspektive ins Spiel. Könnte es nicht sein, dass Heiligabend nicht nur die Sehnsucht nach Liebe und Frieden alle in die Kirche zum Gottesdienst zieht, sondern auch das schlechte Gewissen?
Wie ich darauf komme? – Naja, es gibt ja noch den Predigttext. Und den habe nicht ich ausgesucht. Das waren andere schlaue Menschen, die einmal die Ordnung der Predigttexte vorgenommen haben und festgelegt haben, über welche Bibeltexte wann gepredigt werden soll. Und heute steht für diese Christvesper ein Text aus dem Propheten Hesekiel auf dem Programm. Ich lese Ihn Euch einfach mal vor:
24 Und mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun.
25 Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein.
26 Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens schließen, der soll ein ewiger Bund mit ihnen sein. Und ich will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein für immer.
27 Meine Wohnung soll unter ihnen sein, und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein, 28 damit auch die Völker erfahren, dass ich der HERR bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum für immer unter ihnen sein wird.
Hesekiel 37,24-28
Ja, ich gebe zu, da kommt an keiner einzigen Stelle und mit keinem einzigen Wort „das schlechte Gewissen“ vor. Aber ihr werdet gleich verstehen, was ich meine. Dieser Predigttext stammt aus einer Zeit, die etwa sechshundert Jahre vor der Geburt Jesu liegt. Jerusalem war zerstört. Das Volk Israel war deportiert. Mit anderen Worten: Das Land war verloren. Der Tempel als Zentrum der Gesellschaft und des Glaubens war zerstört. Man träumte von der sogenannten „guten alten Zeit“. Das Volk, das seine Heimat, auch seine emotionale Heimat verloren hatte, rang mit Anpassung an die Verhältnisse oder Auflehnung, mit Verzweiflung oder Hoffnung. Das Volk war gespalten. Depression und Hoffnungslosigkeit legten sich mehr und mehr wie Mehltau auf die Seele des Volkes. Die Situation, in der sie lebten, war die Folge ihrer Versäumnisse, ihrer Untreue zu Gott, ihre Distanz zum Willen Gottes, der ja nichts anderes als Liebe und damit Frieden haben möchte. Doch dummerweise war das Volk davon ausgegangen, dass Frieden, das Heimat, dass das alles selbstverständlich ist und man nichts dafür tun muss.
Ist schon irre, oder? Wenn ich nicht gesagt hätte, dass das die Situation knapp sechshundert Jahre vor der Geburt Jesu Christi war, hätte man glatt denken können, wir befinden uns in der Gegenwart.
Und damit stellt sich die Frage, warum steht heute so ein Text im Predigtplan? – Die Antwort darauf ist eigentlich ganz einfach: Damit wir verstehen, was unser aktiver Anteil an dieser, an jeder heiligen Nacht ist, wie der Auftrag aussieht, der uns aus dieser Heiligen Nacht erwächst.
Hesekiel will seinen Leuten Zuversicht geben, will sie powern. Er macht seinen Leuten deutlich, dass Gott Sünden vergibt und er neu mit den Menschen anfängt. Hersekiel möchte seinen Leuten eine neue Perspektive eröffnen.
Der Predigttext ist gewissermaßen wie eine Vorschau auf das Versprechen der Heiligen Nacht:
Es gibt einen einzigen König, der alles und alle über alle Spaltungen hinweg miteinander verbindet. Gottes Ansprüche an uns sind gering: Wir sollen uns an seine Gebote halten und danach handeln. Und was bekommen wir dafür? – Einen Bund des ewigen Friedens. In der Heiligen Nacht wird deutlich, dass Jesus Christus dieser König ist. Und dass Jesus Christus der König dieser Welt ist, das erleben wir in diesen Tagen, wo in aller Welt die Menschen Weihnachten feiern, in die Gottesdienste gehen, und miteinander ihre Sehnsucht nach Frieden teilen. Wir sind mit unserer Sehnsucht also heute Nacht nicht alleine, sondern mit allen Menschen, die diese Sehnsucht in aller Welt teilen, verbunden. Dieser König verbindet die Menschen weltweit miteinander.
Damit komme ich jetzt an den entscheidenden Punkt. Und den möchte ich Euch mit Hilfe unseres Sohnes Johannes verdeutlichen.
Johannes hat sich in diesem Jahr eine Drohne gekauft. Und ich erinnere mich noch, als wir in diesem Jahr die Konfirmation gefeiert haben, haben hat Johannes auch mit der Drohne gefilmt. Auf diese Weise konnten wir die Einzug der Konfis aus einer ganz neuen Perspektive sehen. Und als die Drohne dann um den Kirchturm flog, konnten wir eine Perspektive einnehmen, die wir sonst nicht haben. Ich habe auf diese Weise in diesem Jahr schon ganz viele Dinge neu sehen können.
Und jetzt bitte ich Dich mal, die Drohne zu starten.
Merkt Ihr, was Ihr alle gerade gemacht habt? – Ihr seid mit Euren Augen und Euren Köpfen der Drohne gefolgt. Ihr habt mit einem Mal in diesem Gottesdienst eine ganz neue Perspektive eingenommen. Aber diese Drohne steht gewissermaßen auch für die Perspektive Gottes. Wir reden ja gerne vom Auge Gottes, das alles sieht. Schaut mal nachher zum Giebel unserer Johanneskirche. Der wird vom Auge Gottes geziert. Während wir hier unten im Kirchenschiff ganz gut sehen können, wer neben einem oder vor einem sitzt, oder wer hier vorne gerade steht, kann ich mit der Drohne alles hier überblicken. Gott sieht mehr, als wir Menschen sehen und wahrnehmen können. Und er sieht natürlich auch mehr als wir mit einer Drohne sehen können. Sprich, wenn wir uns an ihm orientieren, kommen wir miteinander gut durch diese Welt und dieses Leben.
Mit anderen Worten: Gott lädt uns in der Heiligen Nacht zu einem Perspektivwechsel ein. Er möchte, dass wir die Welt aus seiner Perspektive wahrnehmen, mit der Perspektive der Liebe, der Liebe, die Hass überwindet, die Spaltungen verbindet und miteinander Frieden findet. Gott hat uns in der Heiligen Nacht das Geheimnis des Friedens offenbart. Und damit haben wir allesamt miteinander einen Auftrag. Gott hat unsere Sehnsucht nach Frieden wahrgenommen und ernstgenommen und in Jesus Christus seine Antwort auf unsere Sehnsucht gegeben.
Und in der Heiligen Nacht geschieht noch etwas. Obwohl wir Menschen, Gott immer und immer wieder enttäuscht haben, hat er immer wieder mit uns neu angefangen. Tja, und wenn Gott mit den Menschen immer wieder neu anfängt, warum sollten wir Menschen dann nicht auch mit Gott neu anfangen? Z. B. heute Nacht. – Oder seht Ihr das etwa anders?
Amen!
Pfarrer Martin Dubberke
Predigt in der Christvesper am Heiligen Abend – am 24. Dezember 2025 in der Johanneskirche zu Partenkirchen, Perikopenreihe II mit einer Predigt über Hesekiel 37,24-28.
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