Pfr. Martin Dubberke
Dietrich Bonhoeffer | Bild: Martin Dubberke

Gemeinsames Leben

Bekennet einer dem andern seine Sünden“ (Jak 5,16). Wer mit seinem Bösen allein bleibt, der bleibt ganz allein. Es kann sein, dass Christen trotz gemeinsamer Andacht, gemeinsamen Gebetes, trotz aller Gemeinschaft im Dienst allein gelassen bleiben, dass der letzte Durchbruch zur Gemeinschaft nicht erfolgt, weil sie zwar als Gläubige, als Fromme Gemeinschaft miteinander haben, aber nicht als die Unfrommen, als die Sünder. Die fromme Gemeinschaft erlaubt es ja keinem, Sünder zu sein. Darum muss jeder seine Sünde vor sich selbst und vor der Gemeinschaft verbergen. Wir dürfen nicht Sünder sein. Unausdenkbar das Entsetzen vieler Christen, wenn auf einmal ein wirklicher Sünder unter die Frommen geraten wäre. Darum bleiben wir mit unserer Sünde allein, in der Lüge und der Heuchelei; denn wir sind nun einmal Sünder.

Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben

Mit diesen Worten beginnt Dietrich Bonhoeffer in seinem bekanntesten Werk „Gemeinsames Leben“ das letzte Kapitel, das mit den Worten „Beichte und Abendmahl“ überschrieben ist.

Ein ungeheuerlicher Einstieg, der mich vom ersten Lesen an beeindruckt, bei dem ich dachte: Ja, das ist es! Lasst uns über die Sünde miteinander sprechen!

Und so war es auch, als ich vergangenen Jahr meine neue Reihe „Gemeinsam lesen… Bonhoeffers „Gemeinsames Leben“ begann. Wir waren eine wild zusammengewürfelte Gruppe aus Mitgliedern unserer Gemeinde, aus der FEG und Katholikinnen aus Murnau. Und ich war erstaunt und überrascht, dass genau dieses Kapitel des Buches bei allen eine solche Energie auslöste. Wir sprachen miteinander über die Beichte, etwas, das bei uns in der Evangelischen Kirche so rudimentär vor-kommt.

Und ich glaube, dass die Begeisterung für dieses Thema deshalb so groß war, weil es ein so anderer Ansatz des Beichtens war, den Dietrich Bonhoeffer hier propagiert hat, nämlich den unter Geschwistern. Und dann fragte ich, was denn passieren würde, wenn ich im Schaukasten unserer Gemeinde einen Aushang machen würde, der ungefähr folgenden Wortlaut haben würde:

„Jeden Donnerstag zwischen 17:00 und 19:00 Beichte mit Pfr. Dubberke in der Johanneskirche.“

Und sofort sagte eine der Katholikinnen in der Gruppe: „Martin, das wäre nicht das, was Bonhoeffer gemeint hat. Da gäbe es wieder die Hierarchie.“

Besser konnte man es nicht auf den Punkt bringen, was Bonhoeffer gemeint hat: Beichte unter Geschwistern. Und genau deshalb werde ich mir nun an dieser Stelle, den Talar ausziehen, um auch äußerlich sichtbar werden zu lassen, dass wir als Geschwister auf Augenhöhe zusammenkommen und miteinander reden. Nebenbei gesagt: Mir ist einmal vor einer Weile aufgefallen, dass es von Dietrich Bonhoeffer keine Fotos im Talar gibt. Ich habe auch darüber auch schon mit Kollegen gesprochen, die deutlich bessere Bonhoeffer-Spezialisten sind als ich. Es scheint keine Bilder mit Bonhoeffer im Talar zu geben. Und so wird Bonhoeffer in allem weniger als Pfarrer denn mehr als Christ wahrgenommen, was ich sehr interessant finde.

Wer kürzlich bei mir in Grainau oder Partenkirchen im Gottesdienst gewesen ist, wird von mir den Satz gehört haben: Wir müssen mehr miteinander reden.

Also lasst uns über die Sünde miteinander reden! Das ist ja bei uns Evangelischen nicht unbedingt beliebt. Das ist so ein Tabu-Thema, leben wir doch nach dem Grundsatz, dass wir allein aus Glaube gerechtfertigt sind.

Ich erzähle Euch mal ein Beispiel aus meinem Vikariat. Vor deutlich mehr als einem Viertel Jahr-hundert musste ich meine wissenschaftliche Abschlussarbeit zum 2. Theologischen Examen schreiben. Dafür musste ich ein Thema einreichen. Meines lautete: „Mann Macht Gewalt und christlicher Bußgedanke im Kontext.“ Ihr merkt, das Thema der Sünde und der Beichte beschäftigt mich schon länger.

Was passierte in der Prüfungskommission, die nun über das Thema meiner Abschlussarbeit zu entscheiden hatte. Genau, es kam eine lange Diskussion auf, wie mein damaliger Predigerseminar-Direktor später verriet. Das sei doch kein evangelisches Thema, die Sache mit dem Bußgedanken. Und so kam dann am Ende folgende Themenstellung heraus: „Zur Notwendigkeit spezifischer Seelsorge für gewalttätige Männer in der Evangelischen Kirche“ – ein starker Titel, der sehr viel über die Menschen verrät, die sich diesen Titel ersonnen haben.

Und, was habe ich gemacht? Ich habe einfach den alten Titel zum Inhaltsverzeichnis werden lassen und jeweils ein Essay zum Thema Mann, zum Thema Macht, zum Thema Gewalt und schließlich zum Thema Christlicher Bußgedanke geschrieben und alles im letzten Kapitel „im Kontext“ gebündelt. Ich habe damals eine Zwei bekommen und 1997 brachte es dann die Männerarbeit pünktlich zum Kirchentag als Taschenbuch heraus. Und wie ich kürzlich in einer neu erschienenen Publikation des Kohlhammerverlags zum Thema lesen konnte, ist seitdem keine neue theologische Publikation zum Thema erschienen.

Also, doch das Tabu Sünde und Beichte? Dabei hat Jesus doch deutlich gemacht, dass der Sünder dazu gehört. Denken wir doch nur an den Klassiker im Kindergottesdienst, den Zöllner Zachäus, zu dem Jesus sogar ins Haus geht und mit ihm gemeinsam isst, was dazu führt, dass Zachäus seine Sünden bekennt und dann auch aktiv umkehrt, indem er alles Ergaunerte mehrfach zurückzahlt und zukünftig einen gerechten Zoll erhebt. Eine Umkehr, die einer ganzen Gesellschaft gedient hat.

Also lasst uns über die Sünde reden und sie nicht länger verschweigen, denn wer seine Sünde verschweigt, lebt unter dem Druck, dass sie ein anderer aufdeckt und sei es der Zufall. Es ist eine Last, die einem Angst bereitet und zuweilen mehr zu einem Psychotherapeuten als zu einem Geistlichen führt.

Sünde schafft Distanz zum Nächsten, lässt mich in der Gemeinschaft verstecken. Sünde trennt die Menschen voneinander vor allem durch die Angst, durch das Bekenntnis der Sünde nicht mehr dazuzugehören.

Ich durfte in den vergangenen Monaten mittlerweile mehrfach die erlösende Wirkung der Beichte bei Menschen erleben. Ich war vollkommen überrascht, dass in meinem langen beruflichen Leben erst hier Menschen auf mich zukamen und um die Abnahme der Beichte baten.

Wir haben dann hier in der Johanneskirche mit einem kleinen liturgischen Einstieg begonnen. Haben gemeinsam die Kerzen am Altar angezündet und sind dann von hier aus auf einen Beichtspaziergang gegangen, den wir wieder hier in der Johanneskirche mit der Absolution und dem Segen abgeschlossen haben. Es war wunderbar zu erleben, was das bei den Menschen bewirkt hat, welche Erleichterung zu spüren war, weil einfach das Verhältnis zu Gott wieder geklärt war. Es gab nichts Trennendes mehr. Und genau diese Erleichterung konnte ich unter meinen Händen, die ich dem anderen zum Segen aufgelegt hatte, spüren.

Und mir wurde jedes Mal dabei deutlich, dass das ein ganz wichtiges Thema in unserem Leben als Christenmenschen ist. Mit der Vergebung der Sünde ist eine ganz große Sehnsucht verbunden. Und mir wurde deutlich, warum wir uns genau an diesem Thema in unserer Leserunde so intensiv aufgehalten haben und warum sich dann aus diesem Kreis heraus die kleine Arbeitsgemeinschaft „Beichten wie bei Bonhoeffer“ gebildet hat, weil eine Gemeinschaft, in der Sünde nicht verschwiegen wird, sondern einander gebeichtet wird, verändert das Zusammenleben, verändert die Gemeinde und damit auch die Welt da draußen.

Die Gemeinschaft des heiligen Abendmahls ist die Erfüllung der christlichen Gemeinschaft überhaupt. So wie die Glieder der Gemeinde vereinigt sind in Leib und Blut am Tische des Herrn, so werden sie in Ewigkeit beieinander sein. Hier ist die Gemeinschaft am Ziel. Hier ist die Freude an Christus und seiner Gemeinde vollkommen. Das gemeinsame Leben der Christen unter dem Wort ist im Sakrament zu seiner Erfüllung gekommen.

Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben

Wir werden in diesem Gottesdienst auch das Abendmahl miteinander feiern. Das Abendmahl ist, wie Bonhoeffer sagt, die Erfüllung des gemein-samen Lebens unter dem Wort. Es gibt keinen an-deren Ort, an dem wir mehr Gemeinschaft erleben als im Abendmahl. Und zugleich ist das Abendmahl der höchste Ausdruck der Vergebung unserer Sünden, sagt doch Jesus in den Einsetzungsworten:

Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Solches tut, sooft ihr es trinket, zu meinem Gedächtnis.

Wir feiern in diesem Gottesdienst miteinander Abendmahl. Das Abendmahl erinnert uns genau daran, dass es um die Vergebung unserer Sünden geht und wir diese Gemeinschaft erleben können, weil Jesus zur Vergebung unserer Sünden gestorben ist.

Die Sünde ist also etwas, das zum Leben dazu ge-hört, worüber wir miteinander reden können und sollten. Und Jesus hat dieses letzte Mal mit seinen Jüngern gefeiert, obwohl der Verräter unter ihnen saß. Eine Gemeinschaft muss es auch aushalten können, dass Sünderinnen und Sünder unter ihnen und mit ihnen leben. Und eine gute und vertrauensvolle Gemeinschaft kann wesentlich da-zu beitragen, dass sich der Sünder oder die Sünde-rin öffnen und bekennen kann.

Das Abendmahl erinnert uns grundsätzlich daran, dass es die Vergebung der Sünden und den Neu-anfang für uns Menschen gibt, weil Jesus für unsere Sünden gestorben ist. Und damit ist das Abendmahl aus meiner Sicht auch eine Ermutigung dafür, zu seiner Sünde zu stehen, sie zu bekennen, weil mein ganzes Leben aus dieser Grundvergebung in Jesus Christus heraus geschieht. Und genau daran erinnert uns Dietrich Bonhoeffer mit seinem Einstieg in das Kapitel Beichte und Abendmahl. Er zitiert zuerst Jakobus 5, 16:

Bekennet einer dem andern seine Sünden.“

Und warnt sofort vor den individuellen Konsequenzen, wenn man es nicht tut:

„Wer mit seinem Bösen allein bleibt, der bleibt ganz allein.“

Und genau deshalb können, dürfen und sollten wir über unsere Sünden miteinander ins Gespräch kommen. Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfr. Martin Dubberke, Predigt am 4. Sonntag vor der Passionszeit, 6. Februar 2022 in der Christuskirche zu Garmisch und der Johanneskirche zu Partenkirchen über das Kapitel „Beichte und Abendmahl“ aus Dietrich Bonhoeffers „Gemeinsames Leben“

 

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