Pfr. Martin Dubberke

Dienet einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat

Liebe Feiergemeinde, als ich gestern mit der S-Bahn von Berlin nach Potsdam zum LAFIM zur Arbeit fuhr, warf ich in meinem Handy auch einen Blick auf Facebook und musste dabei schmunzeln. Was war passiert? Facebook hat eine nette Funktion, die einen morgens immer an ein Ereignis erinnert, das eine Weile zurückliegt. In diesem Fall war es ein Foto mit Günter Baaske – unserem früheren Sozialminister –, das ich vor fünf Jahren gemacht habe, als wir den zwanzigsten Geburtstag vom Evangelischen Seniorenzentrum Willi Kupas gefeiert haben.

Überrascht, dass das auch schon wieder fünf Jahre her ist, musste ich daran denken, dass ich damals, als ich am Bahnhof in das Auto der Kollegin eingestiegen bin, weggerutscht bin und mir dabei die Anzugshose im Schritt aufgerissen habe. Damit war damals für mich die ganze Veranstaltung gelaufen. Da ich die Veranstaltung moderiert habe, musste ich ja immer nach vorne. Wissen Sie, welche Anstrengungen man anstellen muss, so nach vorne zu gehen, ohne, dass jemand sieht, dass die Hose hin ist?

Ich kann Ihnen kaum sagen, wie froh ich froh war, als ich wieder zu Hause in Berlin ankam.

Tja, und das ist schon wieder fünf Jahre her. Ich kann es kaum glauben, weil es mir gar nicht so lange her scheint.

Und so ist es mit Vielem in unserem Leben.

Ein Schelm, der jetzt an Psalm 90 Vers 10 denkt:

Unser Leben währet siebzig Jahre,
und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre,
und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe;
denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.

Tja, und wenn man es sich recht überlegt, sind auch die vergangenen 25 Jahre wie im Fluge vergangen. Als das Willi Kupas 1993 eingeweiht wurde, war ich gerade Vikar geworden und wunderbare 29 Jahre jung. Bewegte ich mich damals auf die dreißig zu, bewege ich mich heute auf die sechzig zu.

Was haben Sie vor einem viertel Jahrhundert gemacht, als sie noch so jung waren, wie ich heute alt bin? – Sicherlich haben Sie nicht daran gedacht, dass Sie einmal hier wohnen würden. Wahrscheinlich haben Sie die Zeitungsartikel, die über die Eröffnung des neuen Evangelischen Seniorenzentrums erschienen sind, nicht einmal gelesen, weil es Sie damals noch nicht betroffen hat.

Vielleicht haben Sie es aber auch in der Zeitung gelesen und Ihren Vater oder Ihre Mutter hier angemeldet, ohne zu ahnen, einmal selbst hier zu Hause zu sein.

Oder schauen wir uns die Kolleginnen und Kollegen an, die hier arbeiten. Manche sind seit der ersten Stunde hier im Haus tätig. Und andere waren noch nicht geboren, als das Willi Kupas seine Pforten öffnete. Wie viele Kolleginnen und Kollegen haben in dieser Zeit hier im Haus gearbeitet? Wie viele Menschen wurden hier im Haus in diesen 25 Jahren gepflegt? Wie viele Geschichten kann das Haus erzählen?

Im Willi Kupas haben mehr als 100 Menschen ein Zuhause und ich weiß nicht genau, wie viele Kolleginnen und Kollegen hier im Haus arbeiten. Aber ich schätze mal, dass es irgendwas zwischen achtzig und neunzig sein werden. Und dann kommen ja noch die ganzen Angehörigen und die Ehrenamtlichen dazu, die hier tagein und tagaus ein- und ausgehen. Da kommen wir mit Sicherheit auf mindestens vierhundert Menschen, in deren Leben das Willi Kupas eine Rolle spielt.

Das sind schon mehr, als in manchem brandenburgischen Dorf Menschen wohnen.

Aber warum zähle ich die Menschen? Ich bin doch kein Controller oder Buchhalter, sondern ein ganz einfacher, normaler Pfarrer.

Die Antwort ist ganz einfach: Die vielen Menschen, in deren Leben, dieses Haus eine Rolle spielt, machen dieses Haus reich.

Was, sie meinen, dass man dem Willi Kupas diesen Reichtum nicht ansieht? – Nun gut, Sie erkennen diesen Reichtum auch nicht an goldenen Wasserhähnen, sondern an den Herzen.

Jeder einzelne Mensch, der hier wohnt, der hier arbeitet, der hier ein- und ausgeht, der besucht, der sich ehrenamtlich engagiert, hat etwas Besonderes, etwas, das kein anderer Mensch hat, das ihn einzigartig macht.

Jeder Mensch ist in besonderer Weise von Gott begabt. Er hat von Gott bestimmte Gaben erhalten. Paulus beschreibt das sehr schön in seinem Brief an die Römer im zwölften Kapitel, die Verse drei bis acht:

Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude.

Ich persönlich empfinde diese Verse als sehr entlastend im meinem Leben: Ich muss nicht alles können, weil ich gar nicht alles können kann. Das nimmt sehr viel Druck von den Schultern und kann uns davor bewahren, uns zu überfordern.

Es bedeutet aber auch gleichzeitig die Herausforderung, seine eigenen Grenzen erkennen und dankbar annehmen zu können.

Der eine kann gut zuhören, während eine andere gut Geschichten erzählen kann. Der eine hat die Gabe der Geduld und ein anderer die Gabe der Ungeduld. Während der eine die Kraft hat, Dinge werden zu lassen, treibt der andere Dinge voran. Kann der eine schön singen, kann vielleicht derjenige, der eher krächzt und keinen Ton trifft, wunderbare Lieder schreiben…

Keiner kann alles können.
Keiner soll alles können.
Wer alles kann, ist einsam,
weil er keinen anderen braucht.

Jeder Mensch wird mit seiner guten Gabe gebraucht. Und eine Gemeinschaft wird stark durch die Menschen, die ihre Gottesgaben nicht für sich behalten, sondern mit den anderen teilen. Eine Gemeinschaft wird stark, durch die Menschen, die sich mit ihren Gottesgaben ergänzen.

Im LAFIM – zu dem ja auch das Evangelische Seniorenzentrum Willi Kupas gehört – haben wir einen Leitvers aus dem 1. Brief des Petrus, Kapitel 4, Vers 10, der uns in unserer Arbeit und unserem Zusammenleben helfen soll:

Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.
1. Petrus 4,10

Eine Gabe ist in erster Linie nicht dazu da, dass man mit ihr angibt und sagt: „Gott, was bin ich für ein cooler Typ.“ Sondern eine Gabe stellt auch eine Verpflichtung dar, nämlich die, mit ihr zu dienen. Gott hat mir, hat Ihnen, egal ob Sie hier wohnen oder arbeiten oder einfach nur das Haus besuchen, eine Gabe gegeben. Und jeder ergänzt mit seiner Gabe, den anderen, weil jeder Mensch auch auf die Gabe des anderen angewiesen ist.

Bringt jemand seine Gabe nicht ein, funktioniert ein ganzes Team oder ein ganzes Haus nicht. Bringt jemand seine Gabe nicht ein, funktioniert eine ganze Gemeinschaft nicht. Wir werden nur vollständig durch die Gabe des anderen.

Ich finde, dass Gott sich das sehr gut ausgedacht und sehr elegant eingefädelt hat. Nur leider – und das ist die Macke, die wir Menschen haben, seitdem Adam und Eva im Paradies von der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis genascht haben, weil sie wie Gott sein wollten – wollen wir immer alles selber können und auf niemanden angewiesen sein.

Aber Gott hat sich das anders gedacht. Und so sind wir aufeinander angewiesen, nicht aus Mangel, sondern weil es Gottes Konzept ist.

Wenn jeder mit seiner Gabe dem anderen dient, dann geht es allen gut, dann leben wir sogar im Frieden, weil die unterschiedlichen Gaben deutlich machen, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Naja, und wenn Sie mich jetzt fragen, was ist, wenn einer mit seiner Gabe geht, weil er in den Ruhestand geht, das Unternehmen verlässt oder stirbt. Dann ist das erst einmal wie eine Wunde, die heilen muss. Und wenn dann jemand Neues hier anfängt oder einzieht, bringt er oder sie eine andere Gabe mit, mit der wir eine neue Facette der Vielfalt und des Reichtums der Gaben Gottes erkennen können. Also:

Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.
1. Petrus 4,10

In dieser Weise einander zu dienen, macht jeden einzelnen von uns reich. In dieser Weise einander zu dienen, heißt, Gott für die Gabe, die ich von ihm empfangen habe, zu danken.

Amen.

Predigt am 16. Januar 2018 anlässlich des 25. Geburtstags des Evangelischen Seniorenzentrums „Willi Kupas“ in Wittenberge über den Leitvers des Landesausschusses für Innere Mission 1. Petrus 4, 10