Pfr. Martin Dubberke
Geboostert

Des Gesetzes Erfüllung ist die Liebe

Liebe Geschwister, ein zweites Mal gehen wir unter Corona-Verhältnissen in die Adventszeit. Ein zweites Mal wissen wir nicht, wie wir erwarten, empfangen, feiern werden. „Alle Jahre wieder“ bekommt eine seltsam neue Bedeutung. Werden wir jemals wieder so Advents- und Weihnachtszeit so feiern können, wie wir es gewöhnt sind? Die Weihnachtsmärkte sind abgesagt. Es klingt auch auf den Straßen keine Weihnachtsmusik. Die Menschen gehen einkaufen und sie stehen in dicken Trauben in Garmisch auf dem Marienplatz beim Würschtl Mo, weil es dort Bratwurst und Glühwein gibt. Kein Weihnachtsmarkt, aber der einzige Ort, an dem so ein wenig Gefühl alter Zeiten erlebbar wird.

Und in den Supermärkten wird immer wieder die Einkaufsmusik von Spots mit Impfaufrufen unterbrochen.

Wir leben in einer Zeit, in der manch einer vielleicht das Gefühl von Chaos bekommen kann, weil er gar nicht mehr weiß, welche Regeln gelten und wann sie gelten, wo sie gelten und für wen sie gelten.

Ich erlebe eine Gesellschaft, in die ein Spalt hineingeraten ist, der mehr und mehr wirkt und unser Zusammenleben, unsere Gesellschaft verändert. Wir trennen uns voneinander und werden voneinander getrennt. Am Montag, als wir unsere Dekanatskonferenz hatten, merkte ich das in besonderer Weise, weil es auch bei uns in der Kirche mehr und mehr ankommt und wirkt. Kollegen aus anderen Gemeinden erzählten, dass Menschen nicht mehr zum Gottesdienst kommen, weil sie sagen, dass sie dort auch auf Ungeimpfte treffen. Und so machen manche zwei Gottesdienste hintereinander: einen in der Kirche und einen vor der Kirche im Freien. Ich kann es auf der einen Seite durchaus gut verstehen, aber wird mit diesem Pragmatismus nicht auch die Spaltung befördert? Wir sind doch Gemeinde, also Gemeinschaft.

Es wird seit zwei Jahren sehr viel von Freiheit gesprochen, von Freiheit, die uns verloren gegangen sein soll, von Knechtschaft und Gefangensein unter der Maske.

Die Kinder und Jugendlichen haben seit zwei Jahren keine wirklich gut laufende Schule. Eine Schulzeit geprägt von Lockdown, Präsenz- und Fernunterricht, der der einen Schule gelingt und an der anderen Schule scheitert. Wir reden von Long Covid bei Menschen und können die Auswirkungen eines schulischen und gesellschaftlichen Long Covid schon erahnen, weil wir sie bei unseren Kindern und Enkelkindern sehen können.

Wir erleben in so vielen Fällen, dass der gegenseitige Respekt verloren geht, aus Angst, aus Gleichgültigkeit, aus vermeintlichem Widerstand. Menschen haben Angst um ihre Individualität, um ihre Freiheit, reden von Diktatur, so wie der Mann, der mich am Freitag, bei der Tafel anschrie, als ich ihn bat, sich an die Regeln zu halten: „Deutschland ist auf dem Weg in die Diktatur!“ schrie er mir ins Gesicht.

Corona deckt auf, was in unserer Gesellschaft, unserer Welt schon längst schlummerte und sich nun an so vielen Stellen Bahn bricht, der Egoismus des Individuums. Das mag erschrecken, macht aber deutlich, wo wir miteinander vom Weg abgekommen sind, was wir wirklich verloren haben, nämlich nicht unsere Freiheit, sondern unsere Werte, unsere christlichen und christlich geprägten Werte.

Individualität und Gemeinschaft bedingen einander. Ich kann meine Individualität nur innerhalb einer Gemeinschaft entwickeln, weil mich die Individualität innerhalb einer Gemeinschaft von der Gemeinschaft als etwas Eigenes abgrenzt und als Individuum erkennbar und erlebbar macht. Ich bin also auf die Gemeinschaft angewiesen, um Individuum sein zu können.

Gleichzeitig bedeutet aber Individualität in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft auch, die Freiheit eines anderen Individuums zu respektieren, weil sonst Individualismus in Egoismus umschlägt. Rosa Luxemburg wird das Zitat zugeschrieben, dass die eigene Freiheit dort endet, wo die des anderen beginnt. Ich halte das für eine sinnvolle Definition der Freiheit und Verantwortung des Individuums. Dieses Luxemburg-Zitat weist aber zugleich auch auf den christlichen Grundsatz, gewissermaßen das Grundgebot und das Fundament unserer Gemeinschaft als Christinnen und Christen hin: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Das bedeutet, dass ich meinen Individualismus nur leben kann, wenn ich auch den Individualismus meines Nächsten respektieren kann. Und dann – und nur dann – besteht die Chance, dass aus Individualisten eine Gemeinschaft entstehen kann, in der jeder ohne Schaden am anderen seine Individualität leben kann.

Jede Entscheidung im Leben ist mit Konsequenzen verbunden. Auch das ist ein Aspekt der Freiheit, ja oder nein zu sagen, sich für links oder rechts zu entscheiden, sich impfen oder nicht impfen zu lassen. Das ist ja das Tolle an der Freiheit. Das bedeutet aber auch, dass ich mich im Hinblick auf meine Individualität für meine Entscheidung, die nicht zu Lasten der Gemeinschaft gehen darf, verantworten muss.

Die meisten von Euch wissen ja, dass ich seit bald dreißig Jahren in der Arbeit mit gewalttätigen Menschen aktiv und bis ich hierhergekommen bin auch als Trainer gearbeitet habe. Es gab da auch viele Klienten, die aufgrund einer richterlichen Weisung gekommen sind. Und dann konnte es auch schon mal passieren, dass jemand sagte, er sei nicht freiwillig in der Gruppe. Wisst Ihr, was ich da gesagt habe? „Doch, Sie sind freiwillig hier, denn Sie hatten vor Gericht die Wahl. Sie hätten auch die Haftstrafe annehmen können, aber Sie haben sich in aller Freiheit und Dankbarkeit dafür entschieden, die Bewährung und damit verbundene Auflage anzunehmen. Also, sind Sie freiwillig hier.“

Egal, was ich entscheide. Ich entscheide mich immer entweder für Links oder für Rechts oder für ja oder nein.

Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein.
Was darüber ist, das ist vom Bösen.
Matthäus 5,37

Ich entscheide mich entweder für Links oder Rechts; und das bedeutet dann, dass es einen je eigenen Weg mit je eigenen Regeln gibt. Aber das bedeutet nicht Spaltung, weil die beiden Wege, die beiden Entscheidungen ein miteinander verbindendes Gesetz haben, wie Paulus in seinem Brief an die Römer schreibt:

Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.
So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
Römer 13,10

Das Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“ verbindet und schafft verantwortliche Gemeinschaft, verantwortliches Miteinander. „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.“ Wenn es gelänge dies zu leben, könnten wir die Spaltung überwinden, denn die Liebe – wohlgemerkt die Liebe – ist des Gesetzes Erfüllung.

Das gilt – mal so ganz nebenbei gesagt – auch für mich als Geimpften, der ich mittlerweile alle drei Impfungen erhalten habe. Hier erlebe ich unter Geimpften nämlich immer wieder etwas, das ich das Siegfried-Syndrom nenne. Viele glauben nämlich, sie seien wie Siegfried unverwundbar und könnten ganz normal leben. Nur vergessen sie, dass auch Siegfried nicht unverwundbar war, nachdem er im Drachenblut gebadet hatte. Ihm war nämlich ein Lindenblatt zwischen die Schulterblätter gefallen, das ihn tödlich verwundbar machte und am Ende auch sein Tod war.

Wer geimpft ist, dem ist gewissermaßen das Lindenblatt auf Mund und Nase gefallen und kann genauso an Corona erkranken oder andere anstecken. Ich habe gerade in dieser Woche ein langes Telefongespräch mit jemandem gehabt, der schwer an Corona erkrankt ist, obwohl er geimpft ist. Aber die Impfung war am Anfang des Jahres. Und wir wissen inzwischen, dass die Wirkung des Impfstoffes zeitlich begrenzter ist, als wir alle gehofft haben. Das macht deutlich, dass allen, den Geimpften und den Ungeimpften ein hohes Maß an Verantwortung zukommt, weil Freiheit nicht auf der Basis von Egoismus, sondern erst durch gegenseitige Verantwortung möglich wird.

Aber warum erzähle ich das heute alles? Was hat das mit Advent und unserem Predigttext zu tun? Weil es in unserem Predigttext aus dem Propheten Jeremia um Freiheit geht. Jeremia hatte als Sprachrohr Gottes nämlich die Könige aufgefordert, sich nicht mit Babylon anzulegen, weil das den Untergang des eigenen Volkes bedeuten würde und so kam es dann auch. Jerusalem samt dem Tempel wurde zerstört und die Führungselite des Landes ins Exil geführt. Es gab ein Ende der Freiheit. Jeremia versuchte als Stimme Gottes, den Königen ins Gewissen zu reden:

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. 6 Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«. 7 Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, 8 sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.
Jeremia 23, 5-8

Es ist die Ansage, dass es einen gerechten und fähigen König geben wird, der mit Recht und Gerechtigkeit wohl regieren wird. Es wird dabei an Gott erinnert, der sein Volk einst aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit geführt hat, eine Freiheit, die sie nicht zu schätzen und zu achten gelernt hatten oder es einfach nur mit der Zeit mehr und mehr vergessen hatten, weil es ihnen – Gott sei Dank – zu gut ging.

Gott erinnert durch seinen Propheten Jeremia daran, dass Freiheit Verantwortung bedeutet, und wenn man die Verantwortung nicht wahrnimmt und trägt, die Freiheit verlieren wird.

Und gleichzeitig sagt Gott, dass es noch einmal eine Chance geben wird, die Freiheit dauerhaft zu haben und zu leben, denn er wird noch einmal einen gerechten König schicken. Wir Christinnen und Christen deuten diese Stelle natürlich auf Jesus Christus hin. Und so gehören am 1. Advent auch diese Geschichte und die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem zusammen.

Jesus zieht ohne alle Insignien der Macht in Jerusalem ein. Er konterkariert Streitwagen und Streitross mit einem Eselsfüllen. Das Volk ruft ihm begeistert, ja ekstatisch Hosianna zu. Was wie ein Jubelschrei klingt, ist aber in Wirklichkeit ein Hilfeschrei: „Hilf uns, der du kommst im Namen des Herrn!“

Da kommt jemand, von dem das Volk glaubt und hofft, dass er es rettet. Aber es stellt sich die Frage, welche Form der Rettung sie erhofften. War es vielleicht dergestalt: „Na, der wird das schon alles für uns richten, wie es ein großer starker Mann tut, der so viele Wunder getan hat.“

Nein, das hat Jesus in der Tat nicht gemacht. Er zog ja nicht in Kriegs- und Herrscherrüstung ein, sondern wie ein einfacher Mensch. Und genau das war das Zeichen, das die Menge nicht verstanden hat. Er zog ein als einer der ihren und nicht als einer von denen da oben. Er machte deutlich, dass es nicht an den Menschen da oben liegt, wie es einem geht, wie es der Gesellschaft, der Welt geht, sondern an einem selbst.

Und so erlebte das Volk den hochgejubelten Retter wenige Tage später als den Gefangenen und rief, ja schrie: „Kreuzige ihn!“

In Wirklichkeit wurde in dem Moment nicht nur Jesus Christus ans Kreuz geschlagen, sondern auch das wetterwendische Volk, das lieber regiert werden wollte, als selbst Verantwortung zu übernehmen und danach zu handeln.

Jesus hat mit seinem Einzug in Jerusalem sehr deutlich gemacht, dass wenn ich eine andere Welt will, ich nicht auf die Mächtigen der Welt angewiesen bin, die mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe, sondern auf Gott und die Möglichkeiten, die er mir in die Hand gegeben hat. Und damit fängt die Freiheit, die uns Gott durch Jesus geschenkt hat, genau in dem Moment an, in dem ich als Christ das Gebot Christi lebe: Liebe, deinen Nächsten wie dich selbst! – Ich bin es, ich das von Gott geschaffene Individuum, das sich ändern muss, wenn ich das haben möchte, was ich von Jesus Christus erhofft habe und erhoffe, nämlich Freiheit, wirkliche Freiheit, Freiheit, die wirkt. Und Freiheit bedeutet nicht die Teilung in diese und jene. Freiheit kann nur in gemeinschaftlicher Verantwortung stattfinden und sich ereignen. Nur, wenn ich mich ändere, ändert sich auch die Welt um mich herum. Und genau das ist der Hosianna-Moment: „Hilf mir, diesen Weg zu gehen!“ – Ich muss diesen Weg nicht alleine gehen, sondern kann ihn in der Gemeinschaft mit Jesus Christus und der Gemeinschaft, die er gestiftet hat, gehen.

Tja, und all das hat Paulus mit den folgenden Worten zusammengefasst, die wie heute schon einmal gehört haben:

Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
Römer 13, 8-10

So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung, denn die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt über Jeremia 23,5-8 (Perikopenreihe IV) am 1. Advent 2021 in der Markuskirche zu Farchant und der Johanneskirche zu Partenkirchen, 28. November 2021

 

 

 

 

 

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