Pfr. Martin Dubberke
Dietrich Bonhoeffers Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer im Bonhoeffer-Haus (Bild: Martin Dubberke)

Charakter

Als am 9. November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, jüdische Geschäfte zerstört und geplündert wurden, hat die Kirche, auch die bekennende Kirche seltsam geschwiegen.

Auch Dietrich Bonhoeffer hat sich in der Zeit nicht öffentlich dazu geäußert. Die Herausgeber seiner Werke formulieren es so: „Er unterließ das offene Wort nach außen.“ (DBW 15, 589) Sie sagen auch, warum das so war. Er hatte zu der Zeit kein Pfarramt inne und somit auch keine Kanzel, von der aus er z.B. am auf den 9. November folgenden Buß- und Bettag hätte predigen können. Gleichzeitig musste er vorsichtig sein, weil er bereits im Widerstand tätig war und als Leiter der Pfarramtsausbildung der Bekennenden Kirche in der Illegalität tätig war. Er hätte zu viele Menschen gefährdet, wäre er nach außen gegangen.Auch das gehört dazu, wenn man die Frage stellt, warum Menschen in dieser dunklen Zeit der deutschen Geschichte geschwiegen haben. Man tat dies auch, um Menschen zu schützen.

1938 lebte man schon seit einem halben Jahrzehnt in einer nationalsozialistischen Diktatur. Das offen ausgesprochene kritische Wort konnte lebensgefährlich werden. Das war damals anders als heute.

Dietrich Bonhoeffer beschreibt an der Wende zum Jahr 1943 in seinem Essay „Nach zehn Jahren“, was eine Diktatur aus Menschen macht. Entstanden ist dieser Text im Bonhoeffer-Haus, das Haus in dem noch heute sein Schreibtisch steht. Das Haus, in dem er 1943 verhaftet wurde. Das Haus, in dem ich heute wohne. Dieser Essay ist ein persönlicher Rechenschaftsbericht, in dem er selbstkritisch und hellsichtig sein eigenes Ringen und das seiner Mitverschwörer im Widerstand beschreibt:

„Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“

Treffender kann man kaum beschreiben, was eine Diktatur aus Menschen macht. Später, als er schon inhaftiert war, arbeitete er an einem Roman, der Fragment geblieben ist. Hier lässt er die Reichspogromnacht anklingen und thematisiert den Umgang mit Menschen, die anders sind:

„Ewige Tertianer! Sie beurteilen ihre eigene Kraft nur an den Trümmern, die sie auf ihrem Weg zurücklassen, sie halten es für verdienstvoll, möglichst viel feines Porzellan zu zerschlagen und jubeln kindisch über das Klirren der Scherben. Sie halten es für das Zeichen eines starken Charakters, niemals einen Schritt zurückzugehen, niemals einem anderen auszuweichen, niemals einen Kompromiss zu schließen. Solange wir Kinder sind, mögen wir uns solchen Träumen von der Weltherrschaft unseres kleinen Ich hingeben und uns in unserer Ahnungslosigkeit darüber freuen, dass wir sogar eine Gefolgschaft finden, weil andere unsere Träume glauben. Aber was für eine Gefolgschaft ist das! Schwächlinge, Schmeichler und bestenfalls selbst Träumer! Aber je eher wir lernen, dass wir damit gegen das Leben sündigen desto besser. Wer es aber als Erwachsener noch nicht gelernt hat, der ist ein Unglück für seine Mitmenschen – und schließlich auch für sich selbst. Einem anderen Menschen, nur weil er anders ist, bildlich oder in Wirklichkeit den Schädel einzuschlagen, das hat mit Charakter sehr wenig zu tun. Wahrhaftig, es gehört ein sehr viel größerer Charakter dazu, sich mit den anderen zu verstehen und zu vertragen ohne sich selbst dabei aufzugeben. Das Miteinanderauskommen ohne sich gegenseitig den Schädel einzuschlagen, ist die eigentliche Aufgabe des Lebens.“ (DBW 7, 167f.)

Wir erleben heute wieder, dass Menschen andere Menschen ausgrenzen, angreifen. In einer Dokumentation im ZDF berichtete diese Woche ein jüdischer Gastronom aus Berlin über sechs bis sieben antisemitische Vorfälle pro Tag in seinem Restaurant. Ich selbst wohne nur wenige Meter von einer jüdischen Schule entfernt. Jeden Morgen erlebe ich auf dem Weg zur Arbeit, unter welchem Sicherheitsaufwand die Kinder zu ihrer Schule kommen, wie viele Polizisten in Uniform und Zivil darauf achten, dass die Situation für die Kinder sicher ist. Und manches Mal habe ich mich schon gefragt, was es aus Kindern macht, wenn sie über sichere Zufahrten zur Schule gebracht werden und immer Menschen zu ihrem Schutz abgestellt werden müssen.

Ich habe den Worten, die Dietrich Bonhoeffer 1943 im Tegeler Gefängnis schrieb, nichts hinzuzufügen. Sie haben in unserer Zeit leider wieder an Aktualität gewonnen. Es geht noch immer um das Gelingen der eigentlichen Aufgabe des Lebens.

Daher bin ich froh und dankbar, dass meine Kirche heute nicht mehr schweigt.

 

Diesen Text habe ich in der Reihe „ANgeDACHT“ für den Landesausschuss für Innere Mission geschrieben. Dort ist er am 12. November 2018 erschienen.