Pfr. Martin Dubberke

Die Kraft des Gebets

Als ich vor Monaten bei der Gottesdienstplanung für den Sonntag Exaudi zugesagt habe, war mein Blick mehr auf die Lücken in meinem Kalender gerichtet, als auf die Bedeutung des Sonntags. Gut, 8. Mai war klar. Das ist ein besonderer Tag in unserer Geschichte.

Doch dann stellte ich fest, dass der Sonntag Exaudi in diesem Jahr gleichzeitig auch der Muttertag ist.

Mit anderen Worten: Dieser Sonntag bildet einen interessanten Dreiklang aus Exaudi – Kriegsende – Muttertag.Fangen wir mit Exaudi an. Der Sonntag hat seinen Namen vom Psalm 27 Vers 7, den wir heute gebetet haben:

HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und erhöre mich!

Es geht also ums Beten und damit um die vielen Situationen in unserem Leben, in denen wir beten und gleichzeitig aber auch um die Hoffnung und den Wunsch, dass unsere Gebete erhört werden. Gott ist im Gebet die letzte zuverlässige Zuflucht, das letzte Ohr, das uns treu zuhört, der letzte, der bei uns ist und bleibt, wenn alle anderen uns schon verlassen haben.

Und so bekennt der Betende im Psalm 27,10:

Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.

Wenn ich mutterseelenallein bin, dann ist der HERR noch immer bei mir. Wenn einen Vater und Mutter verlassen, meint das nicht immer, dass es schlechte Eltern sind, die sich nicht mehr um einen kümmern, sondern in erster Linie, dass Vater und Mutter irgendwann einmal sterben und dann nur noch Gott bleibt, dem ich mich wie einem Vater anvertrauen und um Rat fragen kann oder der mich – wie es die Jahreslosung sagt „tröstet, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja 66,13)

Und damit bin ich jetzt irgendwie beim Muttertag gelandet. Gut, der Muttertag ist eine us-amerikanische Erfindung von 1914. Aber eigentlich sind Vater- und Muttertag, die in diesem Jahr so dicht beieinander liegen, wie man „Mama und Papa“ sagt, schon im vierten Gebot angelegt, das da heißt:

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden.

Das ist ein wenig mehr, als einmal im Jahr den Frühstückstisch zu decken oder mit ein paar Blumen und etwas Mon Cherie vorbeizukommen.

Im Kleinen Katechismus schreibt Luther zur Bedeutung dieses Gebots: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.“

Wenn wir Gott fürchten und lieben, dann funktioniert das Verhältnis zu unseren Eltern in Achtung, Gehorsam, Liebe und Wertschätzung. Und gleichzeitig tut sich hier eine spannende Perspektive auf: Denn wie sieht es aus mit dem Ehren der Söhne und Töchter durch die Eltern?

Hier gibt es millionenfache Geschichten, weshalb es Kindern schwer fällt, ihre Väter und/oder Mütter zu ehren, weil es die Eltern nicht tun. Kinder, die daran zerbrechen, dass die Eltern sie nicht lieben und für sie sorgen, so dass sie in die Fürsorge anderer Menschen kommen.

Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf. (Psalm 27, 10)

Gott, der in alle Ewigkeit ist, ist der, der mir bleibt, bei dem ich immer Sohn oder Tochter bin, zu dem ich immer kommen kann, wie zu einem Vater oder einer Mutter, der mich hört und mich versteht und mir, wenn ich genau hinhöre und nicht nur im Gebet rede und rede, sondern auch still werde, antwortet, weil Beten nämlich kein Monolog, sondern ein Dialog ist. Das bedeutet aber auch, dass wir zuweilen eine Antwort hören können, die uns nicht gefällt, weil sie uns fordert, weil sie eine andere Perspektive einnimmt und uns in dem Moment bewusst wird, dass Beten kein Wunschomat ist. So, wie auch der Vater oder die Mutter keine Wunschomaten sind: Mama, ich wünsche mir… Und natürlich wünsche ich mir das jetzt und sofort und in vollem Umfang.

Wann waren wir aber das letzte Mal offen für den leise ausgesprochenen Wunsch unserer Mutter, mal öfter bei ihr vorbeizuschauen oder den schon lauter ausgesprochenen Wunsch: artig zu sein?

Väter, Mütter und Gott sind keine Automaten, in die man einen Wunsch reinsteckt und unten die Erfüllung rauskommt.

Aber auch Väter und Mütter sind Kinder. Auch das vergessen wir manchmal. Wir sind Kinder Gottes und wir kommen, wie alle Kinder, wenn wir in Angst und Not sind zu unseren starken Eltern, weil wir hoffen, dass sie uns helfen. Und so haben sich Millionen Mütter in den Zeiten des zweiten Weltkriegs in der Angst um ihre Söhne, die als Soldaten an der Front waren, an Gott gewandt und gehofft und gebetet, dass ihre Kinder verschont blieben. Sie haben gehofft, wie der Psalmbeter, dass da, wo ihre eigene Macht, ihr eigenes Vermögen aufhört, Gottes Hilfe einsetzt.

So, wie der Muttertag uns daran erinnert, dass wir nicht leben, weil wir einfach mal so auf die Welt gekommen sind, sondern, dass es da mal eine Frau gegeben hat, in deren Leib wir über neun Monate herangewachsen sind, mit der wir eins waren; die uns unser Leben unter Schmerzen geschenkt hat. So erinnert uns der 8. Mai daran, dass Frieden und Freiheit, keine Selbstverständlichkeit sind, sondern hart erarbeitet worden sind und unermessliches Leid, der Auslöser dafür war.

So, wie uns der Muttertag daran erinnert, dass wir unseren Müttern dankbar sein dürfen, sie ehren, lieb und werthaben, auch wenn Sie manchmal vielleicht nicht so waren oder sind, wie wir es gedacht oder gehofft haben, so erinnert uns der 8. Mai daran, dass wir auch den Frieden und die Freiheit ehren, lieb und werthaben sollen, weil wir von unseren Eltern und Großeltern wissen, wie wertvoll er ist und wie leicht er durch zündelnde Scharfmacher gefährdet werden kann, weil noch immer gilt, was Brecht im Epilog des „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“ schrieb:

Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!

Bertolt Brecht – Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band,
Suhrkamp, Frankfurt am Main, vierte Auflage 1982, S. 728

Und genau deshalb ist Exaudi ein ganz besonders wichtiger Sonntag, weil er für die Kraft des Gebets steht. Exaudi erinnert uns daran, was unsere Kirche im Oktober 1945 in der Stuttgarter Schulderklärung bekannt hat:

„…wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Paulus schreibt in seinem Brief an die Epheser:

Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.

So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle. Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Paulus beugt vor Gott dem Vater seine Knie. Sprich: Er betet für seine Gemeinde. Das Beugen der Knie ist eine Haltung der Demut. Und das althochdeutsche Wort Demut beschreibt die Haltung des Geschöpfes zu seinem Schöpfer als das Verhältnis eines Dieners zu seinem Herrn.

Das Gebet im Knien ist aus unserer Evangelischen Kirche fast vollkommen verschwunden. Das kniende Gebet ist aber zugleich ein so wunderbar starkes Bild, was Beten heißen kann: Nämlich Gottes Wort anzunehmen, seine Gebote zu erfüllen, Gott um etwas zu bitten und zu empfangen, mich ihm unterzuordnen, seinen Willen zu erfüllen und ein Werkzeug seines Friedens zu werden.

Paulus macht zwei ganz klare Ansagen in den ersten beiden Versen des Textes: Eben, sich Gott unterzuordnen und gleichzeitig zu sagen, dass Gott der rechte Vater aller ist. Damit sind alle Menschen Geschwister. Das allein ist schon ein Bekenntnis.

Und nach diesem Bekenntnis – das ist wie im Psalm 27, wo der Beter erst einmal bekennt, dass Gott sein Licht und sein Heil ist – also, nach diesem Bekenntnis folgt die Fürbitte:

…dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.

So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist,

auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle. Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Das ist Beten pur auf allerhöchstem Niveau. Das hat nichts mit einem Wunschomaten zu tun. Paulus bittet Gott darum, dass die Menschen in seiner Gemeinde erfüllt sind vom Geist, der sie stark macht. Er bittet Gott darum, dass Christus durch den Glauben in den Herzen wohnt. Was aber in meinem Herzen wohnt, wird durch meinen Körper gepumpt und erfüllt mich mit Leben. Und wenn Christus – also das, was er uns gelehrt hat, wozu er uns eingeladen hat, was er uns vorgelebt hat, in mir ist und lebt, dann lebe ich es auch. Nämlich:

»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). (Matthäus 22, 37-39)

Wenn ich das lebe, dann kann ich keinem anderen Menschen mehr den Kopf einschlagen. Dann kann ich nicht mehr gegen andere Menschen, gegen andere Geschöpfe Gottes eingestellt sein. Dann kann ich im anderen und im fremden Menschen nicht mehr den Feind sehen, sondern den gleichermaßen von Gott geschaffenen Menschen. Als Gott den Menschen schuf, schuf er ihn nach seinem Bilde und er schuf ihn als Mann und Frau. Das war die einzige Unterscheidung, die er traf. Gott schuf keine Menschen erster oder zweiter Kategorie. Gott schuf den Menschen „und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (1. Mose 1, 31).

So gewappnet kann ich auch nicht mehr auf die zündelnden Scharfmacher reinfallen, weil ich mit der Liebe Christi erkenne, was nicht nach seinem Willen ist und was in den Abgrund führt.

Paulus verfolgt mit seinem Gebet aber noch etwas anderes. Durch den Geist soll die junge Gemeinde in Ephesus auch bestärkt werden, den Glauben an Jesus in einer Welt zu leben, in der sie zu einer Minderheit gehören und so zugleich nicht die Hoffnung aufzugeben, dass Ihr Handeln nach Gott ohne Wirkung bleibt.

Paulus hat seine Fürbitte in die Zukunft hinein gesprochen und so gilt sie auch für uns, heute am Sonntag Exaudi und an jedem anderen Tag.

Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe;
Sei mir gnädig und erhöre mich!

Amen.

 

Predigt am Sonntag Exaudi 2016 über Epheser 3, 14-21 Reihe II in der Königin-Luise-Gedächtnis Kirche | 8. Mai 2016