Pfr. Martin Dubberke

Ein Buch kann ein Leben verändern

Das ist heute mein erster Literatur-Gottesdienst. Als Bruder Hansen vorschlug, eine Literaturgottesdienstreihe zu machen, war ich anfangs skeptisch. Über Literatur predigen. Ja, über Literatur miteinander ins Gespräch kommen. Und da merke ich, dass ich mich nur selten über Literatur unterhalte. Dabei lese ich doch so viel – immerhin schon wieder dreißig Bücher in diesem Jahr. Bücher, Buch… Ja, genau das ist es. Es geht um Bücher und was ist uns als Christen wichtig? Genau: Die Bibel. Und was heißt das alte griechische Wort „biblos“ anderes als Buch? Und genau dieses eine bestimmte Buch, die Bibel, ist das Buch, das Leben verändern kann, verändert und in bestimmte Richtungen bringen kann, indem es Geschichten erzählt, Geschichten, die mich bewegen, berühren, zum Innehalten und Nachdenken bringen und schließlich auch zum Handeln. Die Bibel erzählt aber auch selbst von Wendepunkten um Leben von Menschen, so wie wir es heute in den Epistel, dem 1. Timotheus hören konnte, wo Paulus schreibt: „der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren.“ (1. Timotheus 1,13) OK, warum also nicht über Literatur predigen?

Und so muss ich nicht lange nachdenken, welchen Roman ich nehme: Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier. Dieser Roman hat im vergangenen Jahr eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Es ist ein Buch, mit dem ich selbst auf eine Reise gegangen bin, auf eine Reise in meine eigene Vergangenheit. So sehr hat mich das Buch in Bewegung gesetzt.

Mercier erzählt die Geschichte eines Lehrers für alte Sprachen an einem Berner Gymnasium, der schon etwas jenseits der fünfzig ist, geschieden und ein Stundenplan-Leben führt. Er funktioniert wie eines der berühmten Schweizer Uhrwerke. Doch eines Morgens bringt ihn etwas aus dem Takt. Er begegnet einer Frau und diese Frau vergisst ein Buch bei ihm. Ooops, ein Buch. Da haben wir es wieder. Und sie werden es nicht glauben, aber dieses kleine Büchlein verändert das Leben des Lehrers, der den schönen Namen Gregorius trägt. Das Buch ist auf Portugiesisch geschrieben und er liest sich rein und noch mehr: Es zieht ihn in seinen Bann. Er will mehr über diesen Autor erfahren, dessen Namen er noch nie gehört hat. Gregorius sucht einen Buchhändler auf, den er gut kennt. Von ihm bekommt er einen ersten Hinweis. Und was macht Gregorius? Er bricht aus seinem Stundenplanleben aus und setzt sich einfach in den Nachtzug nach Lissabon. Wie ein Detektiv geht er auf die Suche nach dem Autor, will mehr über den Mann erfahren, der ihn so sehr in den Bann zieht, dass er sein altes Leben erst einmal hinter sich lässt. Er liest das Buch, findet immer mehr Hinweise und auch Menschen, die den Autor gekannt haben, der schon lange tot ist. Doch was passiert mit Gregorius? Je weiter er auf die Suche nach dem Autor geht, der nebenbei gesagt Prado heißt, desto mehr kommt Gregorius zu sich selbst. Prado, der Mann, der sich etwas getraut hat. Der Mann, der Arzt war und gleichzeitig im Widerstand gegen das Regime des Diktators Salazar aktiv war und dann als Arzt ausgerechnet dem schlimmsten Schlächter des Regimes das Leben gerettet hat, weil er nicht gegen seinen Eid handeln konnte. Es geht aber nicht nur um eine Geschichte des Widerstands, sondern auch – wie kann es kaum anders sein – um eine großartige Liebe.

Im Leben des anderen, der schon früh gestorben ist, erkennt Gregorius einen ganz anderen Lebensentwurf, der um der Wahrhaftigkeit willen, das Risiko in Kauf nimmt. Dieses Leben ist ganz anders als das des rechtschaffenen, unaufgeregten Lateinlehrers Gregorius. Und so ist es kein Zufall, dass ihm bei einem kleinen Zusammenprall mit einem anderen Menschen die Brille kaputtgeht und er sich eine neue kaufen muss, mit der er am Ende nicht nur besser aussieht, sondern auch noch besser sieht. Diese Brille steht für die neue Perspektive, die er in seinem Leben gefunden hat.

Und genau das war es, was mich an diesem Buch faszinierte. Da steht jemand auf und macht sich auf den Weg. Ein wenig ist es, wie im Evangelium: „Welcher Mensch ist unter Euch, der hundert Schafe hat und wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?“ (Lukas 15, 4) Gregorius ging auf die Suche, nach dem einen, was er verloren hatte. Und durch die Lektüre des kleines Buches von Prado spürte er, dass er irgendwann, irgendwo etwas in seinem Leben verloren hatte. Noch wusste er nicht was, sondern nur dass und das löste ein unmittelbares Handeln bei ihm aus.

Auch das faszinierte mich an diesem Roman, dieses Aufbrechen. Als Christen brechen wir auch auf und machen uns auf den Weg. Aber das hier hatte noch einmal eine andere Qualität. Etwas von sich selbst zu suchen und zu finden.

Und so begegnete Gregorius in Prado einem jungen Mann, der einen starken Vater hatte, unter dem er litt, weil er als Richter so klar und dann doch so unnahbar und so fern war. Ein starkes Bild. Fast so, wie das Verhältnis von Mensch und Gott, dem Vater im Himmel.

Das Buch faszinierte mich, weil ein Mann, durch einen geradezu zufälligen Anlass, fast unmerklich begann Bilanz in seinem Leben zu ziehen. Das war meine Situation im vergangenen Jahr. So, wie Gregorius durch das Buch des Prado veranlasst war, sich auf diese Lebensreise zu begeben, so war es bei mir dieses Buch. Ich begegnete diesem Buch, als sich mein Vater zum Sterben entschlossen hatte, als er sagte, dass nun sein Leben voll und seine Zeit erfüllt sei und er nun Bilanz ziehe.

In dieser Zeit lernte ich in einer neuen Tiefe verstehen, was bei Markus 10, 7 steht:

„Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen.“ Erst mit dem Blick auf den bevorstehenden Tod meines Vaters verstand ich die gesamte Dimension. Es ist nicht nur so, dass man mit dem Menschen, mit dem man verheiratet ist, ein Fleisch wird und eine eigene Familie gründet, sondern dass das der Moment ist, in dem man so erwachsen ist, dass man die eigenen Eltern nicht mehr braucht, um Leben zu können, weil man nun auf eigenen Füßen steht. Für mich bedeutete das, dass ich meinen Vater gehen lassen konnte, dass ich zu ihm sagen konnte: „Ich werde nicht an Deinem Bett stehen und sagen. Das wird schon wieder. – Ich kann Dich gehen lassen. Aber ich freue mich und bin dankbar für jeden Tag, an dem wir noch einander haben.“

Auch das spielt in dem Roman eine Rolle. Der Sohn schreibt seinem Vater einen Brief, in dem er Bilanz zieht, seinem Vater erzählt, was sein Vater ihm bedeutet, wo er ihn bewundert, wofür er ihm dankbar, wo er ihn gefürchtet hat und wie er sich auf sein Leben ausgewirkt hat. Prado hat diesen Brief aber niemals abgeschickt. Er blieb in der Schublade seines Schreibtisches, in der so vieles lag, was er für seine Schublade geschrieben hatte.

Auch ein Brief der Vaters an den Sohn, blieb in der Schublade des Vaters. Beide schickten diese tief empfundenen, intensiven und so wunderbaren Briefe nie dem anderen zu, weil sie Angst davor hatten.

Ich tat es. Von diesem Roman auf den Weg gebracht, schrieb ich meinen Eltern einen Brief, einen Brief, in dem ich Ihnen für vieles gedankt habe, was sie für mich getan haben, aber auch über Sachen aufgeschrieben habe, die ich ihnen gegenüber nie gesagt habe, weil ich mich nicht getraut habe. Die Form des Briefes gab mir die Möglichkeit, alles aufzuschreiben, was ich mich nie getraut hätte zu sagen. Das Herz war voll und ich schrieb an einem Abend mit der Hand rund vierzig Seiten. Und ich tat ihn einen Briefumschlag, adressierte ihn, klebte eine Briefmarke drauf und… und steckte ihn mit bebendem Herzen am nächsten Tag in den Briefkasten und vertraute dem lieben Gott – also, meinem anderen Vater – dass ich es überleben werde.

Irgendwie war es, wie im Psalm 103, den wir heute gemeinsam gebetet haben:

Lobe den HERRN, meine Seele,
Und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat:
Der dein Leben vom Verderben erlöst,
Der dich krönet mit Gnade
Und Barmherzigkeit.
Er wird nicht für immer hadern
noch ewig zornig bleiben.

Ja, dieses Buch hat mein Leben verändert. Und die Quintessenz? – Wenn so ein Roman das Leben eines Menschen verändern kann. Wie sehr kann es dann erst die Bibel. Zusammen mit Gregorius bin ich auf eine Reise zu mir selbst gegangen. Zusammen mit Gott, hatte ich den Mut, auf diese Reise zu gehen.

Und da ging es mir anders also Prado, der in seine Abiturrede in einer katholischen Internatsschule sagte:

„Der Herr, er ist in seiner Allgegenwart einer, der uns Tag und Nacht beobachtet, er führt in jeder Stunde, jeder Minute, jeder Sekunde Buch über unser Tun und Denken, nie läßt er uns in Ruhe, nie gönnt er uns einen Moment, wo wir ganz für uns sein könnten. Was ist ein Mensch ohne Geheimnisse? Ohne Gedanken und Wünsche, die nur er, er ganz allein, kennt? „

Ich empfinde das nicht als belastend, sondern eher als befreiend. Weil Gott alles weiß, ist er der einzige, zu dem ich wirklich offen und ehrlich sein kann. Vor ihm kann ich nichts verbergen, weil er alles weiß, und so darf ich ihm alles sagen, mich ihm voll und ganz öffnen. Und diese Haltung wirkt sich auf alle anderen Beziehungen im Leben aus.

Ich teile aber, was Prado in der gleichen Rede sagt:

„Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche den Glanz ihrer Fenster, ihre kühle Stille, ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche die Fluten der Orgel und die heilige Andacht betender Menschen. Ich brauche die Heiligkeit von Worten, die Erhabenheit großer Poesie. All das brauche ich.“

Amen.