Finale. 500 Jahre Reformation. Zehn Jahre fünfhundert Jahre feiern. Ich selbst bin ja nicht mehr so ein großer Partygänger. Auch wenn ich Lutheraner bin, hat mich doch der ganze Rummel um dieses Jubiläum irgendwie ein wenig kalt gelassen. Nein, keine Bange, ich möchte mich jetzt nicht in das Heer derer einreihen, die landauf und landab erzählen, dass das alles schrecklich gewesen wäre oder nicht richtig aufgezogen gewesen sei oder nicht theologisch genug. Manche haben sich vielleicht zu viel davon versprochen, auf eine neue Reformation gehofft, denn es gilt ja nach wie vor der Grundsatz ecclesia semper reformanda.
Ja, unsere Kirche bräuchte heute wohl vieles von dem, was Luther bewegt und aufgeregt hat. Mit 500 Jahren ist mittlerweile auch die Evangelische Kirche ein alter Hase, wenn auch im Vergleich zur Katholischen Kirche ein Jungspund. Dabei habe ich zuweilen den Eindruck, dass die katholischen Schwestern und Brüder deutlich agiler sind als wir.
Manche haben sogar darauf gehofft, dass es endlich eine Abendmahlsgemeinschaft gibt, weil ja ausgerechnet diese als Gradmesser der Beziehung zwischen der guten alten Katholischen Kirche und den Protestanten gilt. Ich selbst muss da immer wieder ein wenig schmunzeln, weil sich ja in dieser Frage die Protestanten untereinander erst seit 44 Jahren in ihrer Unterschiedlichkeit anerkennen. Das heißt erst 1973 – also 456 Jahre nach dem offiziellen Beginn der Reformation haben die lutherischen, reformierten und unierten Kirchen einander die Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewährt. Erst seitdem gibt es eine Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft sowie die gegenseitige Anerkennung der Ordination unter den Evangelischen Kirchen. Ich finde, dass jeder, der eine Abendmahlsgemeinschaft jetzt und sofort mit der Römisch Katholischen Kirche fordert, sich dieses immer in aller Bescheidenheit vor Augen halten sollte.
Manchmal erinnern mich viele dieser Diskussionen an ein geschiedenes Ehepaar, dass sich immer noch darum streitet, wer nun schuld daran ist, dass man sich getrennt hat und sich insgeheim immer noch liebt.
Gemeinschaft entsteht aber auch aus der Verschiedenheit heraus. Das bedeutet unterschiedliche Standpunkte, unterschiedliche Perspektiven. Und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus, auf eine Sache zu schauen, bedeutet immer, sie anders und umfassender zu erfassen und dabei gleichzeitig immer wieder offen für eine neue Perspektive zu sein. Daraus entsteht Vitalität.
Ich habe während meines Studiums viele Jahre in der evangelischen Krankenhausseelsorge eines katholischen Krankenhauses gearbeitet. Der gemeinsame Mittagstisch mit den katholischen Kollegen war für mich immer der Höhepunkt des Tages, weil ich viel von ihnen gelernt habe. Es waren – nebenbei gesagt – Jesuiten. Ich bin mit einer katholischen Frau verheiratet. Die beiden Perspektiven ergänzen einander so wunderbar.
Im Mittelpunkt steht der gemeinsame Glaube an den einen Gott. Im Mittelpunkt stehen die gleichen Gebote, der gleiche Jesus, der gleiche Heilige Geist, die gleiche Heilige Schrift.
Als eines des schönsten Dokumente dieser Dekade – und ich habe vieles in dieser Zeit gelesen – empfinde ich den kleinen Band von Bischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx „Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen.“ Sie stellen sich den Fragen der Erinnerung, des Umgangs mit Schuld und Leid und der Perspektive der Versöhnung. Es ist für mich eines der wichtigsten Dokumente dieser Dekade, weil es deutlich macht, dass wir eine gemeinsame Geschichte haben und zur Versöhnung herausgefordert sind. Unser Verhältnis zueinander ist ein Spiegel des Doppelgebots, das Gemeinschaft schafft.
Ich war in diesem Jahr Kurprediger in Bayern. Zu meiner Gemeinde gehörten drei Kirchen. Eine davon war die „Martin-Luther-Kirche“ in Spiegelau. Und hier habe ich eine der schönsten Evangelisch-Katholischen Geschichten meines Lebens gehört. Spiegelau war immer ein katholischer Ort. Am Ende des 19. Jahrhunderts hielt auch hier die Industrialisierung Einzug. Es entstanden Glashütten, Fabriken für Holzverarbeitung und Pappenproduktion und die Eigentümer waren Protestanten. Sie holten Fachleute und Facharbeiter aus Sachsen und Oberfranken nach Spiegelau und das waren in der Regel auch Protestanten. Und in jener Zeit hatten Katholiken und Protestanten in Spiegelau etwas gemeinsam: Sie hatten keine Kirche. Sie mussten entweder nach Grafenau oder Zwiesel zum Gottesdienst. Das waren zwischen rund neun und 21 Kilometer in einer Zeit, in der man nicht Auto fuhr. Daher gründete man einen Kirchbauverein. Es wurde ein Bauantrag gestellt, aber dieser wurde abgelehnt, weil es ja in einem Ort ohne katholische Pfarrkirche keine evangelische Pfarrkirche geben sollte. Aber Protestanten sind halt Protestanten. Sie fingen an, die Kirche zu bauen und als die Behörden sahen, wie ernst es ihnen war, erteilten Sie die Baugenehmigung. Und so konnte am 31. Oktober 1901 die Martin-Luther-Kirche in Spiegelau eingeweiht werden. Allein das ist eine schöne Geschichte, weil sie deutlich macht, wie sehr die Evangelische Kirche auch Kirche von der Basis her ist und eine sympathische Widerständigkeit hat. Aber das schönste an der Geschichte der Martin-Luther-Kirche ist, dass nun die Katholische Kirche auf den Plan gerufen war und fünfzehn Jahre später am 14. Dezember 1916 die Katholische Pfarrkirche St. Johannes der Täufer geweiht wurde. Natürlich ist diese Kirche viel, sehr viel größer als die kleine Martin-Luther-Kirche. Aber nun hatten sie wieder etwas gemeinsam: Sie haben jeder eine Pfarrkirche.
Mir gefällt diese Geschichte deshalb so gut, weil sie deutlich macht, welche konstruktiven Energien Glaube freisetzen kann, was Glaube schaffen kann und vor allem, dass beide Kirchen aneinander das Beste freisetzen können. Welch ein Reichtum.