Auf dem Weg zu meiner Mutter, bin ich heute an der früheren Walther-Rathenau-Bücherei am Henriettenplatz vorbeigekommen. Bald wird sie abgerissen. Sie war das kulturelle Zentrum meiner Jugend und meiner Studienzeit. Wie viele Bücher, Schallplatten und CDs habe ich dort ausgeliehen, wie viele Zeitungen habe ich im Lesesaal in den Sesseln am Zeitungstisch gelesen, immer die gleichen schweigsamen, lesenden Menschen um sich herum. Man schaute sich kurz an, grüßte mit den Augen und bildete eine verschwiegene Lesegesellschaft.
Wie viele Gespräche habe ich mit dem freundlichen Bibliothekar, Herrn Koch, geführt. Ein großer, zarter, zurückhaltender, leise sprechender Mann. Es hatte immer etwas Verschwörerisches, wenn man sich im Bibliotheksflüsterton unterhielt.
Alles Vergangenheit.
Auch die kleine graue Holzbude am Henriettenplatz, wo man gebrauchte Bücher, Groschenromane oder Comics kaufen und tauschen konnte, ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr da. Wieviele Asterix und Obelix-Bücher habe ich dort gekauft, weil ich sie mir da von meinem Taschengeld leisten konnte. Meine Oma und mein Opa holten und tauschten da immer ihre Dreigroschen-Romane, ihren Jerry Cotton oder auch Western-Roman. Auch ausgestorben. Es überkommen mich immer ganz Wärme Gefühle, wenn ich mal, was selten geworden ist, jemanden in der S Bahn sehe, der einen Groschenroman liest.
Der ganze Henriettenplatz ist eine furchtbare, riesige Ödnis. Es fehlt der alte Bahnhof mit dem Restaurant, dem Lottoladen, dem Blumengeschäft – und vor allem dem Automaten, in dem man am Wochenende, als man noch nicht rund um die Uhr einkaufen gehen konnte, noch einen kleinen Blumenstrauß erwerben konnte. Es ist ein toter, leerer, ungemütlicher und dreckiger Platz – schon seit Jahrzehnten. Aber heute wird mir das in besonderer Weise schmerzhaft bewusst. Die Ecke verkommt…
Ich nutzte heute die Gelegenheit, dass ich noch ein paar Minuten bis zur verabredeten Zeit habe und gehe auf der Suche nach einem Kaffee die Einkaufsstraße meiner Kindheit ab, die Westfälische. Auch wenn es hier noch Geschäfte und Restaurants gibt, ja sogar noch immer das alte Lotto-Zeitungs-Zigarettengeschäft von Feists und auch noch den Fleischer Bünger, wirkt alles auf mich tot und einsam. Und das liegt nicht daran, dass heute Sonntag ist. Ich finde schließlich ein Café. Naja, eher ein Backwarengeschäft mit Selbstbedienungscafé, da wo damals das Eisen- und Haushaltswaren-Geschäft von Stache war, wo ich mit meinem Vater immer einzelne Schrauben gekauft habe – eben so viel wie man brauchte und nicht gleich hundert Stück auf einmal – und den Rührquirl für meine Mutter…
Die Zeiten ändern sich, die Erinnerung an die alte Zeit bleibt und fühlt sich so an, wie es meine Großeltern immer gesagt haben: „Früher war alles besser.“ – Ist das etwa ein Anzeichen dafür, dass ich langsam älter werde, oder ist es einfach nur Nostalgie an einem Sonntagmorgen?
Ich erinnere mich, wie ich nach dem Umbau des Platzes in den achtziger Jahres des vorigen Jahrhunderts mit Pfr. Rudolf Weckerling an dem Platz vorbei fuhr und er darüber schimpfte, wie furchtbar der Platz geworden sei. Damals antwortete ich noch, dass es doch gar nicht so schlimm geworden sei und es viel Schlimmeres geben würde. Er antwortete darauf: „Lieber Herr Dubberke, genau das ist das Problem. Der Vergleich macht uns tolerant.“
Wie sich doch die Zeiten und die Wahrnehmung ändern…