Es könnte so einfach sein. Christus spricht:
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
Das passt doch! Vor zwei Wochen haben wir Ostern gefeiert und uns über die Auferstehung Jesu Christi von den Toten gefreut und darüber, dass er uns durch seinen Tod am Kreuz von der schweren Sündenlast auf unseren Schultern befreit hat. Naja, und vergangenen Sonntag haben wir uns angesichts der lebendigen Hoffnung darüber gefreut, dass wir wie die neugeborenen Kinder sind. Wir sind mitten in der Zeit der österlichen Freude.
Ja, es könnte so einfach sein, heute über den guten Hirten, uns als Schafe und die bösen Mietlinge zu predigen und nicht zu vergessen: auch über den Wolf.
Es könnte, aber Sie ahnen es schon. So ist es nicht, auch wenn wir heute den wunderbaren Psalm 23 im Gottesdienstgepäck haben und die Epistel aus dem 1. Petrusbrief, der noch einmal festhält, was wir einst gewesen sind, bis Jesus in unser aller Leben getreten ist: nämlich irrende Schafe, die aber umgekehrt sind zu dem Hirten und Bischof unserer Seelen. (1. Petrus 2, 25).
Und einen Text für diesen Sonntag haben wir gleich mal unterschlagen, nämlich die Lesung aus dem Propheten Hesekiel. Auch ein Text, der es in sich hat, der eine heftige Ansage an die Hirten ist. Schließlich sagt hier Gott via Hesekiel:
„Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden.“
Hesekiel 34, 2
Ach ja, es könnte so einfach sein, sich ein paar theologisch-romantische Gedanken über das Hirte- und Schafsein zu machen. Aber dem ist nicht so und das ist auch gut so. Weil: Genau, liebe Schwestern und Brüder, Ihr habt es geahnt: Weil Glaube kein romantisches Gefühl ist, sondern harte Arbeit. Und genau deshalb können wir es uns an dieser Stelle nicht so einfach machen.
Und aus diesem Grund werde ich mich auch den folgenden vier Protagonisten des Predigttextes widmen:
- Dem Hirten
- Dem Mietling
- Dem Wolf
- Und nicht zuletzt: den Schafen.
Und Sie merken es hoffentlich schon an meiner Formulierung. Ich habe nicht gesagt „uns“ Schafen, denn wir können im Prinzip alle Rollen einnehmen, wenigstens aber den Mietling, den Wolf und das Schaf. Und wenn ich mir nur die Schafe anschauen, gibt es auf der einen Seiten die, die still und zufrieden mampfen und dann auch noch die laut blökenden, die sich über alles aufregen und nicht zu vergessen, die Böcke, die mit dem Kopf durch jede Wand wollen und mit ihrem Machogehabe den anderen Machobock in seine Grenzen weisen wollen, um selbt der Platzbock zu sein, aber wehe, der Hirtenhund kommt, dann kuschen auch diese kleinlaut: „Määh.“
Der Mietling
Also schauen wir uns mal in Ruhe die Agierenden an. Und da fange ich gleich mal mit dem Mietling an. Das ist doch ein schöner Begriff.
Wer von uns ist denn ein Mietling? Einfach mal die Hand heben, bitte.
Eigentlich ist nahezu jeder von uns ein Mietling. Das griechische Wort dafür lautet misqwtos. Das bedeutet in der Tat: Mietling, Lohndiener, Söldner. Das ist jemand, der für seine Arbeit Geld bekommt, der gebucht oder eingestellt wird, jemand, bei dem man eine Dienstleistung einkauft. Heute wäre so ein Mietling ein Angestellter. Ja, auch ich bin ein Mietling, ein Angestellter. Wer einen Dienstvertrag oder Arbeitsvertrag hat, ist ein Mietling. Sogar ein Selbständiger ist ein Mietling, wird er doch für eine bestimmte Aufgabe, einen bestimmten Auftrag eingekauft.
Und was unterscheidet nun einen Mietling von einem Hirten? Genau, dem Hirten gehört die Herde. Ihm gehört das Unternehmen. Der Mietling ist „nur“ ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin. Natürlich steht in seinem Arbeitsvertrag, dass er loyal zum Unternehmen und seinen Werten stehen soll, Schaden abwenden soll, aber nicht, dass er sein Leben aufs Spiel setzen soll – es sei denn, der Arbeitnehmer ist Leibwächter, Soldat oder Feuerwehrfrau, wo es Teil des Berufsrisikos ist. Wobei es gilt, dieses Risiko zu verhindern.
Da kommt aber noch ein weiterer Aspekt ins Spiel, den ich aus heutiger Sicht sehr interessant finde. Ein Mietling ist auch jemand, der sich nicht zu Tode arbeitet. Bitte, liebe Schwestern und Brüder, beachtet den tieferen Sinn dieser Formulierung. Sich nicht zu Tode arbeiten wird ja gerne in dem Wortsinn benutzt, dass jemand die Arbeit nicht gerade erfunden hat oder der Job nicht so fordernd ist, dass man dabei zu Tode kommen kann.
Sich zu Tode zu arbeiten, bekommt aber vor dem Hintergrund des Predigttextes auch noch einmal eine andere Bedeutung – nämlich die, dass man sich nicht so aufreiben muss, dass man seine Grenzen des Leistbaren überschreitet, ausbrennt und am Ende auf seinem Arbeitsplatz tot umkippt.
Jesus – und das macht mir *wohlgemerkt mir* – dieser Text deutlich, diskreditiert nicht den Mietling oder Angestellten, sondern macht die Grenzen dieses Modells deutlich, weil in dieser Konstruktion die Verantwortung immer nur eine begrenzte sein kann.
So, dann lasst uns doch mal schauen, was es so für Mietlinge gibt. So, also ein Mietling ist ein Angestellter, wohlmöglich auch einer mit einem Zeitvertrag.
Also, mit fallen an dieser Stelle sofort Vorstände ein. Diese Manager mit Managementverträgen für fünf Jahre – zum Beispiel. Ja, auch der Vorstandsvorsitzende eines Konzerns ist nur ein Mietling. Ihm gehört nicht das Unternehmen. Er steht zwar für seine Fehlentscheidungen gerade und gegebenenfalls wird er auch von seinem Aufsichtsrat abberufen – so wie es bei Hesekiel Gott mit den Hirten macht – aber ihm gehört das Unternehmen nicht. Wenn es zu gefährlich für ihn wird, kann er wie jeder andere Mietling für sich die Reißleine ziehen, den Absprung machen, sich aus der Verantwortung nehmen. Und das ist anders als würde ihm das Unternehmen gehören. Auch hier gibt es wieder die Begrenztheit der Verantwortung, was kein Vorwurf ist, sondern das von Jesus gewählte Beispiel in aktualisierter Form.
Auch Politikerinnen und Politiker sind nur Mietlinge. Sie werden von uns auf Zeit gewählt. Ihnen gehört aber nicht das Land. Trotzdem erwarten wir von ihnen etwas, das nur die wenigsten von ihnen zu leisten vermögen.
Auch ich als Pfarrer bin nur ein Mietling. Gehört mir die Gemeinde, auch wenn ich von „meiner“ Gemeinde rede? – Nein! Wie gehe ich damit um, wenn sich ein Wolf auf das Gemeindegebiet geschlichen hat und uns die Gemeindeglieder eines nach dem anderem wegfrisst? Die Liste der gefressenen Gemeindeglieder gibt es in jeder GKR-Sitzung. Das sind die, die aus der Kirche ausgetreten sind. Und wenn ich mir dann die neueste Studie zur Kirchenmitgliedschaft anschaue, macht es mich betroffen, dass sich die Kirchenmitglieder in Deutschland bis 2060 halbieren. Was bedeutet das für mich als Pfarrer, für uns als Gemeinde mit so vielen Gebäuden und so wenig Stellen? Da gibt es eine ganze Menge Wölfe auf unserer Weide.
Wie gehe ich damit um, dass uns in unserer Gemeinde an vielen Stellen Gefahren lauern, denen wir uns nicht stellen, weil wir starr vor Angst in das offene Maul des Wolfes schauen oder den Wolf nur für einen streunenden Hund halten, dem es reicht, wenn wir ihm eine Portion Chappi hinstellen.
Es handelt sich also bei einem Mietling nicht grundsätzlich um einen verantwortungslosen Menschen. Dennoch liegt die Latte sehr hoch, insbesondere für uns Christinnen und Christen, denn als solche und auch als Kirche tragen wir eine Verantwortung, die nicht am Menschen, sondern an Jesus Christus gemessen wird.
Da wir alle in irgendeiner Weise Mietlinge sind, sollte sich jede und jeder von uns, liebe Schwestern und Brüder, mal ganz offen die Frage stellen, wann und wo er/sie selbst als lebensrettende Maßnahme Reißaus nehmen würde.
Ich habe es ja schon eingangs gesagt: „Es könnte so einfach sein.“ Ist es aber nicht. – Wir können uns nicht einfach auf die Rolle des mampfenden, verantwortungslosen Schafes zurückziehen. Also, an welcher Stelle im Job und Leben, in einem unserer Verantwortungsbereiche würden wir selbst die Reißleine ziehen?
Und dennoch, Jesus weist hier genau auf dieses Problem hin, dass der Mietling im Ernstfall die ihm anvertraute Herde alleine lässt und flieht, wenn der Wolf auftaucht und die Herde bedroht.
Der Wolf
Und damit nähere ich mich dem nächsten Akteur an, dem Wolf.
Also, was ist der Wolf? Wofür steht er? Natürlich denke ich hier sofort an „Peter und den Wolf“ oder „Rotkäppchen“ oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“ – der Wolf als Sinnbild für die Bedrohung an Leib und Seele.
Der Wolf ist die Bedrohung der Herde. Er steht hier auch gleichzeitig als ein Sinnbild des Teufels. Der Wolf ist einfach ein Bild der Gefahr und diese Gefahr ist vielgestaltig.
Wenn ich zum Beispiel die Herde als das verstehe, was sie ja in erster Linie ist, nämlich ein Unternehmen, dann ist der Wolf gegebenenfalls die drohende Insolvenz und dann wundert es nicht, wenn der Angestellte das sinkende Schiff verlässt.
Aber es gibt noch viele andere Stellen, an denen uns der Wolf begegnet. Der Wolf ist das Sinnbild für die grundsätzliche Gefahr. Und es gibt viele Möglichkeiten, mit der Gefahr umzugehen. Entweder ich akzeptiere sie und leben irgendwie mit ihr, weil ich sie in mein Leben integrieren kann oder ich ignoriere sie, so nach dem Motto: „Wird schon nicht so schlimm werden und wer weiß, wenn ich mich still verhalte, frisst er vielleicht ein anderes Schaf.“ Oder aber ich packe die Gefahr bei ihren Hörnern – nebenbei gesagt, auch ein schönes Bild, wenn ich den Wolf als eine Metapher für den Wolf verstehe. Aber den Teufel bei den Hörnern packen, ist ja das aktive Angehen gegen die Gefahr.
Naja, aber die Gefahr kann auch unsere Seele auffressen. Und wenn die Gefahr oder das, wovor wir glauben Angst zu haben, beginnt die Seele aufzufressen, werde wir mit einem Male empfänglich für einfache Lösungen. Und dann geht es nichtmehr um den Wolf im Schafspelz, sondern um den Wolf im Hirtenmantel. Ja, auch das kann der Wolf sein. Der Verführer, der sich als Hirte ausgibt. Und dann kommt so einer, der uns blökenden Schafen, die sich über ihre Freiheit aufregen, weil sie diese als zu undefiniert empfinden, einem Wolf im Hirtengewand folgen, weil er ihnen Weiden verspricht, auf denen nur sie weiden dürfen und alle anderen Schafe draußen bleiben sollen, wo der Pfeffer wächst. Das ist der populistische Wolf. Das ist nicht der Wolf, der nachts eine Herde reißt. Das ist der Wolf, bei dem die Beute auch noch bereitwillig und freiwillig in den Fresskäfig hineinläuft, von wo es dann bei Bedarf zu eigenen Überraschung auf die Schlachtbank geht.
Ja, der Wolf kann vielerlei Gestalt einnehmen, um Beute zu machen und mögliche Gegner in die Flucht zu schlagen. Und das funktioniert heute noch genauso gut und auch nach den gleichen Mustern wie vor 86 Jahren hier in Deutschland oder auch vor zweitausend Jahren im alten Israel.
Jesus hat sein Leben für die Seinen gelassen. Erinnern wir uns nur mal kurz an den Einzug Jesu in Jerusalem, wie ihn die Menge bejubelt hat, ihn als neuen König Israels gefeiert hat. Wenige Tage später schrie diese Menge. „Kreuzige ihn!“ Vorbei war’s mit den Hosianna-Rufen, weil populistische Propaganda das Volk umgekehrt hat.
Man könnte jetzt sagen, um im Bild zu bleiben, dass sich hier der Wolf auf die Schafe gestürzt hat.
Die Schafe
Und damit komme ich bei den Schafen an, bei der Herde.
Hier möchte ich zuerst eines festhalten, dass wir, die wir zur Herde Jesu gehören dürfen – wohlgemerkt „dürfen“ – macht uns nicht wertvoller als andere Menschen.
So, und dann schaue ich mal wieder so in unsere Runde, liebe Schwestern und Brüder oder sollte ich vielleicht doch sagen: Liebe Schafe und Lämmer?
Empfindet Ihr Euch denn als Schafe? Fühlen wir uns als Schafe. Wollen wir überhaupt Teil einer blökenden Herde sein? Ich frage ja mal nur. Trifft das Bild denn heute überhaupt noch zu?
Wenn ich mir so unsere Gesellschaft, unsere Welt oder einfach mal nur so die Menschen anschaue: Wer will da noch Schaf sein? Man hat ja zuweilen das Gefühl, dass aus den Schafen Hirten geworden sind, weil jeder weiß, wo es langzugehen hat. Und dennoch – das ist die große Ironie – ziehen gerade diese als blökende Schafe hinter Hirten her, die den Namen nicht verdienen, weil sie – wie schon gesagt – eher Wölfe im Hirtengewand sind, Kümmerer, die nur ihre eigenen egoistischen Interessen im Blick haben – also, wie es bei Hesekiel heißt „sich selbst weiden“ – und dabei vergessen haben, was Jesus gesagt hat:
„Und ich habe noch andere Schafe,
die sind nicht aus diesem Stall,
auch die muss ich herführen,
und sie werden meine Stimme hören,
und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“
Johannes 10, 16
Hier lässt sich eine Ahnung auf den letzten Schöpfungstag ahnen: Es gibt einen Schöpfer, eine Schöpfung und diese Einheit wird in Jesus wiederhergestellt.
Und damit komme ich nun endlich zum Hirten.
Der gute Hirte
Wenn wir heute einen Hirten vor Augen haben, dann ist es so jemand mit Stecken und Stab. Und der Beruf des Hirten ist ja heute fast ausgestorben. Aber wenn wir mal in alttestamentliche Zeiten blicken, war der Hirte im Grunde genommen ein Unternehmer. Denken wir nur an Hiob. Der hatte 7000 Schafe, 3000 Kamele, 500 Joch Rinder – also 1000 Rindviecher. Um das im Griff zu behalten, braucht man natürlich Mietlinge oder – wie es in Hiobs Fall war – Kinder, unter denen die Verantwortung aufgeteilt wird. Also, ein echtes Familienunternehmen. Der Hirte ist damit zugleich Eigentümer. Das wird auch bei Johannes noch einmal deutlich, wenn Jesus sagt:
„Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.“
Johannes 10, 29f
Und genau das ist es: Jesus Christus ist der Hirte schlechthin. Und was macht ihn zu diesem besonderen Hirten, dem wahren, den guten Hirten?
Der gute Hirte lässt die Dinge nicht einfach laufen, sondern kümmert sich und bindet die wieder ein, die sich – aus welchen Gründen auch immer – verirrt haben.
Der gute Hirte ist nicht einer, der die Türen oder Gatter abschließt. Er ist kein Aufseher, sondern jemand, der Freiheit ermöglicht und auch ein Gefühl von Sicherheit gibt, das Wagemut und Entdeckerfreude auslöst.
Und ja, wenn sich dann mal ein Schaf im Gestrüpp des Lebens verheddert oder gar verirrt, dann steht er sofort da und hilft.
Mir gefällt dieses Bild, auch weil es mir gerade in Verbindung mit Psalm 23 das Sinnbild des Vertrauens ist. Ich kann Jesus blind vertrauen. Über welchen anderen Menschen kann ich das so deutlich sagen?
Mit Jesus als meinem Hirten kann ich mir auch Freiheiten erlauben, ohne Verlassen zu sein. Das bedeutet doch, dass die Weide groß ist, ja, nicht nur soweit reicht wie mein eigener Horizont, sondern sehr viel weiter. Das bedeutet doch, dass Gottes Schöpfung unsere Weide ist – oder?
Und Gottes Schöpfung kennt keine Weidegrenzen, weil sie eigentlich so geschaffen ist, dass es für alle reicht.
Und der gute Hirte bewahrt uns vor dem Wolf, denn er hat sein Leben für und gelassen, dass wir frei vom Wolf, von der Sünde sind.
„Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide,
und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.“
Hesekiel 34, 31
In diesem Sinne: Amen. So soll es sein.
Gottesdienst am Sonntag Misericordias Domini, 5. Mai 2019 in der Königin Luise-Gedächtnis-Kirche über Johannes 10,11–16(27–30)