Als ich in Basel studiert habe, hatte ich im Studentenwohnheim einen Zimmernachbarn, der sang immer in Abwandlung eines bekannten Werbeslogans für Gesichtspflegeprodukte: „Das Leben ist schön, schön mit Gnade!“
Und mein Vater sagte immer, wenn ich mal was ausgefressen hatte: „Na, da werde ich mal Gnade vor Recht ergehen lassen.“
Das war der Moment des Aufatmens, wo die ängstliche Spannung aus dem Körper wich und der Appetit wieder kam.
Gnade macht das Leben eben schöner. Doch wer gnädig ist, hat auch die Macht, gnädig oder ungnädig zu sein, den Daumen nach oben zu halten oder nach unten zu senken. Damit ist klar und deutlich formuliert, dass derjenige, der Gnade gewähren kann, sich immer in einer machtvollen Position befindet und ich, der ich auf seine Gnade angewiesen bin, in der schwächeren oder gar ohnmächtigen Situation bin. Also, so wie der Vater dem Sohn gegenüber oder der Chef seinem Mitarbeiter gegenüber oder eben Gott dem Menschen gegenüber.
Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! Denn auf dich traut meine Seele. Psalm 57,2
In Ungnade zu leben, ist eine zutiefst unangenehme Situation. Ich bin im Status der Strafe, bin nicht rehabilitiert, bin vieler Möglichkeiten beraubt. Es ist wie ein Gefängnis, nur dass die Gitterstäbe und hohen Mauern, gegen die ich laufe, unsichtbar sind.
Wer in einem Gefängnis leben muss, weil er eine Straftat begangen hat, kann wegen guter Führung vorzeitig entlassen werden oder Dank eines Gnadengesuchs vorzeitig wieder nach Hause gehen.
Ich weiß ja nicht, ob sie schon mal in einem Gefängnis gewesen sind, ob Sie dort jemanden besucht haben. Ich bin in meinem Leben schon des Öfteren in Haftanstalten gewesen, um dort Menschen zu besuchen, sie zu beraten. Die Beklemmung ist jedes Mal zu spüren. Zwei Menschen treffen aufeinander. Der eine hat die Freiheit zu gehen und der andere muss bleiben.
Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! Denn auf dich traut meine Seele. Psalm 57,2
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt der Gnade. Und den erleben wir im Psalm 57, aus dem die Tageslosung stammt. David war vor Saul in eine Höhle geflohen. Was war geschehen? David, der Saul mit einer Steinschleuder das Leben und den Thron gerettet hatte, wurde Opfer der Eifersucht Sauls, weil man David für den größeren Helden hielt. Also mobbte Saul David und führte ihn in gefährliche Situationen, die David stets durch seine Intelligenz auflösen könnte. Schließlich sollte er dem Saul 100 Vorhäute der Philister bringen und als Lohn Sauls Tochter zur Frau bekommen. Man stelle sich das mal vor: Von 100 Männern die Vorhäute abzuschneiden. Das war ein tödliches Unternehmen. David aber machte das, was viele gemobbte Menschen machen. Er ging in die Übererfüllung und lieferte 200 Vorhäute.
Und was tat Saul? Er trachtete ihm nach dem Leben und ließ ihn von dreitausend Soldaten jagen. David versteckte sich in einer Höhle und ausgerechnet in diese Höhle zog sich Saul zurück, um einem menschlichen allzu menschlichen Bedürfnis nachzugehen. Doch was tat David? Er schnitt heimlich ein Stück vom Saum des Königsmantels ab und präsentierte ihn Saul als Zeichen seiner Loyalität. Wir kennen die weitere Geschichte. David folgte Saul auf dem Thron.
Genau in dieser Höhle sprach David das Gebet, das heute Psalm 57 ist, und bat um Gottes Gnade. Und das hieß nichts anderes, als dass er um Gottes Hilfe bat, das Ganze zu überleben.
Für mich ist im Blick auf die zwei genannten Aspekte der göttlichen Gnade eines klar: Das Leben ist schön, schön mit Gnade.
Amen.
Morgenandacht im LAFIM über die Tageslosung am 5. Februar 2015