Pfr. Martin Dubberke

Alles hat seine Zeit

Mein Lieblingstext stammt aus einem der – wie ich finde – schönsten Bücher der Bibel. Es ist ein Buch der sogenannten alttestamentlichen Weisheit, eigentlich das Buch der Weisheit: Qohelet, auch bekannt unter dem Namen „Der Prediger Salomo“, entwirft nicht nur eine Lehre vom Kosmos, sondern auch eine Lehre vom Menschen, in der er sich unter anderem angesichts der Vergänglichkeit des Menschen nach dem Sinn fragt.

Die alttestamentliche Weisheit zog mich, als ich ihr zum ersten Mal in meinem Studium in Gestalt von Hiob begegnete unmittelbar in ihren Bann. Irgendwie fühlte ich mich dort sofort zu Hause. Die alttestamentliche Weisheit, wie wir sie auch im Buch der Sprüche oder dem Hohen Lied finden, ist geprägt von dem Gedanken des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, der Konfrontation des Menschen mit den möglichen Folgen seines gegenwärtigen oder zukünftigen Handelns. Also, der Vorstellung, dass Gott mir Gutes zuteilwerden lässt, wenn ich gut handle, und mich straft, wenn ich Schlechtes tue.

Nun werden Sie vielleicht sagen, dass das bei Hiob ja nicht so ganz geklappt hat. Der war ja ein frommer und gottesfürchtiger Mann, der durch und durch gut war und durch die Hölle gehen musste, weil er zum Objekt einer Wette zwischen Gott und Satan geworden war.

Hiob konnte es nicht verstehen, warum er so von Gott gepeinigt wurde, weil er keine Ursache dafür erkennen konnte. Deshalb spricht man hier auch von der Krise der Weisheit. Der Automatismus von gut handeln und gut ergehen war durchbrochen. Und genau diese Bruchstelle sollte meinen Glauben, meine Spiritualität und mein Leben mehr prägen als alles andere, was ich in meinem Studium erfuhr. Und es prägt und leitet mich bis heute.

Ganz und gar nach dem Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zu leben, bewahrt mich nicht davor, auf die Nase zu fallen oder eines auf die Nase zu bekommen. Die Krise der alttestamentlichen Weisheit hat mich hier gelehrt,

  • dass nichts selbstverständlich ist,
  • dass alles in Gottes Hand liegt und
  • somit hinter allem ein planvolles Handeln liegen muss, das sich mir nicht immer und vor allem nicht sofort erschließt.

Und deshalb habe ich nicht nur eine Lieblingsbibelstelle, sondern auch ein Lieblingslied:

„Wer nur den lieben Gott lässt walten

und hoffet auf ihn allezeit,

den wird er wunderbar erhalten

in aller Not und Traurigkeit.

Wer Gott, dem Allerhöchsten traut,

der hat auf keinen Sand gebaut.“

Um seinen Plan mit mir zu erkennen, bedarf es Gottvertrauen. Dieses Vertrauen bringt mich im Falle eines Falles nicht gegen Gott auf, sondern führt mich zu der Frage: Was hast Du mit mir vor?

Und wer glaubt, dass Gott mir dann im vertrauten Gespräch – sprich Gebet – seine ganze für mich vorgesehene Karriereplanung oder Persönlichkeitsplanung offenbart, hat sich getäuscht. Gott gibt mir immer ein Stück nach dem anderen preis, damit ich wachsen kann und nicht übermütig werde oder gegebenenfalls Angst vor dem bekomme, was er für mich vorgesehen hat.

Mein Leben besteht damit aus Abschnitten, aus Zeiträumen und Zeitspannen, in denen Gott mir mal mehr oder weniger zumutet und er mit Zeit gibt, daran zu wachsen.

Und so vorbereitet komme ich nun endlich zu meiner Lieblingsstelle: Qohelet 3, 1-12

Alles hat seine Zeit

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:  

geboren werden hat seine Zeit,

sterben hat seine Zeit;

pflanzen hat seine Zeit,

ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;  

töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;  

weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;  

Steine wegwerfen hat seine Zeit,

Steine sammeln hat seine Zeit;

herzen hat seine Zeit,

aufhören zu herzen hat seine Zeit;  

suchen hat seine Zeit,

verlieren hat seine Zeit;

behalten hat seine Zeit,

wegwerfen hat seine Zeit;  

zerreißen hat seine Zeit,

zunähen hat seine Zeit;

schweigen hat seine Zeit,

reden hat seine Zeit;  

lieben hat seine Zeit,

hassen hat seine Zeit;

Streit hat seine Zeit,

Friede hat seine Zeit. 

Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.  

Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.  

Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.

Zwei Aspekte: Alles im Leben hat einen Anfang und ein Ende. Und die Spanne, die zwischen Anfang und Ende liegt, ist die Zeit, die etwas dauert und, die uns auszuhalten zuweilen sehr schwer fällt.

Und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Sprich: Mein Zeitplan muss nicht Gottes Zeitplan sein.

Es geht darum zu erkennen, wann sich ein Zeitabschnitt auf das Ende zubewegt, wann eine Sache reif genug ist, dass sie uns gewissermaßen nur noch in die Hand fällt, wenn wir sie zum rechten Zeitpunkt darunter halten.

Wir Menschen sind in der Regel aber ungeduldig. Es geht uns meistens nicht schnell genug. Dann wird etwas als reif verkauft, was in Wirklichkeit nicht reif ist.

Das ist dann so wie bei den Tomaten, die noch grün geerntet werden und nachreifen. Doch jeder, der in seinem Garten oder auf seinem Balkon jemals erfolgreich Tomaten angebaut hat, weiß, wie der Unterschied zwischen einer reifen und einer wirklich reifen Tomate schmeckt, die bis zum Schluss die Kraft der Sonne in sich aufgenommen hat und bis zum Schluss mit Nährstoffen aus dem Boden versorgt worden ist.  Sie schmeckt großartig und löst auch ohne Balsamico größte Gaumenfreude aus.

Um dieses Geschmackserlebnis zu haben, muss ich aber ein Gespür und ein Wissen entwickeln, mit dem ich erkennen kann, dass der rechte Zeitpunkt gekommen ist, die Hand unter die Frucht zu halten, auf dass sie in meine Hand fallen möge.

Das ist wie bei einem Konflikt, den man nicht übers Knie brechend beenden kann. Er muss ausgehalten werden, weil es Verletzungen gibt, die heilen müssen, weil der andere Zeit braucht, um zur Versöhnung oder Vergebung bereit zu sein. Nur dann kann dann auch das Neue beginnen.

Es braucht alles seine Zeit. Manchmal versuchen wir ja Menschen davon zu überzeugen, sich aus einem Verhältnis zu lösen oder dieses oder jenes zu tun. Doch sie tun es nicht, weil in ihnen die Entscheidung noch nicht gereift ist. Sie tun es dann nicht, weil sie es nicht wollen, sondern noch nicht können.

Auch das können wir – nebenbei gesagt – von Hiob lernen, dessen Frau zu ihm gesagt hat: „Fluche Gott und stirb!“ Oder seine Freunde, die immer versucht haben, ihm einzureden, dass er sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Hiob blieb die ganze Zeit absolut klar: Er wollte von Gott eine Antwort. Er wollte mit Gott direkt die Auseinandersetzung, weil er wusste, dass sonst etwas offenbliebe. Doch noch war es nicht soweit. Und nur, weil er das durchgehalten hat, ist er am Ende alt und lebenssatt gestorben.

Glauben ist nicht immer fröhlich und heiter wie ein Kirchentag, sondern fordert mich auch an Stellen, Orten und Situationen heraus, an denen ich ohne den Glauben, ohne mein Christsein nicht gefordert wäre.

So erging es mir, als vor vielen Jahren die Kirche sich dazu entschloss, mich nicht zu ordinieren. Das war ein tiefer Schmerz und eine große Enttäuschung. Die Trauer über meine unerfüllte Lebensplanung hatte ihre Zeit. Diese Zeit ging zu Ende, als ich erkannte, dass Gott allem Anschein einen anderen Plan mit mir hatte, einen anderen Weg für mich im Sinn hatte, als ich es geplant hatte, er mich an einer anderen Stelle brauchte, als ich es geahnt hätte.

Und kaum hatte ich das erkannt, begann für mich eine neue Zeit bei einem paradiesischen Radiosender.

Und hätte Gott mich damals meinen von mir geplanten Weg gehen lassen, hätte ich nicht diese wunderbare Frau kennen- und lieben gelernt, mit der ich heute verheiratet bin. Dann hätte ich nicht die beiden Jungs, die neben ihr sitzen.

Aus diesen Erfahrungen habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass eine klassische Lebens- und Karriereplanung nicht zielführend ist. Schließlich schreibt Qohelet:

Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.  

Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit…

Und so begann ich, darauf zu vertrauen, dass Gott einen Plan mit mir hat und mir schon ein Zeichen geben würde, wenn wieder eine Zeit zu Ende gehen würde und etwas Neues in der Luft läge.

Manchmal musste er mir sehr deutliche Zeichen geben und manchmal sah ich es scheinbar von selbst und manchmal spürte ich, dass ein Zeitraum zu Ende ging und etwas Neues beginnen würde. Und genau das sind dann immer die Momente,  da ich – wie Qohelet schreibt –  merkte, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.

Und natürlich kann ich mir nie sicher sein, ob ich seinen Plan mit mir richtig deute, denn der Mensch kann nicht ergründen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.   

Martin Reuer aber, der Pfarrer, der in mir den Wunsch geweckt hat, Theologie zu studieren, hat mir einen Vers mit auf meinen Lebensweg gegeben, der die Gewissheit zum Ausdruck bringt, in der wir als Christinnen und Christen in jeder Zeit, während jedes Zeitraums und in jeder Lebenssituation von Anfang bis Ende leben dürfen: In der Geborgenheit von Gott.

Martin Reuer selbst hat diese Zeilen von Dietrich Bonhoeffer immer am Ende des Abendmahls gesprochen, so wie ich es von ihm übernommen habe und seit mehr als zwanzig Jahren selbst jedes Mal tue und auch heute wieder tun werde.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen

Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Amen.

Gehalten am 21. Juni 2015 in der Königin-Luise-Gedächtnis-Kirche im Rahmen der Predigtreihe „Meine liebste Bibelstelle“.