Pfr. Martin Dubberke

Was uns blind und was uns sehend macht

Manchmal sieht man der Wald vor lauter Bäumen nicht.  Ist man da blind?

Es gibt die alte Redewendung: Er lief blindlings in sein Unglück? Ist man da blind?

Und dann ist da noch zuweilen die Rede von blinden Flecken. Ist man da blind?

Was ist eigentlich blind? Im Allgemeinen denken wir hier an einen Menschen, der nicht sehen kann. An einen Menschen, der mit den Fingern liest, einen Blindenstock und einen Blindenhund hat, einen Menschen, der die gelbe Binde mit den drei schwarzen Punkten trägt.

Gleichzeitig weisen aber die Redewendungen auch darauf hin, dass man auch sehen Auges blind sein kann, denn man  sieht nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Verstand und dem Herzen.

Da sagt der eine: „Mein Chef ist blind für meine Leistungen!“ Die Ehefrau sagt über ihren Mann, dass er blind für ihre Gefühle sei. Ein anderer wieder meint, dass die Politik blind für die Belange des Volkes sei. Wieder über einen anderen heißt es, er sei auf dem rechten Auge blind.

Und wenn wir mal ehrlich sind, dann sind wir doch überall von Blinden umgeben. Und wenn wir selbst ganz ehrlich sind, dann müssen auch wir über uns selbst sagen, dass wir an vielen Stellen blind sind. Doch was macht uns blind?

Aber vielleicht sollte ich an dieser Stelle erst einmal den Predigttext aus Johannes 9, 1-7 vorlesen:

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. 7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Interessant an der Frage der Jünger ist ja, dass sie davon ausgehen, dass die Blindheit die Folge einer Sünde ist. Das ist so. Davon ging man früher aus, dass das Gebrechen eines Menschen für sein sündhaftes Handeln steht.  Da steckt der alttestamentliche Gedanke des Tun-Ergehen-Zusammenhangs dahinter. Es wird dir so ergehen, wie du  handelst, wie die lebst. Jesus räumt damit auf. Weder der Blinde noch seine Eltern haben gesündigt. Und dann kommt der alles entscheidende Satz: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann . Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“

Jesus ist das Licht der Welt. Wo er ist, gibt es keine Blindheit. Dann spuckt er auf die Erde, macht einen Brei daraus, schmiert den Brei auf die Augen des Blinden und sagt zu ihm, dass er zum Teich Siloah gehen solle und sich waschen solle. Das ist ganz großes Theater. Jesus verschmiert dem Blinden mit dem Brei die Augen, so dass  sie vollkommen verklebt und verkrustet sind. Selbst wenn man vorher noch etwas gesehen haben sollte. Jetzt sieht man nichts mehr.

Die Kruste steht für die Dunkelheit. Das Verkrustete, das veraltete Denken. Wir haben es ja gerade gehört. Auch die Jünger , obwohl sie Tag und Nacht mit Jesus zusammen waren, hingen noch im Alten Denken, das wie eine Kruste über allem lag und von Jesus aufgebrochen wurde.

Das Leben zur Zeit Jesu war – wie wir es immer wieder in der Bibel nachlesen können – zu einer Traditionskruste geworden. Das Leben orientierte sich an starren Regeln, die sich weit von der Freiheit, die Gott gegeben hatte,  entfernt hatten. Ich erinnere nur an die Geschichte mit dem Ährenraufen am Sabbat und dem wunderbaren Satz Jesu, dass der Sabbat nicht um Gottes, sondern um des Menschen Willen sei.

Jesus hat Licht in das Dunkel gebracht. Und was ist man in der Dunkelheit? Wie blind.

Jesus hat die Augen der anderen geöffnet.  Jesus hat unsere Augen für unsere Blindheiten geöffnet. Und damit komme ich wieder zum Anfang: Was macht uns blind?

Unser Egoismus? Denken wir manchmal zu sehr an uns selbst, an unsere eigenen Interessen? Wie ist das mit unseren Ellenbogen? Wie ist das mit der Karriere? Wie ist das mit unserer Bequemlichkeit? Wie ist das mit Entscheidungen, die der Gemeinschaft nutzen, für uns selbst aber im ersten Moment einen Nachteil bedeuten? Ganze Wahlkämpfe fußen auf dieser Grundlage. Propaganda fußt auf dieser Grundlage. Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus fußen auf dieser Grundlage.

In allen Fällen wird vergessen, wer hier wen geschaffen hat und was man selbst ist: Ein Geschöpf Gottes unter Gottes Geschöpfen, den anderen gleich, nicht mehr und nicht weniger.

Neid macht uns blind für das, was wir haben, können und vermögen. Und damit werden wir blind für die eigenen Potentiale, die eigenen Möglichkeiten.

Was Jesus im Falle des Blinden mit dem Brei gemacht hat, hat er bei uns mit einem kleinen Gebot gemacht: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“

Jesu Wort öffnet unsere Augen und lässt uns unsere Alltagsblindheit unsere Ichbezogenheit überwinden. Wir sind nur dann Sehende, wenn wir auch den anderen Sehen und vor allem, wenn wir ihn lieben, wie uns selbst. Wenn uns das gelingt, sind wir nicht mehr blind, dann sehen wir alles in seinem Licht.

Amen.