Pfr. Martin Dubberke
Die Krippe im Kirchenfenster der Johanneskirche in Partenkirchen | Bild: Martin Dubberke

Zur Verantwortung befreit

Weihnachten ist eine Herausforderung und in diesem Jahr ganz besonders. Die ganze Weihnachtsgeschichte ist eine einzige Herausforderung. Zum einen ist es für Josef und die hochschwangere Maria eine Herausforderung, sich unter den damaligen Verhältnissen auf die Reise zu machen. Man konnte sich ja schließlich nicht einfach in einen ICE mit reservierten Plätzen setzen und vorher via Internet noch ein schnuckliges Hotel buchen. Nee, es ging mit einem Esel und zu Fuß Richtung Bethlehem und es gab auch keine Hotel-Reservierung. Gleichzeitig war das ganze Land auf Achse, weil sich alle wegen so einer Volkzählung an den Ort begeben sollten, woher sie stammten, damit man sich zählen lassen konnte. Tja, wenn es damals schon AIRBnB-Wohnungstausch gegeben hätte, wäre Jesus sicherlich nicht in einem Stall geboren worden, sondern in einem schicken Bethlehemer Appartement.

Unabhängig davon ist aber auch die Geburt für Maria eine Herausforderung gewesen. Ich glaube nicht, dass die Geburt des Sohnes Gottes einfacher gewesen ist als andere Geburten. Und gleichzeitig ist aber auch die Geburt Jesu eine Herausforderung an die Gesellschaft, weil sie das geltende Gesellschaftsprotokoll vollkommen umgekehrt hat und die Hirten auf dem Felde, also die randständigsten Menschen jener Zeit, diejenigen waren, zu denen der Engel des Herrn kam, um sie zur Krippe einzuladen.

Tja, das hat sich bis heute nicht geändert. Als Christenmensch ist man sein ganzes Leben herausgefordert und in diesem Jahr ganz besonders. Corona hat dem Leben nach Plan einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht.

Wir feiern in diesem Jahr ganz anders als sonst Weihnachten. Zum ersten Mal müssen wir uns keine Sorgen machen, in der Kirche einen Platz zu finden, weil er vorher reserviert werden musste. Wir konnten also ganz entspannt und ohne Zeitdruck zur Kirche kommen.

Es gibt kein Krippenspiel, weil wir wegen der vielen Corona-Regeln nicht proben durften. Wer im vergangenen Jahr bei mir im Familiengottesdienst war, wird sich vielleicht erinnern, unter welcher Überschrift das Krippenspiel damals gestanden hat: „Krippenspiel fällt heute aus“ – Wie weitsichtig scheine ich doch vor einem Jahr gewesen zu sein, als ich das Krippenspiel geschrieben habe 😉 Heuer fällt es wirklich aus.

Dieses Weihnachten ist anders. Das große Familienfest, die große Geburtstagsfeier zum 2020. Geburtstag von Jesus fällt so bescheiden aus, wie seine Geburt im Stall zu Bethlehem war.

Ich überlege gerade, wie in diesem Jahr ein Krippenspiel ausgesehen hätte oder aussehen würde.

Josef und Maria hätten gar nicht nach Bethlehem kommen können, weil es ein Beherbergungsverbot gegeben hätte. Josef und Maria hätten jetzt nur mit einem Campingbus nach Bethlehem kommen können.

Die Hirten hätte heuer gar nicht zu Jesus wohl zur halben Nacht gehen können, weil sie aufgrund der Ausgangssperre gar nicht auf dem Felde hätten sein dürfen. Wer hätte also von der Geburt Jesus Christi erzählt?

Und die drei Heiligen Könige? Na, die hätten jetzt gar nicht nach Bethlehem kommen können, ohne vorher in Quarantäne zu gehen, wenn man sie überhaupt in Israel hätte einreisen lassen. Und wo hätten sie Rast gemacht?

Unsere Zeit nötigt uns etwas auf, was uns auf den ersten Blick nicht gefallen mag, aber doch zugleich durch den Verlust des Gewohnten, den wir gerade erleiden oder erfahren, deutlich macht, was wir vermissen und welchen Wert es für uns hat, zusammen mit Oma und Opa oder den Eltern, der ganzen Familie, die nicht immer an einem Ort wohnt, Weihnachten zu feiern.

Wir können in dieser Zeit auch Dankbarkeit neu entdecken. Die Dankbarkeit, einander zu haben, – auch in der Ferne.

Dieses Weihnachten fordert uns heraus, organisatorisch und vor allem seelisch. Wie wollen wir die weihnachtliche Freude in diesem Jahr feiern und hören lassen, wenn wir nicht aus voller Kehle „O du fröhliche“ im Gottesdienst singen dürfen?

Wir dürfen es aber zu Hause. Und stellen wir uns einmal vor, jeder von uns würde sich um 22:00 Uhr, wenn überall bei uns im Ort die Glocken läuten werden, an sein geöffnetes Fenster oder auf seinen Balkon mit einer Kerze stellen und aus voller Kehle „O Du fröhliche“ singen? Stellen wir uns doch einfach nur mal vor, dass das alle 27.000 Einwohnerinnen und Einwohner von Garmisch-Partenkirchen um 22:00 Uhr tun würden. Keiner geht auf die Straße, aber alle singen vor Freude über die Geburt Jesu aus voller Kehle. Stellen wir uns das doch nur einmal für einen Moment vor… Mir gefällt dieses Bild.

Und nun stellt Euch einfach mal vor, weil nämlich in unserem ganzen schönen Bayern um 22:00 Uhr die Glocken aller Kirchen – egal ob katholisch oder evangelisch – läuten werden, wenn alle Menschen in Bayern – also mehr als 13 Millionen – „O du Fröhliche“ singen würden. Das würde man wohl bis nach Hamburg hören. Das wäre ein Zeichen der Hoffnung, die mit der Geburt Jesu verbunden ist. Im Mittelpunkt von Weihnachten steht nämlich nicht in erster Linie, das große Familienfest, sondern die Botschaft der Heiligen Nacht:

Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Lukas 2, 10-11

„Fürchtet euch nicht!“ Was bedeutet für uns, heute dieser Ruf des Engels an die Hirten? Dieser Ruf gilt ja auch uns. „Fürchtet euch nicht!“

Das ist nicht der Aufruf zum Leichtsinn! Sondern, das ist der Ruf, dass es jemanden gibt, der uns schützt und uns bewahren kann. Das ist aber auch der Ruf zur Umkehr: „Fürchtet euch nicht, vor dem neuen Weg, den dieser Jesus mit euch gehen wird.“

Die Geburt Jesu markiert in dieser Welt eine Zeitenwende. Nicht umsonst rechnen wir unsere Jahre „nach Christi Geburt“. Mit dieser Jahreszählung ist etwas Neues und Revolutionäres verbunden. Mit Jesus wird die Verantwortung jedes einzelnen Menschen für das große Ganze deutlich. Jesus hat uns zur Verantwortung befreit.

Die Freiheit liegt in unseren Händen, in unserem Verhalten, in unserer Verantwortung füreinander. Was das bedeutet, haben wir in diesem Jahr nun wirklich am eigenen Leibe erfahren dürfen. Und wir haben auch lernen können, wie schwierig es ist, füreinander Verantwortung zu übernehmen, auch sie einzufordern und das auch noch weltweit. Niemand wurde von dieser Erfahrung ausgelassen.

Dass die Veränderung der Welt zum Guten, nicht von den Mächtigen abhängt, sondern von uns selbst, auch das ist eine Botschaft der Heiligen Nacht. Der Engel erschien nicht dem König, sondern den Ärmsten der Ärmsten, den Randständigsten der Randständigen, den Underdogs schlechthin, den Hirten.

Fürchtet Euch nicht, den Weg gemeinsam mit Jesus zu gehen, von dem wir lernen können, was „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ wirklich bedeutet. Die Regierenden, die Mächtigen sind nur ein Spiegel unserer Selbst, von denen wir verlangen, dass sie uns die Verantwortung abnehmen, der wir uns nicht stellen wollen.

Die Geburt Jesu Christi und das Leben Jesu Christi machen deutlich, wie sehr uns Gott in die Verantwortung genommen hat. Und somit haben wir die Chance, in diesem Jahr wirklich den Kern der Weihnachtsbotschaft zu erfassen, egal wie nahe oder fern wir der Kirche oder dem Glauben stehen.

Das wohl schönste Weihnachtslied weist uns hier auf eine wichtige Spur:

Es ist ein Ros entsprungen /
auß einer wurtzel zart /
Als vns die alten sungen /
auß Jesse kam die art /
vnnd hat ein blümlein / bracht /
mitten in kaltem winter
wol zu der halben nacht.

„Aus Jesse kam die Art“ – Damit ist der Prophet Jesaja gemeint. Wir glauben ja, dass der Prophet Jesaja im Elften Kapitel des Jesaja-Buches das Kommen Jesu vorausgesagt hat.  Dort gibt es einen Vers, der insbesondere in unserer Zeit aufhorchen lässt:

Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.
Jesaja 11, 9

Was für ein wunderbares Bild „denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt“. In der Heiligen Nacht, geht es genau um diese Erkenntnis: Wir können erkennen, dass Jesus der Weg ist. Und Jesus ist unterwegs gewesen, um die Menschen genau diese Erkenntnis zu lehren. So sind es auch seine Jünger und deren Jünger gewesen und so bin auch ich selbst es heute in dieser Folge und jede und jeder von Euch, der von den Engeln der Heiligen Nacht den Ruf hört: „Fürchtet Euch nicht!“ Der Ruf gilt uns Erwachsenen und auch den Kindern, die fasziniert vor der Krippe stehen.

Wir sind noch nicht am Ziel. Wir sind noch immer auf dem Weg.

Die dritte Strophe des Liedes „Es ist ein Ros entsprungen“ tröstet uns, macht uns Mut und sagt uns, wer uns dabei hilft, aus dem Leiden der Welt eine Freude an und in der Welt zu machen.

Das Röselein so kleine,
das duftet uns so süß,
Mit seinem hellen Scheine
vertreibts die Finsterniss.
Wahr Mensch und wahrer Gott;
hilft uns aus allem Leide,
rettet von Sünd und Tod.

Und der Trick an der ganzen Sache ist: Jesus hilft uns, indem er sagt, wie wir leben könnten: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am Heiligen Abend 2020 über Lukas 2, 1-20 und Jesaja 11, 1-10 (Perikopenreihe III) in und vor der Johanneskirche in Partenkirchen