Pfr. Martin Dubberke
Johanneskirche Partenkirchen | Bild: Pfarrer Martin Dubberke

Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?

Liebe Geschwister, mit dem heutigen Sonntag fängt die lange, lange Trinitatiszeit an. Heute trage ich noch einmal die weiße Stola, also die Christusfarbe des Lichtes und der Auferstehung, wie sie allen Christusfesten zugeordnet ist. Vom kommenden Sonntag an, werde ich die Farbe Grün tragen, die Farbe der Hoffnung und des Wachsens. Nachdem wir nun gewissermaßen ein Fest nach dem anderen hatten, muss all das, was wir gefeiert haben in uns sacken und dann wachsen. In diesem Jahr sind es insgesamt 22 Sonntage nach Trinitatis. Eine sehr lange Zeit.

Vielen gefällt diese sogenannte „festlose“ Jahreszeit so gar nicht. Aber aus meiner Sicht, ist diese Zeit die wichtigste Zeit im ganzen Kirchenjahr.

Warum? Weil es eine Zeit der Entwicklung und Veränderung ist. Diese Zeit ist das Symbol dafür, dass in uns der Glauben wachsen und Früchte tragen wird.

Und damit bin ich auch schon mittendrin im Thema, nämlich der Geschichte von Nikodemus, der Jesus im Schutz der Nacht aufgesucht hat. Für Nikodemus war dieser nächtliche Besuch eine ziemlich riskante Angelegenheit. Schließlich war er ein Oberster der Juden. Dieser Besuch hätte ihn alle Ämter, seine Karriere, seinen gesellschaftlichen Status kosten können. Er ging also schon ein ziemliches Risiko mit diesem Besuch ein.

Nikodemus war ein Mann, der etwas erkannt hatte, das er nicht wagte, in aller Öffentlichkeit auszusprechen:

„Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.“

Das war Sprengstoff. Für ein solches Bekenntnis hätte Nikodemus wahrscheinlich sogar verhaftet werden können, weil er damit der staatstragenden Weltanschauung der Pharisäer widersprach. Auch heute kann es für Menschen, die sich nicht der staatstragenden Ideologie unterstellen, sondern das aussprechen, was sie glauben, gefährlich werden. Manche Menschen, die das tun, werden sogar aus dem scheinbar sicheren Luftraum auf den Boden des Rechtsbruchs, der Unterdrückung und Freiheitsverachtung runtergeholt, als offene Demonstration, dass einem Mann, einem Regime, die Werte der westlichen Freiheit, die ihren Ursprung in unserem Glauben haben, an seinen fünf Buchstaben vorbeigehen. Das ist Verachtung auf höchstem Niveau.

Nikodemus war so mutig, zu Jesus zu gehen, denn es trieb ihn eine Frage von existentieller Bedeutung, von der für ihn alles andere in seinem Leben abhing. Nikodemus wusste von den Zeichen und Wundern, die Jesus getan hatte. Er wusste, was Jesus den Menschen predigte und wie er damit die Menschen in Bewegung setzte, so wie eine Welle, die immer größer wird und immer mehr Kraft in sich sammelt und Überkommenes reinigend fortspült. Nikodemus war im innersten Kern seiner Existenz davon überzeugt, dass Jesus nicht irgendein rhetorisch raffinierter Prediger war, sondern in der Tat Gott hinter diesem Jesus stand. Doch was bedeutete das für sein Leben? Welche Konsequenzen hat das für das eigene Leben und das System, die Gesellschaft, in der ich lebe, mit all ihren Zwängen? Was passiert, wenn ich diesem Jesus folge? Finde ich dann all das, was er gesagt hat, lediglich spannend, logisch, einleuchtend oder setzt mich auch selbst in Bewegung? Verändert das, was dieser Lehrer Jesus sagt, auch mein eigenes Leben und Handeln? Stellt es mein bisheriges Leben in Frage? Nikodemus wollte wissen, was es bedeutet, wenn hinter Jesus Gott steht. Welche Botschaft ist damit verbunden?

Und noch bevor Nikodemus überhaupt die Chance hat, eine Frage zu stellen, wirft ihm Jesus in seiner unnachahmlich offenen und entwaffnenden Art und Weise ein Statement an den Kopf, das ihn vollkommen irritiert und wohl auch aus jedem Konzept bringt:

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.

Versuchen wir uns doch mal in die Situation des Nikodemus zu versetzen. Er war kein junger Mann mehr, sondern hatte schon eine Menge Leben und Erfahrung hinter sich. Schließlich war er Politiker, trug gesellschaftliche Verantwortung, musste jeden Tag Entscheidungen treffen, die für das Gemeinwohl Auswirkungen hatte. Er war also auch ein Mann von Bildung. Also, stellen wir uns vor, dass unsereins dort gestanden hat, jemand, der sein ganzes Leben lang vielleicht selbst Lehrer gewesen ist oder in der Verwaltung, im Hotel oder in der Pflege oder wo auch immer arbeitet oder gearbeitet hat. Wir alle haben unser Leben gelebt und leben es. Und dann wir einem so ein Satz um die gehauen: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird…

Bin ich da mit meinem gelebten Leben nicht gleich raus? Ist also diese ganze Sache mit Jesus schon an diesem Punkt gelaufen? Keine Chance wirklich dabei sein zu können, dazuzugehören? Und genau diese Frage stellt nun Nikodemus dem guten Jesus:

„Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?“

Schließlich kann ein Mensch ja in der Tat nicht in den Mutterleib zurückgehen, um von Neuem geboren zu werden. Ist das alles noch logisch? Kann das überhaupt jemand verstehen? Das übersteigt doch im Grunde genommen alle Vernunft. Ist das dann am Ende nicht eher etwas, das mehr den Verstand als das eigene Leben in Frage stellt?

Und was antwortet Jesus?

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.

Ok, das klingt schon ein wenig anders. Das ist noch einmal eine ganz andere Geburt. Jesus spielt auf die Taufe mit Wasser an, in der der alte Mensch sinnbildlich stirbt und ein neu geborener Mensch aus dem Wasser aufsteigt, frei von dem alten Leben, das er zuvor geführt hat. Frei von allem, was ihn gebunden hat. Frei von allem, was ihn beschränkt hat. Frei zu einem befreiten Miteinander. Und erfüllt von einem neuen Geist, der mich zu einem neugeborenen Menschen macht.

Jesus stellt zwei Geburten nebeneinander, wenn er sagt: „Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.“

Diese beiden Geburten stehen für zwei unterschiedliche Seinsweisen. Die Geburt aus dem Fleisch ist stets dem Fleisch verpflichtet, dem Fleisch verbunden. Jeder von uns hat eine intensive Beziehung zu dem Menschen, der uns geboren hat: Unsere Mutter. Wir lieben sie. Wir beten sie an. Naja, und wir regen uns über sie auf, reiben uns an ihr. Und egal, ob wir sie lieben oder hassen. Die beiden Extreme bilden die ganze Bandbreite von Intensität ab.

Wenn ich aber aus dem Geist geboren bin, dann bin ich dem Geist verpflichtet. Und das ist die spirituelle Dimension unserer Existenz. Wer aus dem Geist geboren ist, der hat eine Beziehung zum Vater, zum Sohn und nicht zuletzt dem Heiligen Geist. Er hat sie zu allen Dreien gleichermaßen. Und genau diese spirituelle Dimension und Bindung, die verändert unser Leben – und zwar grundlegend.

So, und dann legt Jesus noch einen oben drauf, wenn er sagt:

Der Wind bläst, wo er will,
und du hörst sein Sausen wohl;
aber du weißt nicht,
woher er kommt und wohin er fährt.
So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.

Sprich, der Geist ist nicht zu fassen, nicht einzufangen oder einzusperren. Der Geist kann nicht unterdrückt werden, denn er weht, wo er will, ob es mir passt oder nicht und, ob es manchem Mächtigen passt oder nicht. Der Geist lässt sich nicht vereinnahmen. Und dennoch höre ich sein Sausen, auch wenn ich nicht weiß, woher er kommt und wohin er fährt, weil das nicht interessant ist, sondern einzig und allein, dass er bläst.

Und jetzt kommt der eigentliche Clou an der Sache: „So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.“

Wer aus dem Geist geboren ist, kann nicht unterdrückt werden, weil der Geist nicht unterdrückt werden kann. Er kann gefangen genommen werden. Er kann eingesperrt werden, und bleibt dennoch frei, weil der Geist nicht eingesperrt werden kann. Er kann lächerlich gemacht werden. Er kann ermordet werden, aber er bleibt am Leben, weil der Geist nicht ermordet werden kann.

Dietrich Bonhoeffer hat 1944 in seiner Haft ein sehr bewegendes und auch bedrückendes Gedicht geschrieben, in dem dieser Geist zu spüren ist:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Bonhoeffer macht sehr deutlich, was diese beiden Seinsweisen aus dem Fleisch geboren und aus dem Geist geboren bedeuten. Beide lassen einen nicht wirklich los. Es ist oft ein Ringen zwischen den Beiden, dem gebunden sein im Fleisch und dem Befreit sein im Geist. Der Geist lebt und weht, wo er will. Und das heißt auch für mein eigenes Leben, dass ich nicht alles durchplanen kann. Wenn ich aus dem Geist geboren bin, dann bestimmt auch der Geist mein Leben. Dann führt mich dieser Geist und ich darf lernen, mich darauf einzulassen, sein Sausen zu hören. Aber manchmal bin ich auch nicht aufmerksam genug für den Geist. Dann schweife ich ab und bin mit einem Male vom Fleisch bestimmt. Und dann macht man Fehler – auch und besonders zwischenmenschlich. Das ist mir gerade in dieser Woche passiert und das werde ich morgen in einem Gespräch klären. Und dann hoffe ich, dass es mir durchgehend gelingen wird, das Sausen des Geistes zu hören.

Und damit komme ich noch einmal auf die lange Trinitatiszeit zurück, die grüne Zeit, die Zeit des Hoffens und Wachsens. Was soll denn in dieser Zeit wachsen?

Gerade vor einer Woche haben wir Pfingsten gefeiert. Die Ausschüttung des Heiligen Geistes. Des Geistes, der unser Leben bewegt, befügelt, der uns mit anderen Menschen verbindet, der unser Leben verändert.

Aber verändert sich ein Leben auf Knopfdruck? Nein! Wenn ich gewissermaßen wie neugeboren bin, muss ich wachsen, lernen, üben. Ich muss das neue Leben üben. Ich muss es üben und lernen, das Sausen des Geistes zu hören, darauf zu achten. Ich darf in meinem Glauben wachsen, aus meinen Fehlern lernen. Der Geist macht mich sensibler, offener für andere Menschen. Ich darf in der Hoffnung wachsen und ich darf darin wachsen, mutig vom Geist erfasst zu leben. Und genau das wird dann nicht nur mein Leben verändern, sondern auch das anderer.

Niemand kann den Geist fassen, aber jeder kann von ihm erfasst werden und dann verändert sich alles.

Und so wünsche ich uns allen eine gesegnete und mutige Zeit des Wachsens.

Amen!

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am Sonntag Trinitatis am 30. Mai 2021 über Johannes 3, 1-8 Perikopenreihe III, in der Johanneskirche Partenkirchen